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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Anatole France

um zu zeigen, daß er es zu tragen und in ihm sich zu bewegen versteht. Er
hat sich in allen möglichen Genres versucht und ist erst in den letzten Jahren
einseitiger geworden.

Neben Sylvestre Bonuard kann Jerome Coignard als eine Vorstudie zu
der Bergeretfigur bezeichnet werden. Wir finden ihn in den beiden Büchern
I^g, Ü?ütis8me <le le Keine peciauque (1893) und Opinic>n8 <le ^öröme
LoiZnarcZ (1893). Ist Bergeret ein etwas greisenhafter und hilfloser Bonnard,
so ist Coignard seine vergröberte Karrikatur, sein ins Materielle gezogenes Zerr¬
bild. Dieser fette, aus dem Amte längst entlassene Geistliche, dessen Tasche
stets leer, dessen Magen stets hungrig, dessen Schlund überaus durstig, dessen
Degen stets schlagfertig ist, erscheint uns in seiner Wirtsstube und mit seineu
galanten Abenteuern wie ein immerhin etwas vergeistigter Fallstaff des neun¬
zehnten Jahrhunderts in gallischem Gewände. Er handhabt auch die Zote mit
einer bemerkenswerten Virtuosität, und I.u Kuli88me cle la Keine peciimczue
(der Name eines Wirtshauses!) gehört jedenfalls zu den unsaubersten Büchern
des Dichters. Was den Abbe aber von Falstaff entfernt und als das Prototyp
Professor Bergerets erscheinen läßt, ist seine stupende Gelehrsamkeit und sein
stets lebendiges Interesse sür geistige Fragen, theologische Dispute und philo¬
sophische Probleme. Man kann sich keinen besseren Typus des verkommenen
Genies als diesen vertrunkenen Priester denken, der ein seiner würdiges Ende
findet -- er wird auf offener Landstraße von einem alten Juden um eines
Liebesabenteuers willen erstochen --, und dessen Geschick uns doch um seiner
Geistesgaben und seiner Herzenseigenschasten willen ein wenig zu Herzen geht.

Das vollkommenste Buch des Dichters ist sein .larclin et'IZpieure (1894).
Vollkommen nicht in dem Sinne, als ob ein Genre besser wäre und höher
stände als ein anderes, sondern weil hier France eine Harmonie nach Form
und Inhalt erzielt hat, die ihm früher und später versagt blieb. Er hat hier
auf den fiktiven Einschlag, der ihm immer ein wenig Mühe machte, völlig ver¬
zichtet und sich in einer Nachdichtung der epikuräischen Philosophie versucht, die
in der Weltliteratur ihresgleichen sucht. Nur ein Franzose war dazu imstande,
die antike Philosophie des maßvollen Genusses in so subtiler Weise zu destillieren
und ihr eine andere französische Form zu geben, die, unbeschadet des antiken
Gehalts, dem Ganzen einen neuen Reiz verleiht. France hat hier das Größte
und Tiefste in klassisch reiner Form gesagt, das über des Menschen Ursprung,
Leben und Schicksal überhaupt gesagt werden kaun. Das muß auch derjenige
anerkennen, der, von anderen Voraussetzungen ausgehend, die Größe und
Schönheit einer gegnerischen philosophischen Weltanschauung unparteiisch zu
würdigen weiß.

Von nun an tritt eine eigentümliche Wendung in dem Schaffen des Dichters
ein. Es beginnt die Serie feiner zeitgenössischen Romane. Unter dem Titel
lUstoire Lontemporaine wurden die vier 1897 bis 1901 erscheinenden Bücher
^'One ein Rail. I.e N-mnequin ni'Osiei', i.'^nneau ä'/VmetKMs, Monsieur


Anatole France

um zu zeigen, daß er es zu tragen und in ihm sich zu bewegen versteht. Er
hat sich in allen möglichen Genres versucht und ist erst in den letzten Jahren
einseitiger geworden.

Neben Sylvestre Bonuard kann Jerome Coignard als eine Vorstudie zu
der Bergeretfigur bezeichnet werden. Wir finden ihn in den beiden Büchern
I^g, Ü?ütis8me <le le Keine peciauque (1893) und Opinic>n8 <le ^öröme
LoiZnarcZ (1893). Ist Bergeret ein etwas greisenhafter und hilfloser Bonnard,
so ist Coignard seine vergröberte Karrikatur, sein ins Materielle gezogenes Zerr¬
bild. Dieser fette, aus dem Amte längst entlassene Geistliche, dessen Tasche
stets leer, dessen Magen stets hungrig, dessen Schlund überaus durstig, dessen
Degen stets schlagfertig ist, erscheint uns in seiner Wirtsstube und mit seineu
galanten Abenteuern wie ein immerhin etwas vergeistigter Fallstaff des neun¬
zehnten Jahrhunderts in gallischem Gewände. Er handhabt auch die Zote mit
einer bemerkenswerten Virtuosität, und I.u Kuli88me cle la Keine peciimczue
(der Name eines Wirtshauses!) gehört jedenfalls zu den unsaubersten Büchern
des Dichters. Was den Abbe aber von Falstaff entfernt und als das Prototyp
Professor Bergerets erscheinen läßt, ist seine stupende Gelehrsamkeit und sein
stets lebendiges Interesse sür geistige Fragen, theologische Dispute und philo¬
sophische Probleme. Man kann sich keinen besseren Typus des verkommenen
Genies als diesen vertrunkenen Priester denken, der ein seiner würdiges Ende
findet — er wird auf offener Landstraße von einem alten Juden um eines
Liebesabenteuers willen erstochen —, und dessen Geschick uns doch um seiner
Geistesgaben und seiner Herzenseigenschasten willen ein wenig zu Herzen geht.

