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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Bühne, die Einzelfiguren, auf das Logeton und seinen Hintergrund, auf diesen
wenigstens relativ begrenzten und individuellen Raum, angemiesen waren. Und
es ist ebensowenig ein Zufall, daß der Chor, der in allseitig zugänglicher, in
rundlicher Plastik draußen, inmitten des Publikums, auf der Orchestra stand,
nichts weiter schließlich mehr bildete als das allgemein-menschliche, das typische
Echo für die individuellen Vorgänge da oben oder da hinten auf der Sprechbühne.

Die Bühnenfigur, die im freien, unbegrenzten Raum steht und allseitig
sichtbar ist, muß sich notwendig in ihrer Plastik zum Typus entwickeln und alle
individuell bestimmten Züge aufgeben. Das beste Beispiel dafür bietet das
mittelalterliche englische Mysterienspiel von Jedermann"), das Reinhardt neuestens
in demselben Raum: aufführte, der sich für das altgriechische Drama als so
geeignet erwiesen hatte: im Zirkus.

Auch die mittelalterliche christliche Dramatik stellte ihre Figuren in der
Kirche oder auf dem Markte der Städte sozusagen in einen überindividuellen
Raum: inmitten des Publikums. Sie ließ den Raum leer und unbestimmt für
die Phantasie oder gab dieser doch durch die Andeutung so allgemeiner Vor¬
stellungen wie Erde, Himmel, Hölle nur Fingerzeige, die nicht weiter als bis
zu den ganz abstraktesten Begriffen führten. Auch sie stellte die Figur so ziemlich
von allen Seiten sichtbar in den Raum. Daher machte sich hier, wo es sich
um Einzelpersonen und nicht um Massen handelte, wie beim Chor auf der
griechischen Bühne, die stilisierende Folgewirkung dieser Tatsache noch schwer¬
wiegender geltend als dort. Denn jede individualisierende Einzelheit in Charakter¬
schilderung, Handlung, Miene und Gebärde, verliert an einer auf allseitige
Ansicht gearbeiteten Figur an Wert, wenn sie nur von einer einzigen Seite her
sichtbar ist und nur nach dieser einzigen Seite hin wirksam gemacht werden
kann. Untersucht mau nun aber eine individuelle dramatische Figur auf die
allseitige Wirksamkeit und Verwertbarkcit gerade ihrer individualisierenden Einzel¬
heiten, so findet man bald, daß gerade alle diese Einzelheiten, wie Mienenspiel,
Blick, Gebärde, auf Grund des menschlichen Körperbaus nur für einseitige
Darstellung geeignet sind. Die individuelle und charakteristische Plastik des
Dramas findet auf der nach vorne gewandten modernen Bühne gerade den
Raum, den sie braucht. Für die allseitige Verwertung im freien Raume sind
eigentlich nur die allgemein-konstruktiven Bestandteile der menschlichen Gestalt,
das rein Monumentale, verwertbar. Und ihm angepaßt erscheint dann auch
inhaltlich nur das Typische und Allgemein-Menschliche als zur Darstellung im
freien Bühnenraum geeignet. Das mittelalterliche Spiel von Jedermann, der,
typische Lebensgang des typischen Menschen mit der Wendung am Schluß, die
der typischen Morallehre der Kirche entspricht, dieses Spiel erscheint als das
erste Produkt einer solchen Bühne, die ihre Figuren frei in den Raum stellte
oder sie frei in den Raum zu stellen gewohnt war.



") Ms Buch erschienen vel S, Fischer, Berlin.
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Bühne, die Einzelfiguren, auf das Logeton und seinen Hintergrund, auf diesen
wenigstens relativ begrenzten und individuellen Raum, angemiesen waren. Und
es ist ebensowenig ein Zufall, daß der Chor, der in allseitig zugänglicher, in
rundlicher Plastik draußen, inmitten des Publikums, auf der Orchestra stand,
nichts weiter schließlich mehr bildete als das allgemein-menschliche, das typische
Echo für die individuellen Vorgänge da oben oder da hinten auf der Sprechbühne.

Die Bühnenfigur, die im freien, unbegrenzten Raum steht und allseitig
sichtbar ist, muß sich notwendig in ihrer Plastik zum Typus entwickeln und alle
individuell bestimmten Züge aufgeben. Das beste Beispiel dafür bietet das
mittelalterliche englische Mysterienspiel von Jedermann"), das Reinhardt neuestens
in demselben Raum: aufführte, der sich für das altgriechische Drama als so
geeignet erwiesen hatte: im Zirkus.

