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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Anatole Francs

I^erAeret ä Pari8 zusammengefaßt. Dein "tliZtoire" hätten wir gerne ein s
angehängt: es handelt sich um Geschichten, nicht um Geschichte. Was war
geschehen? France stand auf der Höhe seines Schaffens und seiner geistigen
Leistungsfähigkeit. Sein ^arcum ä'IZplLUle war schwer zu überbieten. Dem
alten Orient und der Renaissance Italiens hatte er seine beste Kraft gewidmet.
Nun drängte es ihn zur zeitgenössischen Geschichte.

Aus seiner aristokratischen Ruhe und Gleichgültigkeit, die das allzu Menschliche
gelassen hinnimmt und der entfesselten Leidenschaft einer tobenden Menge gegenüber
nur ein nachsichtiges Lächeln hat, wurde France herausgerissen. Er hielt am
Grabe Zolas später eine Rede, die nichts weniger als ein Meisterstück der
Beredsamkeit war, in ihrer Heftigkeit aber den Vater eines Sylvestre Bonnard,
Jerüme Coignard und Bergeret völlig verleugnete.

Diesen Ton schlägt France freilich in seiner rlistoii'L LontempoiairL noch
nicht an. Hier handelt es sich um lose Szenen des Pariser Lebens, teils in
republikanischen, teils in adligen Familien spielend. Bald befinden wir uns
in den Gemächern des Bischofs, bald in der Amtsstube des Präfekten, bald
beim Antiquar, in dessen Hinterzimmer sich mancherlei heterogene Elemente ein
periodisches Stelldichein geben. Es wird viel diskutiert, und zahlreiche Ab¬
schweifungen auf das Gebiet der Geschichte sind an der Tagesordnung. Mehrere
Einzelszenen sind köstlich entworfen und von plastischen: Humor. Aber das
Ganze ist ungemein lose konzipiert und flüchtig aneinander gereiht. Als Sitten¬
bilder aus der dritten Republik mögen dieser ungebildete, freidenkerische Präfekt,
der intrigante Bischof und der über der Nichtigkeit des Erdenlebens in philo¬
sophischer Ruhe thronende Bergeret wohl gelten. Kunstwerke aber sind diese
losen Szenen ohne Anfang und Ende doch nur episodisch. Als Ganzes wirken
sie nicht; dazu gehört ein sorgfältigerer Aufbau, eine straffere Linienführung,
ein zielbewußteres Fortschreiten. Der Zyklus ist zu stark von den Zeitumständen
abhängig, als daß er über die Zeit hinausreichte. Mögen Historiker und
Psychologen ihn später einmal konsultieren, in der Literaturgeschichte werden
diese vier Romane keine Rolle spielen.

Sie deuten überhaupt den Niedergang im Schaffen von France an. Was
er schreibt, ist und bleibt interessant, aber seine Produktion artet mehr und
mehr in ein geistreiches Sichgehenlassen, ein selbstgefälliges Selbstgespräch aus.
das seinen großen Reiz hat, aber vor dein strengen Urteil nicht bestehen kann.
Wem so viel gegeben ist, von dem wird man auch viel fordern. Mit dem
Li'ime als Z^Joe-Stro IZonnarä, I^s I^ivrc: ete mon /all, ^links, l^e l^s wuZe,
I.L .larciin ä'LpiLuie sind die Höhepunkte seiner Arbeit bezeichnet, überaus
charakteristisch ist das Interesse seines Publikums an den einzelnen Werken.
I.s 1^8 rouM, das nichts anderes als ein gut geschriebener Roman unter
vielen ist, brachte es auf 138 Auflagen; mit I 3K folgt I.e Lrimo ac Z^Ivestrs
Konnarcl, das denn doch in der französischen Literatur einen besonderen Platz
beansprucht. I.'Orms ein Rail, I.'IIe nich pmZouins, I.e Nannequin ni'Osler,


Anatole Francs

I^erAeret ä Pari8 zusammengefaßt. Dein „tliZtoire" hätten wir gerne ein s
angehängt: es handelt sich um Geschichten, nicht um Geschichte. Was war
geschehen? France stand auf der Höhe seines Schaffens und seiner geistigen
Leistungsfähigkeit. Sein ^arcum ä'IZplLUle war schwer zu überbieten. Dem
alten Orient und der Renaissance Italiens hatte er seine beste Kraft gewidmet.
Nun drängte es ihn zur zeitgenössischen Geschichte.