Das vollkommenste Buch des Dichters ist sein .larclin et'IZpieure (1894).
Vollkommen nicht in dem Sinne, als ob ein Genre besser wäre und höher
stände als ein anderes, sondern weil hier France eine Harmonie nach Form
und Inhalt erzielt hat, die ihm früher und später versagt blieb. Er hat hier
auf den fiktiven Einschlag, der ihm immer ein wenig Mühe machte, völlig ver¬
zichtet und sich in einer Nachdichtung der epikuräischen Philosophie versucht, die
in der Weltliteratur ihresgleichen sucht. Nur ein Franzose war dazu imstande,
die antike Philosophie des maßvollen Genusses in so subtiler Weise zu destillieren
und ihr eine andere französische Form zu geben, die, unbeschadet des antiken
Gehalts, dem Ganzen einen neuen Reiz verleiht. France hat hier das Größte
und Tiefste in klassisch reiner Form gesagt, das über des Menschen Ursprung,
Leben und Schicksal überhaupt gesagt werden kaun. Das muß auch derjenige
anerkennen, der, von anderen Voraussetzungen ausgehend, die Größe und
Schönheit einer gegnerischen philosophischen Weltanschauung unparteiisch zu
würdigen weiß.

Von nun an tritt eine eigentümliche Wendung in dem Schaffen des Dichters
ein. Es beginnt die Serie feiner zeitgenössischen Romane. Unter dem Titel
lUstoire Lontemporaine wurden die vier 1897 bis 1901 erscheinenden Bücher
^'One ein Rail. I.e N-mnequin ni'Osiei', i.'^nneau ä'/VmetKMs, Monsieur


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[0247] Anatole France um zu zeigen, daß er es zu tragen und in ihm sich zu bewegen versteht. Er hat sich in allen möglichen Genres versucht und ist erst in den letzten Jahren einseitiger geworden. Neben Sylvestre Bonuard kann Jerome Coignard als eine Vorstudie zu der Bergeretfigur bezeichnet werden. Wir finden ihn in den beiden Büchern I^g, Ü?ütis8me <le le Keine peciauque (1893) und Opinic>n8 <le ^öröme LoiZnarcZ (1893). Ist Bergeret ein etwas greisenhafter und hilfloser Bonnard, so ist Coignard seine vergröberte Karrikatur, sein ins Materielle gezogenes Zerr¬ bild. Dieser fette, aus dem Amte längst entlassene Geistliche, dessen Tasche stets leer, dessen Magen stets hungrig, dessen Schlund überaus durstig, dessen Degen stets schlagfertig ist, erscheint uns in seiner Wirtsstube und mit seineu galanten Abenteuern wie ein immerhin etwas vergeistigter Fallstaff des neun¬ zehnten Jahrhunderts in gallischem Gewände. Er handhabt auch die Zote mit einer bemerkenswerten Virtuosität, und I.u Kuli88me cle la Keine peciimczue (der Name eines Wirtshauses!) gehört jedenfalls zu den unsaubersten Büchern des Dichters. Was den Abbe aber von Falstaff entfernt und als das Prototyp Professor Bergerets erscheinen läßt, ist seine stupende Gelehrsamkeit und sein stets lebendiges Interesse sür geistige Fragen, theologische Dispute und philo¬ sophische Probleme. Man kann sich keinen besseren Typus des verkommenen Genies als diesen vertrunkenen Priester denken, der ein seiner würdiges Ende findet — er wird auf offener Landstraße von einem alten Juden um eines Liebesabenteuers willen erstochen —, und dessen Geschick uns doch um seiner Geistesgaben und seiner Herzenseigenschasten willen ein wenig zu Herzen geht. Das vollkommenste Buch des Dichters ist sein .larclin et'IZpieure (1894). Vollkommen nicht in dem Sinne, als ob ein Genre besser wäre und höher stände als ein anderes, sondern weil hier France eine Harmonie nach Form und Inhalt erzielt hat, die ihm früher und später versagt blieb. Er hat hier auf den fiktiven Einschlag, der ihm immer ein wenig Mühe machte, völlig ver¬ zichtet und sich in einer Nachdichtung der epikuräischen Philosophie versucht, die in der Weltliteratur ihresgleichen sucht. Nur ein Franzose war dazu imstande, die antike Philosophie des maßvollen Genusses in so subtiler Weise zu destillieren und ihr eine andere französische Form zu geben, die, unbeschadet des antiken Gehalts, dem Ganzen einen neuen Reiz verleiht. France hat hier das Größte und Tiefste in klassisch reiner Form gesagt, das über des Menschen Ursprung, Leben und Schicksal überhaupt gesagt werden kaun. Das muß auch derjenige anerkennen, der, von anderen Voraussetzungen ausgehend, die Größe und Schönheit einer gegnerischen philosophischen Weltanschauung unparteiisch zu würdigen weiß. Von nun an tritt eine eigentümliche Wendung in dem Schaffen des Dichters ein. Es beginnt die Serie feiner zeitgenössischen Romane. Unter dem Titel lUstoire Lontemporaine wurden die vier 1897 bis 1901 erscheinenden Bücher ^'One ein Rail. I.e N-mnequin ni'Osiei', i.'^nneau ä'/VmetKMs, Monsieur

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/247>, abgerufen am 29.06.2024.