Auch die mittelalterliche christliche Dramatik stellte ihre Figuren in der
Kirche oder auf dem Markte der Städte sozusagen in einen überindividuellen
Raum: inmitten des Publikums. Sie ließ den Raum leer und unbestimmt für
die Phantasie oder gab dieser doch durch die Andeutung so allgemeiner Vor¬
stellungen wie Erde, Himmel, Hölle nur Fingerzeige, die nicht weiter als bis
zu den ganz abstraktesten Begriffen führten. Auch sie stellte die Figur so ziemlich
von allen Seiten sichtbar in den Raum. Daher machte sich hier, wo es sich
um Einzelpersonen und nicht um Massen handelte, wie beim Chor auf der
griechischen Bühne, die stilisierende Folgewirkung dieser Tatsache noch schwer¬
wiegender geltend als dort. Denn jede individualisierende Einzelheit in Charakter¬
schilderung, Handlung, Miene und Gebärde, verliert an einer auf allseitige
Ansicht gearbeiteten Figur an Wert, wenn sie nur von einer einzigen Seite her
sichtbar ist und nur nach dieser einzigen Seite hin wirksam gemacht werden
kann. Untersucht mau nun aber eine individuelle dramatische Figur auf die
allseitige Wirksamkeit und Verwertbarkcit gerade ihrer individualisierenden Einzel¬
heiten, so findet man bald, daß gerade alle diese Einzelheiten, wie Mienenspiel,
Blick, Gebärde, auf Grund des menschlichen Körperbaus nur für einseitige
Darstellung geeignet sind. Die individuelle und charakteristische Plastik des
Dramas findet auf der nach vorne gewandten modernen Bühne gerade den
Raum, den sie braucht. Für die allseitige Verwertung im freien Raume sind
eigentlich nur die allgemein-konstruktiven Bestandteile der menschlichen Gestalt,
das rein Monumentale, verwertbar. Und ihm angepaßt erscheint dann auch
inhaltlich nur das Typische und Allgemein-Menschliche als zur Darstellung im
freien Bühnenraum geeignet. Das mittelalterliche Spiel von Jedermann, der,
typische Lebensgang des typischen Menschen mit der Wendung am Schluß, die
der typischen Morallehre der Kirche entspricht, dieses Spiel erscheint als das
erste Produkt einer solchen Bühne, die ihre Figuren frei in den Raum stellte
oder sie frei in den Raum zu stellen gewohnt war.



") Ms Buch erschienen vel S, Fischer, Berlin.
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[0201] BnhueupKistik und Bi'chncnrmun Bühne, die Einzelfiguren, auf das Logeton und seinen Hintergrund, auf diesen wenigstens relativ begrenzten und individuellen Raum, angemiesen waren. Und es ist ebensowenig ein Zufall, daß der Chor, der in allseitig zugänglicher, in rundlicher Plastik draußen, inmitten des Publikums, auf der Orchestra stand, nichts weiter schließlich mehr bildete als das allgemein-menschliche, das typische Echo für die individuellen Vorgänge da oben oder da hinten auf der Sprechbühne. Die Bühnenfigur, die im freien, unbegrenzten Raum steht und allseitig sichtbar ist, muß sich notwendig in ihrer Plastik zum Typus entwickeln und alle individuell bestimmten Züge aufgeben. Das beste Beispiel dafür bietet das mittelalterliche englische Mysterienspiel von Jedermann"), das Reinhardt neuestens in demselben Raum: aufführte, der sich für das altgriechische Drama als so geeignet erwiesen hatte: im Zirkus. Auch die mittelalterliche christliche Dramatik stellte ihre Figuren in der Kirche oder auf dem Markte der Städte sozusagen in einen überindividuellen Raum: inmitten des Publikums. Sie ließ den Raum leer und unbestimmt für die Phantasie oder gab dieser doch durch die Andeutung so allgemeiner Vor¬ stellungen wie Erde, Himmel, Hölle nur Fingerzeige, die nicht weiter als bis zu den ganz abstraktesten Begriffen führten. Auch sie stellte die Figur so ziemlich von allen Seiten sichtbar in den Raum. Daher machte sich hier, wo es sich um Einzelpersonen und nicht um Massen handelte, wie beim Chor auf der griechischen Bühne, die stilisierende Folgewirkung dieser Tatsache noch schwer¬ wiegender geltend als dort. Denn jede individualisierende Einzelheit in Charakter¬ schilderung, Handlung, Miene und Gebärde, verliert an einer auf allseitige Ansicht gearbeiteten Figur an Wert, wenn sie nur von einer einzigen Seite her sichtbar ist und nur nach dieser einzigen Seite hin wirksam gemacht werden kann. Untersucht mau nun aber eine individuelle dramatische Figur auf die allseitige Wirksamkeit und Verwertbarkcit gerade ihrer individualisierenden Einzel¬ heiten, so findet man bald, daß gerade alle diese Einzelheiten, wie Mienenspiel, Blick, Gebärde, auf Grund des menschlichen Körperbaus nur für einseitige Darstellung geeignet sind. Die individuelle und charakteristische Plastik des Dramas findet auf der nach vorne gewandten modernen Bühne gerade den Raum, den sie braucht. Für die allseitige Verwertung im freien Raume sind eigentlich nur die allgemein-konstruktiven Bestandteile der menschlichen Gestalt, das rein Monumentale, verwertbar. Und ihm angepaßt erscheint dann auch inhaltlich nur das Typische und Allgemein-Menschliche als zur Darstellung im freien Bühnenraum geeignet. Das mittelalterliche Spiel von Jedermann, der, typische Lebensgang des typischen Menschen mit der Wendung am Schluß, die der typischen Morallehre der Kirche entspricht, dieses Spiel erscheint als das erste Produkt einer solchen Bühne, die ihre Figuren frei in den Raum stellte oder sie frei in den Raum zu stellen gewohnt war. ") Ms Buch erschienen vel S, Fischer, Berlin.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/201>, abgerufen am 01.07.2024.