Aus seiner aristokratischen Ruhe und Gleichgültigkeit, die das allzu Menschliche
gelassen hinnimmt und der entfesselten Leidenschaft einer tobenden Menge gegenüber
nur ein nachsichtiges Lächeln hat, wurde France herausgerissen. Er hielt am
Grabe Zolas später eine Rede, die nichts weniger als ein Meisterstück der
Beredsamkeit war, in ihrer Heftigkeit aber den Vater eines Sylvestre Bonnard,
Jerüme Coignard und Bergeret völlig verleugnete.

Diesen Ton schlägt France freilich in seiner rlistoii'L LontempoiairL noch
nicht an. Hier handelt es sich um lose Szenen des Pariser Lebens, teils in
republikanischen, teils in adligen Familien spielend. Bald befinden wir uns
in den Gemächern des Bischofs, bald in der Amtsstube des Präfekten, bald
beim Antiquar, in dessen Hinterzimmer sich mancherlei heterogene Elemente ein
periodisches Stelldichein geben. Es wird viel diskutiert, und zahlreiche Ab¬
schweifungen auf das Gebiet der Geschichte sind an der Tagesordnung. Mehrere
Einzelszenen sind köstlich entworfen und von plastischen: Humor. Aber das
Ganze ist ungemein lose konzipiert und flüchtig aneinander gereiht. Als Sitten¬
bilder aus der dritten Republik mögen dieser ungebildete, freidenkerische Präfekt,
der intrigante Bischof und der über der Nichtigkeit des Erdenlebens in philo¬
sophischer Ruhe thronende Bergeret wohl gelten. Kunstwerke aber sind diese
losen Szenen ohne Anfang und Ende doch nur episodisch. Als Ganzes wirken
sie nicht; dazu gehört ein sorgfältigerer Aufbau, eine straffere Linienführung,
ein zielbewußteres Fortschreiten. Der Zyklus ist zu stark von den Zeitumständen
abhängig, als daß er über die Zeit hinausreichte. Mögen Historiker und
Psychologen ihn später einmal konsultieren, in der Literaturgeschichte werden
diese vier Romane keine Rolle spielen.

Sie deuten überhaupt den Niedergang im Schaffen von France an. Was
er schreibt, ist und bleibt interessant, aber seine Produktion artet mehr und
mehr in ein geistreiches Sichgehenlassen, ein selbstgefälliges Selbstgespräch aus.
das seinen großen Reiz hat, aber vor dein strengen Urteil nicht bestehen kann.
Wem so viel gegeben ist, von dem wird man auch viel fordern. Mit dem
Li'ime als Z^Joe-Stro IZonnarä, I^s I^ivrc: ete mon /all, ^links, l^e l^s wuZe,
I.L .larciin ä'LpiLuie sind die Höhepunkte seiner Arbeit bezeichnet, überaus
charakteristisch ist das Interesse seines Publikums an den einzelnen Werken.
I.s 1^8 rouM, das nichts anderes als ein gut geschriebener Roman unter
vielen ist, brachte es auf 138 Auflagen; mit I 3K folgt I.e Lrimo ac Z^Ivestrs
Konnarcl, das denn doch in der französischen Literatur einen besonderen Platz
beansprucht. I.'Orms ein Rail, I.'IIe nich pmZouins, I.e Nannequin ni'Osler,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/248>, abgerufen am 01.07.2024.