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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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ihre selbständige Plastik verlieren sie aber sofort, sobald sie auf die geschlossene
und umrahmte moderne Bühne treten. Im Raume der modernen Bühne hat
sogar derjenige Teil der griechischen Bühnenfiguren überhaupt nicht Platz, der
am meisten plastisch und in vollster Rundung, nach allen Seiten hin sichtbar
stand: der Chor. Die Sprechbühne der griechischen Einzelschauspieler, das
Logeion, hatte keine absolute vordere Raumgrenze. Das Raumgefühl des
Zuschauers vermochte keine vordere Grenzebene an der Sprechbühne zu fühlen.
Das Entstehen dieser Ebene, der vorderen Grenze der Sprechbühne, wurde
gehindert durch das Fehlen eines geschlossenen Nahmens, vor allem aber dadurch,
daß die Orchestra, der kreisrunde Tanzplatz des Chores, weit und kühn
geschwungen in das Halbrund des Zuschauerraumes hineinragte. Die Choreuten
konnten also nicht nur von vorne, sondern auch von den Seiten, ja sogar schräg
von hinten gesehen werden. Sie standen daher in absoluter, runder Plastik
vor den Augen der Zuschauer und erhielten gegenüber den Figuren der
Einzelschauspieler ein besonderes Gewicht. Denn diese lehnten ihre Plastik noch
immer wenigstens an die Hintergrundebene des Bühnenhauses an. Von einer
solchen Anlehnung findet sich in der Plastik des Chores keine Spur; das deko¬
rative Gewicht aber, das auf diese Weise ihm zufällt, ist durchaus verständlich
und erklärt sich von selber, wenn man an die Entwicklung des griechischen Dramas
ans dem Chöre denkt.

Daß Reinhardt die griechische Tragödie im Zirkus aufgeführt hat, war
ein Beweis dafür, daß er die räumlichen und dekorativen Gesetze der griechischen
Bühne richtig erfaßt hat. Denn kein modernes Gebäude bot ihm räumliche
Bedingungen, die sich dem antiken Theater hätten mehr anpassen können als
der Zirkusrundbau. Und ebenso hatte Reinhardt die wichtige Rolle erfaßt, die
die Plastik des Chores im griechischen Drama spielt, als er ihm die allseitig
sichtbare Arena als "Orchestra" zuwies. Ich glaube, daß es nicht nur die rein
dynamischen und regietcchnischen Werte waren, die dem Chöre im Zirkus eine
solche Wirkung verliehen, daß vielen durch sie erst eine Ahnung davon ver¬
mittelt wurde, was ein griechischer Chor zu bedeuten habe. Der Raum, in dem
sich die Masse befand, ermöglichte es jenen Werten erst, in einer Weise plastisch
und selbständig zum Ausdruck zu kommen, wie wir es auf unserer geschlossenen
Bühne nicht mehr gewohnt sind.

Je mehr nun die Bühnensiguren aus einem begrenzten und jeweilig durch
die Phantasie individuell ausgestatteten Bühnenraume heraustreten, um so mehr
verlieren sie selber an Individualität. Es fällt natürlich alles von ihnen ab,
was der individuell ausgestattete Raum selbst zu ihrer Individualisierung und
Charakterisierung beitragen könnte. Sie werden ja aus der Umgebung, die mit
ihnen in engster Wechselbeziehung steht, die sie bedingt und von ihnen bedingt
wird, ans ihrem Milieu herausgenommen und in den allseitig freien Raum
gestellt, der für unsere gestaltende Phantasie gar keine Anhaltspunkte gibt, das
"Nichts" ist. Es ist kein Zufall, daß die individuellen Figuren der griechischen


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ihre selbständige Plastik verlieren sie aber sofort, sobald sie auf die geschlossene
und umrahmte moderne Bühne treten. Im Raume der modernen Bühne hat
sogar derjenige Teil der griechischen Bühnenfiguren überhaupt nicht Platz, der
am meisten plastisch und in vollster Rundung, nach allen Seiten hin sichtbar
stand: der Chor. Die Sprechbühne der griechischen Einzelschauspieler, das
Logeion, hatte keine absolute vordere Raumgrenze. Das Raumgefühl des
Zuschauers vermochte keine vordere Grenzebene an der Sprechbühne zu fühlen.
Das Entstehen dieser Ebene, der vorderen Grenze der Sprechbühne, wurde
gehindert durch das Fehlen eines geschlossenen Nahmens, vor allem aber dadurch,
daß die Orchestra, der kreisrunde Tanzplatz des Chores, weit und kühn
geschwungen in das Halbrund des Zuschauerraumes hineinragte. Die Choreuten
konnten also nicht nur von vorne, sondern auch von den Seiten, ja sogar schräg
von hinten gesehen werden. Sie standen daher in absoluter, runder Plastik
vor den Augen der Zuschauer und erhielten gegenüber den Figuren der
Einzelschauspieler ein besonderes Gewicht. Denn diese lehnten ihre Plastik noch
immer wenigstens an die Hintergrundebene des Bühnenhauses an. Von einer
solchen Anlehnung findet sich in der Plastik des Chores keine Spur; das deko¬
rative Gewicht aber, das auf diese Weise ihm zufällt, ist durchaus verständlich
und erklärt sich von selber, wenn man an die Entwicklung des griechischen Dramas
ans dem Chöre denkt.

Daß Reinhardt die griechische Tragödie im Zirkus aufgeführt hat, war
ein Beweis dafür, daß er die räumlichen und dekorativen Gesetze der griechischen
Bühne richtig erfaßt hat. Denn kein modernes Gebäude bot ihm räumliche
Bedingungen, die sich dem antiken Theater hätten mehr anpassen können als
der Zirkusrundbau. Und ebenso hatte Reinhardt die wichtige Rolle erfaßt, die
die Plastik des Chores im griechischen Drama spielt, als er ihm die allseitig
sichtbare Arena als „Orchestra" zuwies. Ich glaube, daß es nicht nur die rein
dynamischen und regietcchnischen Werte waren, die dem Chöre im Zirkus eine
solche Wirkung verliehen, daß vielen durch sie erst eine Ahnung davon ver¬
mittelt wurde, was ein griechischer Chor zu bedeuten habe. Der Raum, in dem
sich die Masse befand, ermöglichte es jenen Werten erst, in einer Weise plastisch
und selbständig zum Ausdruck zu kommen, wie wir es auf unserer geschlossenen
Bühne nicht mehr gewohnt sind.

Je mehr nun die Bühnensiguren aus einem begrenzten und jeweilig durch
die Phantasie individuell ausgestatteten Bühnenraume heraustreten, um so mehr
verlieren sie selber an Individualität. Es fällt natürlich alles von ihnen ab,
was der individuell ausgestattete Raum selbst zu ihrer Individualisierung und
Charakterisierung beitragen könnte. Sie werden ja aus der Umgebung, die mit
ihnen in engster Wechselbeziehung steht, die sie bedingt und von ihnen bedingt
wird, ans ihrem Milieu herausgenommen und in den allseitig freien Raum
gestellt, der für unsere gestaltende Phantasie gar keine Anhaltspunkte gibt, das
„Nichts" ist. Es ist kein Zufall, daß die individuellen Figuren der griechischen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/200>, abgerufen am 01.07.2024.