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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Anatole France

erwachter Streitlust bemächtigt. Vergleiche mit dem zweiten Teil des "Faust"
oder mit "Zarathustra" wollen wir nicht anstellen: es handelt sich nicht um
Welt- und Menschengeschichte, sondern nur um Gallien, den Krummstab und
die phrygische Mütze. Die Persiflage der Geschichte Frankreichs hat natürlich
ihr Interesse, und je gebildeter ein Franzose zu sein vorgibt, desto besser muß
er l^'IIe ach ?inZouin3 verstehen. Es ist aber schließlich doch ein recht kindliches
Vergnügen, auf vierhundert Seiten restlos alle Anspielungen herauszufinden und
damit den Genuß des Werkes erschöpft zu sehen. Es sei denn, man hätte an den
Schlüpfrigkeiten besonderes Gefallen, an denen das Werk reicher ist als jedes
andere des Dichters. Von der großen Nation gibt es somit nur einen kleinen
Begriff und zeigt sie sicher nicht von der besten Seite. Das Ganze ist ein
etwas zu umfänglich und allzu deutsch-gründlich gewordener schlechter Scherz.
Auch diesmal und mehr als sonst spottet France über den Leser, der sich die
Mühe macht, ihn ernst zu nehmen und gründlich zu studieren. Er will nur sich
selbst belustigen; ob andere das auch unterhaltend finden, ist ihm höchst gleich¬
gültig, und noch mehr, ob sie ihn verstehen. .learine ä'^rc ist denn doch von
anderem Kaliber, zwei dicke Oktavbände mit dein schweren Geschütz zahlloser
Verweise und gelehrter Anmerkungen. Diesmal war es dem großen Spötter
Ernst, soweit er dazu überhaupt noch imstande ist.

Jeanne d'Arc, die Nationälheldin. die Heilige, das Ideal des Landes --
wer sich an ihr vergreift, ist gerichtet. France ging sehr vorsichtig zu Werke.
Zu einer Verherrlichung der Jungfrau von Orleans ist freilich sein Werk nicht
bestimmt. In: Gegenteil nimmt man deutliches Bestreben wahr, alles Legendarische
so kritisch als möglich zu behandeln und ohne viel Aufhebens mit der ihm
eigenen Selbstverständlichkeit den Leser zu ernüchtern. Diese Vermenschlichung
der Heiligen, die sich mit der Methode Renans in seinem "Leben Jesu" ver¬
gleichen läßt, genügt freilich noch nicht, um den Ruhm historischer Exaktheit zu
verdienen; die Historiker sind vielmehr auf das Werk von France nichts weniger
als gut zu sprechen. Es erschienen gleichzeitig ein anderes französisches und ein
englisches Werk über den Gegenstand, die die strenge Wissenschaft weit mehr
befriedigten. Ihr buchhändlerischer Erfolg mag nicht so groß gewesen sein, denn
ein France, der Jeanne d'Arc kritisch darstellt, ist ein Schauspiel für Götter,
das sich der Lrteraturfreund nicht entgehen lassen will. Trotz dem offenkundiger
Bestreben des Verfassers, objektiv zu sein, ist nach dieser Seite seine Arbeit nur
halb gelungen. Zwei Jahrzehnte früher wäre sie vielleicht noch besser heraus¬
gekommen. Es ist und bleibt eine große Leistung, auf die sich der Forscher
jedoch nur mit vielen Vorbehalten verlassen kann.

Wie wäre das auch bei der Meinung anders möglich, die France selbst
von der geschichtlichen Wahrheit hat? Er ist davon überzeugt, daß wir sie nicht
kennen. Was für uns, die später Kommenden, von großer Bedeutung ist, schien
den Zeitgenossen unwichtig und von vorübergehendem Wert. Darin, und auch
in der Umkehrung des Axioms, mag France völlig recht haben, aber was


Anatole France

erwachter Streitlust bemächtigt. Vergleiche mit dem zweiten Teil des „Faust"
oder mit „Zarathustra" wollen wir nicht anstellen: es handelt sich nicht um
Welt- und Menschengeschichte, sondern nur um Gallien, den Krummstab und
die phrygische Mütze. Die Persiflage der Geschichte Frankreichs hat natürlich
ihr Interesse, und je gebildeter ein Franzose zu sein vorgibt, desto besser muß
er l^'IIe ach ?inZouin3 verstehen. Es ist aber schließlich doch ein recht kindliches
Vergnügen, auf vierhundert Seiten restlos alle Anspielungen herauszufinden und
damit den Genuß des Werkes erschöpft zu sehen. Es sei denn, man hätte an den
Schlüpfrigkeiten besonderes Gefallen, an denen das Werk reicher ist als jedes
andere des Dichters. Von der großen Nation gibt es somit nur einen kleinen
Begriff und zeigt sie sicher nicht von der besten Seite. Das Ganze ist ein
etwas zu umfänglich und allzu deutsch-gründlich gewordener schlechter Scherz.
Auch diesmal und mehr als sonst spottet France über den Leser, der sich die
Mühe macht, ihn ernst zu nehmen und gründlich zu studieren. Er will nur sich
selbst belustigen; ob andere das auch unterhaltend finden, ist ihm höchst gleich¬
gültig, und noch mehr, ob sie ihn verstehen. .learine ä'^rc ist denn doch von
anderem Kaliber, zwei dicke Oktavbände mit dein schweren Geschütz zahlloser
Verweise und gelehrter Anmerkungen. Diesmal war es dem großen Spötter
Ernst, soweit er dazu überhaupt noch imstande ist.

