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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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AnatoK' Fruxce

doch schon die Herzensgüte, die Weltabgewandtheit des Stubengelehrten und das
große Wissen, das in den kleinen, praktischen Fragen des Lebens versagt, was
seinem Träger einen leicht komischen Anstrich gibt und ihn nur noch sympathischer
macht. Hier zeigt sich France von seiner liebenswürdigsten Seite, als ein fröh¬
licher, gütiger Beurteiler des Lebens. Es liegt beinahe etwas Germanisches in
dieser gemütvollen, weichen Herzlichkeit. Und doch ist France aller germanischen
Kultur so fremd als möglich; er hat nie auch nur den Versuch gemacht, in sie
einzudringen und sich mit ihr vertraut zu machen -- eine Beschränkung, die
neben ihren offenkundiger Nachteilen doch auch ihre großen Vorzüge hat, zumal
in unserer Zeit des Internationalismus, wo die synkretistische Mischung der
Kulturen und die oberflächliche und eifrig erstrebte Sprachenkenntnis nicht immer
erfreuliche literarische Früchte zeitigt.

Die chronologische Ordnung verletzend, gruppieren wir das innerlich Zu¬
sammengehörige. Von der gleichen Seite wie in seinem ersten Werk zeigt sich
France nur noch in zwei späteren Büchern: "I^e I^ivre cle mon /um" (1883) und
"Pierre t>Jo?ihre" (1899), diesmal mit stark autobiographischen Einschlag. Diese
Kindheitserinnerungen gehören zu den wertvollsten Schätzen derfranzösischen Literatur
und aller Literaturen. Sie sind von einer unmittelbaren Frische, einer Wahrheit
und Feinheit, die ihresgleichen sucht. Der Dichter versetzt sich hier so völlig
in die Kindesseele, wie er sich später in die eines Heiligen der urchristlicher
Zeit, eines mittelalterlichen Mönchs oder eines Enzyklopädisten versetzt. Hier
liegt seine eigentliche Virtuosität, und sie ist die Frucht feinster Bildung, völliger
Reife und ernster Arbeit.

Diese Vollkommenheit dankt er nicht nur dem eigenen Talent, seinen Studien,
seinem Fleiß, sondern nicht zum mindesten dem Umstand, daß er in Pariser
Lust in einem feingebildeten Milieu aufwuchs, vielleicht auch der Tatsache, daß
er seine sprachliche Sicherheit sich nicht durch das Studium der Fremdsprachen --
das Italienische ausgenommen -- trüben ließ. Wahrend der Provinzler sich
erst anpassen und manche alte Gewohnheit in Form und Ausdruck ablegen muß,
wuchs France in die sprachliche Vollendung sozusagen hinein. Er hatte nur
mit dem Pfunde zu wuchern, das ihm geschenkt war.

France ist der vielseitigste französische Schriftsteller der Gegenwart, weil er
der gebildetste ist; man möchte es nur weniger durchfühlen. Man lese vier
oder fünf Bände von ihm hintereinander, z. B. I^e Livre ac me>n /^.mi, l.a
I^0et88eriL cle !a I^eine peäaucjue, I.'IIe nich pinAvuin", I^e I^s rouZe 1"kN8,
ohne den Namen des Autors zu kennen, und man wird nie auch nur die
Möglichkeit einer gemeinsamen Verfasserschaft ins Auge fassen. Der gewaltige
Unterschied liegt nicht nur in der großen Verschiedenheit der Handlung und des
Milieus, sondern vor allem in der völligen Unvergleichbarkeit der geistigen
Richtung. France ist ein Meister der Einfühlung, von unglaublicher Vielseitigkeit
Und Beweglichkeit. Dazu gehört ebenso viel historische Bildung als natürliches
Talent. Und es gefällt ihn,, in dieses oder jenes fremde Gewand zu schlüpfen,


AnatoK' Fruxce

doch schon die Herzensgüte, die Weltabgewandtheit des Stubengelehrten und das
große Wissen, das in den kleinen, praktischen Fragen des Lebens versagt, was
seinem Träger einen leicht komischen Anstrich gibt und ihn nur noch sympathischer
macht. Hier zeigt sich France von seiner liebenswürdigsten Seite, als ein fröh¬
licher, gütiger Beurteiler des Lebens. Es liegt beinahe etwas Germanisches in
dieser gemütvollen, weichen Herzlichkeit. Und doch ist France aller germanischen
Kultur so fremd als möglich; er hat nie auch nur den Versuch gemacht, in sie
einzudringen und sich mit ihr vertraut zu machen — eine Beschränkung, die
neben ihren offenkundiger Nachteilen doch auch ihre großen Vorzüge hat, zumal
in unserer Zeit des Internationalismus, wo die synkretistische Mischung der
Kulturen und die oberflächliche und eifrig erstrebte Sprachenkenntnis nicht immer
erfreuliche literarische Früchte zeitigt.

Die chronologische Ordnung verletzend, gruppieren wir das innerlich Zu¬
sammengehörige. Von der gleichen Seite wie in seinem ersten Werk zeigt sich
France nur noch in zwei späteren Büchern: „I^e I^ivre cle mon /um" (1883) und
„Pierre t>Jo?ihre" (1899), diesmal mit stark autobiographischen Einschlag. Diese
Kindheitserinnerungen gehören zu den wertvollsten Schätzen derfranzösischen Literatur
und aller Literaturen. Sie sind von einer unmittelbaren Frische, einer Wahrheit
und Feinheit, die ihresgleichen sucht. Der Dichter versetzt sich hier so völlig
in die Kindesseele, wie er sich später in die eines Heiligen der urchristlicher
Zeit, eines mittelalterlichen Mönchs oder eines Enzyklopädisten versetzt. Hier
liegt seine eigentliche Virtuosität, und sie ist die Frucht feinster Bildung, völliger
Reife und ernster Arbeit.

Diese Vollkommenheit dankt er nicht nur dem eigenen Talent, seinen Studien,
seinem Fleiß, sondern nicht zum mindesten dem Umstand, daß er in Pariser
Lust in einem feingebildeten Milieu aufwuchs, vielleicht auch der Tatsache, daß
er seine sprachliche Sicherheit sich nicht durch das Studium der Fremdsprachen —
das Italienische ausgenommen — trüben ließ. Wahrend der Provinzler sich
erst anpassen und manche alte Gewohnheit in Form und Ausdruck ablegen muß,
wuchs France in die sprachliche Vollendung sozusagen hinein. Er hatte nur
mit dem Pfunde zu wuchern, das ihm geschenkt war.

France ist der vielseitigste französische Schriftsteller der Gegenwart, weil er
der gebildetste ist; man möchte es nur weniger durchfühlen. Man lese vier
oder fünf Bände von ihm hintereinander, z. B. I^e Livre ac me>n /^.mi, l.a
I^0et88eriL cle !a I^eine peäaucjue, I.'IIe nich pinAvuin«, I^e I^s rouZe 1"kN8,
ohne den Namen des Autors zu kennen, und man wird nie auch nur die
Möglichkeit einer gemeinsamen Verfasserschaft ins Auge fassen. Der gewaltige
Unterschied liegt nicht nur in der großen Verschiedenheit der Handlung und des
Milieus, sondern vor allem in der völligen Unvergleichbarkeit der geistigen
Richtung. France ist ein Meister der Einfühlung, von unglaublicher Vielseitigkeit
Und Beweglichkeit. Dazu gehört ebenso viel historische Bildung als natürliches
Talent. Und es gefällt ihn,, in dieses oder jenes fremde Gewand zu schlüpfen,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/246>, abgerufen am 26.06.2024.