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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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I.e livre 6e mon v^mi, ^half, I.a pötisserie, I^'^nneau ni'^metnMe,
Monsieur Lederet a Paris folgen in der Gunst des Publikums; aber wie
wenig treffend und bezeichnend für den inneren Wert der Werke ist doch diese
Reihenfolge! Alles, was eine größere Gedankenanstrengung erfordert, stellt sich
mit bescheidenen Auflagen ein. -- Einige wenige Werke bleiben uns noch
zu besprechen. >

Zur la Pierre Llanebe schließt sich der Serie der mit starkem archäologischen
Ballast behafteten "Novellen"Sammlungen an, in denen mitunter glänzende und
großartige Gedankenreihen in einem Wust langatmiger, kunsthistorischer Aus¬
einandersetzungen erstickt werden. Lrainquebille, putois, piquet et ni'autres
recits profitables schlagen teilweise einen neuen Ton an. Die Weltanschauung
des Dichters hat sich hier ins Soziale übersetzt. Der Gemüsehändler, der
unschuldig verhaftet ins Gefängnis kommt, dort zum schlechten Menschen wird
und als ein Taugenichts endigt, ist für France ein Typus. Dieser Aristokrat
des Gedankens wird zum Sozialisten und Anarchisten. Es sind wieder einmal
die Institutionen, die den Menschen schlecht machen, und mit der Änderung des
Systems wird auch der Mensch ein anderer.

Mit dem Verschwinden des Dreyfusprozesses aus dem öffentlichen Interesse
verschwand auch France aus der politischen Arena. Seine Zeyt t^emmes cle
Karbe öleue haben mit manchen seiner früheren Werke Ähnlichkeit. Er liebte
diese Anlehnung an die Geschichte und die Legende, über die er frei phantasierte,
da ihm wie allen Reflexionsmenschen die eigene, originale Erfindung so ziemlich
versagt war. Aber was soll man zu diesen schlüpfrigen Geschichten sagen, die
so gar nicht dem Geist der Vorlage zu entsprechen scheinen? Es gibt eine
unnötige Frivolität, die selbst der anerkennen muß, der sonst weitherzig und
großsprechend von künstlerischer Freiheit und dem Recht auf die Behandlung
aller Stoffe redet. Wäre nur nicht gerade Maeterlinck mit seinem Ariane se
Karte bleue zuvorgekommen, der so ganz anders, so tief, ernst und fein
nordische Art und gallischer Zartheit zu verbinden wußte I Gegen dieses kleine,
intime Drama kommt die breitangelegte Novellenform nicht auf.

ttistoire eomique betitelt sich ein anderer Band, in offenbar irreführender
Weise das Wort Komik in seinem ursprünglichen Sinne nehmend: Schauspieler¬
geschichten. Zu dem Ruhme des Schriftstellers trügt diese gut erzählte Episode
aus dem Theaterleben, in der wir einer dem Typus Bergeret, Bonnard, Coignard
verwandten, autobiographischen Gestalt begegnen, nur wenig bei.
'

So bleiben uns nur die zwei letzten Schöpfungen übrig: I^IIe clef pinAouins
und .leanne ni'^rc. Jenes wie dieses hat gewaltiges Aufsehen erregt und aus
den verschiedensten Gründen. I^'Ile etes pinZouins ist nichts anderes als eine
Geschichte Frankreichs in Form einer Mystifikation. Der Reiz des Buches besteht
darin, aus dieser Tier- und Wildengeschichte die Anspielungen herauszusuchen,
die es in Fülle enthält. In Deutschland wäre längst ein Kommentar dazu
erschienen, und die Philologie hätte sich dieser willkommenen Beute in neu-


I.e livre 6e mon v^mi, ^half, I.a pötisserie, I^'^nneau ni'^metnMe,
Monsieur Lederet a Paris folgen in der Gunst des Publikums; aber wie
wenig treffend und bezeichnend für den inneren Wert der Werke ist doch diese
Reihenfolge! Alles, was eine größere Gedankenanstrengung erfordert, stellt sich
mit bescheidenen Auflagen ein. — Einige wenige Werke bleiben uns noch
zu besprechen. >

Zur la Pierre Llanebe schließt sich der Serie der mit starkem archäologischen
Ballast behafteten „Novellen"Sammlungen an, in denen mitunter glänzende und
großartige Gedankenreihen in einem Wust langatmiger, kunsthistorischer Aus¬
einandersetzungen erstickt werden. Lrainquebille, putois, piquet et ni'autres
recits profitables schlagen teilweise einen neuen Ton an. Die Weltanschauung
des Dichters hat sich hier ins Soziale übersetzt. Der Gemüsehändler, der
unschuldig verhaftet ins Gefängnis kommt, dort zum schlechten Menschen wird
und als ein Taugenichts endigt, ist für France ein Typus. Dieser Aristokrat
des Gedankens wird zum Sozialisten und Anarchisten. Es sind wieder einmal
die Institutionen, die den Menschen schlecht machen, und mit der Änderung des
Systems wird auch der Mensch ein anderer.

Mit dem Verschwinden des Dreyfusprozesses aus dem öffentlichen Interesse
verschwand auch France aus der politischen Arena. Seine Zeyt t^emmes cle
Karbe öleue haben mit manchen seiner früheren Werke Ähnlichkeit. Er liebte
diese Anlehnung an die Geschichte und die Legende, über die er frei phantasierte,
da ihm wie allen Reflexionsmenschen die eigene, originale Erfindung so ziemlich
versagt war. Aber was soll man zu diesen schlüpfrigen Geschichten sagen, die
so gar nicht dem Geist der Vorlage zu entsprechen scheinen? Es gibt eine
unnötige Frivolität, die selbst der anerkennen muß, der sonst weitherzig und
großsprechend von künstlerischer Freiheit und dem Recht auf die Behandlung
aller Stoffe redet. Wäre nur nicht gerade Maeterlinck mit seinem Ariane se
Karte bleue zuvorgekommen, der so ganz anders, so tief, ernst und fein
nordische Art und gallischer Zartheit zu verbinden wußte I Gegen dieses kleine,
intime Drama kommt die breitangelegte Novellenform nicht auf.

ttistoire eomique betitelt sich ein anderer Band, in offenbar irreführender
Weise das Wort Komik in seinem ursprünglichen Sinne nehmend: Schauspieler¬
geschichten. Zu dem Ruhme des Schriftstellers trügt diese gut erzählte Episode
aus dem Theaterleben, in der wir einer dem Typus Bergeret, Bonnard, Coignard
verwandten, autobiographischen Gestalt begegnen, nur wenig bei.
'

So bleiben uns nur die zwei letzten Schöpfungen übrig: I^IIe clef pinAouins
und .leanne ni'^rc. Jenes wie dieses hat gewaltiges Aufsehen erregt und aus
den verschiedensten Gründen. I^'Ile etes pinZouins ist nichts anderes als eine
Geschichte Frankreichs in Form einer Mystifikation. Der Reiz des Buches besteht
darin, aus dieser Tier- und Wildengeschichte die Anspielungen herauszusuchen,
die es in Fülle enthält. In Deutschland wäre längst ein Kommentar dazu
erschienen, und die Philologie hätte sich dieser willkommenen Beute in neu-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/249>, abgerufen am 03.07.2024.