Jeanne d'Arc, die Nationälheldin. die Heilige, das Ideal des Landes —
wer sich an ihr vergreift, ist gerichtet. France ging sehr vorsichtig zu Werke.
Zu einer Verherrlichung der Jungfrau von Orleans ist freilich sein Werk nicht
bestimmt. In: Gegenteil nimmt man deutliches Bestreben wahr, alles Legendarische
so kritisch als möglich zu behandeln und ohne viel Aufhebens mit der ihm
eigenen Selbstverständlichkeit den Leser zu ernüchtern. Diese Vermenschlichung
der Heiligen, die sich mit der Methode Renans in seinem „Leben Jesu" ver¬
gleichen läßt, genügt freilich noch nicht, um den Ruhm historischer Exaktheit zu
verdienen; die Historiker sind vielmehr auf das Werk von France nichts weniger
als gut zu sprechen. Es erschienen gleichzeitig ein anderes französisches und ein
englisches Werk über den Gegenstand, die die strenge Wissenschaft weit mehr
befriedigten. Ihr buchhändlerischer Erfolg mag nicht so groß gewesen sein, denn
ein France, der Jeanne d'Arc kritisch darstellt, ist ein Schauspiel für Götter,
das sich der Lrteraturfreund nicht entgehen lassen will. Trotz dem offenkundiger
Bestreben des Verfassers, objektiv zu sein, ist nach dieser Seite seine Arbeit nur
halb gelungen. Zwei Jahrzehnte früher wäre sie vielleicht noch besser heraus¬
gekommen. Es ist und bleibt eine große Leistung, auf die sich der Forscher
jedoch nur mit vielen Vorbehalten verlassen kann.

Wie wäre das auch bei der Meinung anders möglich, die France selbst
von der geschichtlichen Wahrheit hat? Er ist davon überzeugt, daß wir sie nicht
kennen. Was für uns, die später Kommenden, von großer Bedeutung ist, schien
den Zeitgenossen unwichtig und von vorübergehendem Wert. Darin, und auch
in der Umkehrung des Axioms, mag France völlig recht haben, aber was


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[0250] Anatole France erwachter Streitlust bemächtigt. Vergleiche mit dem zweiten Teil des „Faust" oder mit „Zarathustra" wollen wir nicht anstellen: es handelt sich nicht um Welt- und Menschengeschichte, sondern nur um Gallien, den Krummstab und die phrygische Mütze. Die Persiflage der Geschichte Frankreichs hat natürlich ihr Interesse, und je gebildeter ein Franzose zu sein vorgibt, desto besser muß er l^'IIe ach ?inZouin3 verstehen. Es ist aber schließlich doch ein recht kindliches Vergnügen, auf vierhundert Seiten restlos alle Anspielungen herauszufinden und damit den Genuß des Werkes erschöpft zu sehen. Es sei denn, man hätte an den Schlüpfrigkeiten besonderes Gefallen, an denen das Werk reicher ist als jedes andere des Dichters. Von der großen Nation gibt es somit nur einen kleinen Begriff und zeigt sie sicher nicht von der besten Seite. Das Ganze ist ein etwas zu umfänglich und allzu deutsch-gründlich gewordener schlechter Scherz. Auch diesmal und mehr als sonst spottet France über den Leser, der sich die Mühe macht, ihn ernst zu nehmen und gründlich zu studieren. Er will nur sich selbst belustigen; ob andere das auch unterhaltend finden, ist ihm höchst gleich¬ gültig, und noch mehr, ob sie ihn verstehen. .learine ä'^rc ist denn doch von anderem Kaliber, zwei dicke Oktavbände mit dein schweren Geschütz zahlloser Verweise und gelehrter Anmerkungen. Diesmal war es dem großen Spötter Ernst, soweit er dazu überhaupt noch imstande ist. Jeanne d'Arc, die Nationälheldin. die Heilige, das Ideal des Landes — wer sich an ihr vergreift, ist gerichtet. France ging sehr vorsichtig zu Werke. Zu einer Verherrlichung der Jungfrau von Orleans ist freilich sein Werk nicht bestimmt. In: Gegenteil nimmt man deutliches Bestreben wahr, alles Legendarische so kritisch als möglich zu behandeln und ohne viel Aufhebens mit der ihm eigenen Selbstverständlichkeit den Leser zu ernüchtern. Diese Vermenschlichung der Heiligen, die sich mit der Methode Renans in seinem „Leben Jesu" ver¬ gleichen läßt, genügt freilich noch nicht, um den Ruhm historischer Exaktheit zu verdienen; die Historiker sind vielmehr auf das Werk von France nichts weniger als gut zu sprechen. Es erschienen gleichzeitig ein anderes französisches und ein englisches Werk über den Gegenstand, die die strenge Wissenschaft weit mehr befriedigten. Ihr buchhändlerischer Erfolg mag nicht so groß gewesen sein, denn ein France, der Jeanne d'Arc kritisch darstellt, ist ein Schauspiel für Götter, das sich der Lrteraturfreund nicht entgehen lassen will. Trotz dem offenkundiger Bestreben des Verfassers, objektiv zu sein, ist nach dieser Seite seine Arbeit nur halb gelungen. Zwei Jahrzehnte früher wäre sie vielleicht noch besser heraus¬ gekommen. Es ist und bleibt eine große Leistung, auf die sich der Forscher jedoch nur mit vielen Vorbehalten verlassen kann. Wie wäre das auch bei der Meinung anders möglich, die France selbst von der geschichtlichen Wahrheit hat? Er ist davon überzeugt, daß wir sie nicht kennen. Was für uns, die später Kommenden, von großer Bedeutung ist, schien den Zeitgenossen unwichtig und von vorübergehendem Wert. Darin, und auch in der Umkehrung des Axioms, mag France völlig recht haben, aber was

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/250>, abgerufen am 23.07.2024.