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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Daher belebte sich auch die alte Monumentalität jener Figuren wieder,
als Reinhardt sie in die allseitig freie Zirkusarena stellte. Allerdings bietet der
Zirkus bei weitem nicht dieselben günstigen, ja annähernd gleichen Ramn-
bedingungen für das mittelalterliche Spiel, wie er es für die griechische Tragödie
tat. Aber man darf bei einem solchen Versuche. Vergangenes zu beleben und
wieder anschaulich zu machen, über das, was dabei nicht mehr lebendig geworden
ist, füglich hinwegsehen angesichts dessen, was wieder vor uns ansieht.

Und in der Zirkusaufführung des Spieles von Jedermann wurde die
monumentale Plastik der mittelalterlichen Figuren in einer Weise auf uns
wirksam, der typische Wert und die typische Bedeutung der Handlung in einer
Weise uns nahe gebracht, daß es uns Söhne eines individuellen Zeitalters, das
die Entdeckung der Persönlichkeit und ihres Wertes zu seinen größten Errungen¬
schaften zählt, überwältigend berührte.

Dennoch besitzen diese retrospektiven Versuche Reinhardts mehr Erkenntnis¬
wert, als daß sie Einfluß auf die Gestaltung unserer Gegenwartskultur hätten.
Es fragt sich überhaupt, ob sich unter allen den besprochenen Bühnengestaltungen
schon diejenige findet, die man als die "Schaubühne der Zukunft" ansprechen
dürfte, weil sie als der notwendige Ausdruck der Kultur unserer Zeit erscheint.
Auch das Münchener Künstlertheater scheint mehr den stilisierten Werken einer
vergangenen Epoche den geeigneten Raum zu bieten als denen unserer eigenen Zeit.

Vielleicht ist es aber überhaupt ein Fehler, nur von "der" Schaubühne
der Zukunft zu sprechen. Vielleicht liegt es gerade im Wesen unserer Zeit, die
auf allen Gebieten zur Spezialisierung drängt, daß sie sich bemüht, auch allen
Möglichkeiten für die Gestaltung des Bühnenraumes und der Bühnenplastik in
möglichster Vollzähligkeit gerecht zu werden, daß sie sich nicht bemüht, "die"
Schaubühne, die Universalbühne zu schaffen, sondern daß sie versucht, dem
jeweiligen Stile des Bühnenstückes diejenige Bühne bereitzustellen, die ihn:
angemessen ist: dem idealistisch-stilisierenden Drama das Künstlertheater, dem
naturalistischen Milieudrama die naturalistische Bühne, dem volksmäßigen Spiel
die Freilichtbühne. Und vielleicht wird unsere Zeit auf Grund dieses feinen
Gefühles für den Stil einer Dichtung erst dann die "Schaubühne der Zukunft"
schaffen, wenn das "neue Drama" da ist, das Drama, welches der Ausdruck
unserer neugeschaffenen, eigenen Kultur ist.




Daher belebte sich auch die alte Monumentalität jener Figuren wieder,
als Reinhardt sie in die allseitig freie Zirkusarena stellte. Allerdings bietet der
Zirkus bei weitem nicht dieselben günstigen, ja annähernd gleichen Ramn-
bedingungen für das mittelalterliche Spiel, wie er es für die griechische Tragödie
tat. Aber man darf bei einem solchen Versuche. Vergangenes zu beleben und
wieder anschaulich zu machen, über das, was dabei nicht mehr lebendig geworden
ist, füglich hinwegsehen angesichts dessen, was wieder vor uns ansieht.

Und in der Zirkusaufführung des Spieles von Jedermann wurde die
monumentale Plastik der mittelalterlichen Figuren in einer Weise auf uns
wirksam, der typische Wert und die typische Bedeutung der Handlung in einer
Weise uns nahe gebracht, daß es uns Söhne eines individuellen Zeitalters, das
die Entdeckung der Persönlichkeit und ihres Wertes zu seinen größten Errungen¬
schaften zählt, überwältigend berührte.

Dennoch besitzen diese retrospektiven Versuche Reinhardts mehr Erkenntnis¬
wert, als daß sie Einfluß auf die Gestaltung unserer Gegenwartskultur hätten.
Es fragt sich überhaupt, ob sich unter allen den besprochenen Bühnengestaltungen
schon diejenige findet, die man als die „Schaubühne der Zukunft" ansprechen
dürfte, weil sie als der notwendige Ausdruck der Kultur unserer Zeit erscheint.
Auch das Münchener Künstlertheater scheint mehr den stilisierten Werken einer
vergangenen Epoche den geeigneten Raum zu bieten als denen unserer eigenen Zeit.

Vielleicht ist es aber überhaupt ein Fehler, nur von „der" Schaubühne
der Zukunft zu sprechen. Vielleicht liegt es gerade im Wesen unserer Zeit, die
auf allen Gebieten zur Spezialisierung drängt, daß sie sich bemüht, auch allen
Möglichkeiten für die Gestaltung des Bühnenraumes und der Bühnenplastik in
möglichster Vollzähligkeit gerecht zu werden, daß sie sich nicht bemüht, „die"
Schaubühne, die Universalbühne zu schaffen, sondern daß sie versucht, dem
jeweiligen Stile des Bühnenstückes diejenige Bühne bereitzustellen, die ihn:
angemessen ist: dem idealistisch-stilisierenden Drama das Künstlertheater, dem
naturalistischen Milieudrama die naturalistische Bühne, dem volksmäßigen Spiel
die Freilichtbühne. Und vielleicht wird unsere Zeit auf Grund dieses feinen
Gefühles für den Stil einer Dichtung erst dann die „Schaubühne der Zukunft"
schaffen, wenn das „neue Drama" da ist, das Drama, welches der Ausdruck
unserer neugeschaffenen, eigenen Kultur ist.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/202>, abgerufen am 29.06.2024.