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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Förderung des Handwerks ""l kosten der Industrie?

wird. Der Abfluß des gewerblichen Handwerkernachwuchses zur Industrie
kann durch gesetzgeberische Maßnahmen nicht beseitigt werden, wie auch ein
größerer Zustrom von Lehrlingen zum Handwerk nicht die Folge wäre,
da die Gründe, die diese beiden Momente zeitigen, in tieferliegenden
Ursachen zu suchen sind. Falls es sich die Industrie in allen ihren Teilen
angelegen sein lassen wollte, in weitergehenden Maße und systematischer als
bisher für eine geeignete Ausbildung der Lehrlinge Sorge zu tragen, würde
der Klage des Handwerks, daß ihm die Industrie die ausgebildeten Kräfte
fortnehme, immer mehr der Boden entzogen und hiermit beiden Teilen vielleicht
am besten gedient sein. Es möchte zu diesem Zwecke auch in Erwägung zu
ziehen sein, ob es sich nicht empfiehlt, die gesetzlichen Bestimmungen der Gewerbe¬
ordnung über die jugendlichen Arbeiter 134i bis 139 a), welche bisher
eine stärkere Vermehrung der Lehrlinge in den industriellen Betrieben ungünstig
beeinflußt haben, einer sachgemäßen Änderung zu unterziehen.

Als ein gangbarer Weg, um ohne Inanspruchnahme der Reichsgesetzgebung
zu einer Verständigung unter den Parteien zu gelangen, ist von vielen Seiten
der Erlaß des Staatsministeriums des Königlichen Hauses und des Äußern in
Bauern vom 10. März d. I. begrüßt worden, der auf den Versuch hinweist,
"in geeigneten Fällen eine Vereinbarung über die Beitrüge zu erzielen, die
seitens der Industrie zu den Kosten der Lehrlingsausbildung zu leisten wären."
Gegen ein solches Verfahren find vorkommendenfalls Bedenken nicht zu
erheben; es ist vielleicht in manchen Streitfällen als ein geeignetes Mittel
zu betrachten, um eine gütliche Verständigung zwischen Industrie und Handwerk
in der Frage der Lehrlingsausbildung herbeizuführen.

Die Streitfrage der Abgrenzung der Gebiete "Fabrik und Handwerk" wird
sich durch die gemachten Vorschläge allerdings ebensowenig wie durch gesetzliche
Bestimmungen völlig aus dem Wege räumen lassen. In dieser Hinsicht würde
lediglich durch Schaffung einer Instanz, welche einheitlich über alle Streitfälle
auf dieseni Gebiete zu entscheiden hätte, eine Besserung der derzeitigen ver¬
worrenen Sachlage und damit eine Milderung der vielfachen Klagen erzielt
werden können.

Bei der gegenwärtigen Lage der Sache sollte aber jedenfalls vor einer
Entschließung über einen gesetzlichen Eingriff die Frage sehr ernstlich geprüft
werden, ob durch eine einseitige Förderung des Handwerks auf Kosten der
Industrie der dem Handwerk erwachsende Vorteil den Schaden überwiegt, den
unsere Volkswirtschaft durch eine Verschärfung der Gegensätze zwischen beiden
Berufsständen erleiden müßte, und diese Prüfung sollten sich in erster Linie
diejenigen angelegen sein lassen, die zu einer Mitwirkung an gesetzgeberischen
Arbeiten auf diesem Gebiete berufen sind, und die nicht lediglich aus politischen,
sondern auch aus sachlichen Erwägungen heraus die zutage getretenen Be¬
strebungen unterstützen.




Förderung des Handwerks ""l kosten der Industrie?

wird. Der Abfluß des gewerblichen Handwerkernachwuchses zur Industrie
kann durch gesetzgeberische Maßnahmen nicht beseitigt werden, wie auch ein
größerer Zustrom von Lehrlingen zum Handwerk nicht die Folge wäre,
da die Gründe, die diese beiden Momente zeitigen, in tieferliegenden
Ursachen zu suchen sind. Falls es sich die Industrie in allen ihren Teilen
angelegen sein lassen wollte, in weitergehenden Maße und systematischer als
bisher für eine geeignete Ausbildung der Lehrlinge Sorge zu tragen, würde
der Klage des Handwerks, daß ihm die Industrie die ausgebildeten Kräfte
fortnehme, immer mehr der Boden entzogen und hiermit beiden Teilen vielleicht
am besten gedient sein. Es möchte zu diesem Zwecke auch in Erwägung zu
ziehen sein, ob es sich nicht empfiehlt, die gesetzlichen Bestimmungen der Gewerbe¬
ordnung über die jugendlichen Arbeiter 134i bis 139 a), welche bisher
eine stärkere Vermehrung der Lehrlinge in den industriellen Betrieben ungünstig
beeinflußt haben, einer sachgemäßen Änderung zu unterziehen.

Als ein gangbarer Weg, um ohne Inanspruchnahme der Reichsgesetzgebung
zu einer Verständigung unter den Parteien zu gelangen, ist von vielen Seiten
der Erlaß des Staatsministeriums des Königlichen Hauses und des Äußern in
Bauern vom 10. März d. I. begrüßt worden, der auf den Versuch hinweist,
„in geeigneten Fällen eine Vereinbarung über die Beitrüge zu erzielen, die
seitens der Industrie zu den Kosten der Lehrlingsausbildung zu leisten wären."
Gegen ein solches Verfahren find vorkommendenfalls Bedenken nicht zu
erheben; es ist vielleicht in manchen Streitfällen als ein geeignetes Mittel
zu betrachten, um eine gütliche Verständigung zwischen Industrie und Handwerk
in der Frage der Lehrlingsausbildung herbeizuführen.

Die Streitfrage der Abgrenzung der Gebiete „Fabrik und Handwerk" wird
sich durch die gemachten Vorschläge allerdings ebensowenig wie durch gesetzliche
Bestimmungen völlig aus dem Wege räumen lassen. In dieser Hinsicht würde
lediglich durch Schaffung einer Instanz, welche einheitlich über alle Streitfälle
auf dieseni Gebiete zu entscheiden hätte, eine Besserung der derzeitigen ver¬
worrenen Sachlage und damit eine Milderung der vielfachen Klagen erzielt
werden können.

Bei der gegenwärtigen Lage der Sache sollte aber jedenfalls vor einer
Entschließung über einen gesetzlichen Eingriff die Frage sehr ernstlich geprüft
werden, ob durch eine einseitige Förderung des Handwerks auf Kosten der
Industrie der dem Handwerk erwachsende Vorteil den Schaden überwiegt, den
unsere Volkswirtschaft durch eine Verschärfung der Gegensätze zwischen beiden
Berufsständen erleiden müßte, und diese Prüfung sollten sich in erster Linie
diejenigen angelegen sein lassen, die zu einer Mitwirkung an gesetzgeberischen
Arbeiten auf diesem Gebiete berufen sind, und die nicht lediglich aus politischen,
sondern auch aus sachlichen Erwägungen heraus die zutage getretenen Be¬
strebungen unterstützen.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/235>, abgerufen am 01.07.2024.