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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Bnhneiiplastik und Bühnenraum

Der lyrische Zug in der Gestaltung des Bühnenbildes und des Bühnen¬
raumes brachte aber eine neue Gefahr für die Plastik der Figuren und damit
für die Bühnendichtung. Durch die Betonung von Licht- und Farbenwerten
im Bühnenbilde wird dieses malerisch gestaltet, nicht plastisch; die flächenhaften
Reize erhalten das Übergewicht über das Dreidimensionale. Die Phantasie
vermag sich die Andeutungen für das Detail und die Raumgestaltung nicht
mehr plastisch auszugestalten, sondern wird durch die Betonung jener Stimmungs¬
werte in den Einzelheiten gezwungen, bei ihnen zu verweilen, sie kommt über
sie und ihre Flächenhaftigkeit nicht hinaus. Daher stellt sich die Notwendigkeit
heraus, die Figuren dem unplastisch und flächenhaft gewordenen Hintergrunde
anzupassen, ihre Plastik flacher zu gestalten. Die letzte Station dieser Ent¬
wicklung ist die Pantomime. Es ist bezeichnend, daß auch sie der Bühne
Reinhardts nicht fremd geblieben ist.

Den Rückschlag gegen diese Entartungsformen der modernen Bühne bildet
das Münchener Künstlertheater. Es versucht die überwuchernden plastischen
Einzelheiten wieder auszumerzen und durch allgemeine und einfache Andeutungen
für die Phantasie zu ergänzen. Es versucht, der Plastik der Bühnenfiguren
wieder zu ihrem Rechte zu verhelfen, und stellt sie wieder beherrschend und fast
ohne alles plastische Nebenwerk streng dekorativ in den knappen und eng
umgrenzten Bühnenraum. Dennoch kann man diese Bühne nicht als einen
historisch gerichteten Versuch ansehen, man kann nicht etwa sagen, sie habe die
Entwicklung der modernen Bühnenplastik zurückgeschraubt. Sie stellt uns viel¬
mehr die dekorativen Beziehungen, die zwischen der Plastik der Bühnenfiguren
und dem Bühnenraum herrschen, in einer reinen Abstraktion, in so absoluter
Stilisierung dar, wie es die alte Kulissenbühne nie getan hat.

Es ist nicht zu verwundern, daß die lyrisch-naturalistische Kunst Reinhardts
auf diesen: Prototyp einer stilisierten Bühne bald Schiffbruch gelitten hat.

Dagegen muß man anerkennen, daß derselbe Reinhardt ein feines Gefühl
für die dekorativen Gesetze historischer Epochen bewiesen hat, als er darauf ver¬
zichtete, das antike Drama und das mittelalterliche Mysterium im modernen
geschlossenen Theater aufzuführen, und beide lieber in den Zirkus brachte. Man
hätte den Spott und die Angriffe, die ihm zuteil geworden sind, mindestens
schon deswegen etwas einschränken sollen, weil er uns durch seine Experimente
die Gelegenheit geboten hat. die Wirkung jener dekorativen Gesetze einmal im
freien Bühnenraum zu studieren.

Eine griechische Tragödie auf den: modernen geschlossenen Theater auf¬
führen, das heißt in der Tat, einem Kunstwerk Zwang antun. Denn die antike
Bühne war ja kein allseitig geschlossener, kein nur auf Vorderansicht orientierter,
vor allem kein umrahmter Raum, Daher bewegten sich auf ihr die plastischen
Figuren des Dramas viel freier, sie standen nicht so sehr unter der Herrschaft
des Raumes und wirkten weniger als Naumfüllung. Sie standen in selbst¬
ständiger Plastik da und hoben sich nur von einem Hintergrunde ab. Diese


Bnhneiiplastik und Bühnenraum

Der lyrische Zug in der Gestaltung des Bühnenbildes und des Bühnen¬
raumes brachte aber eine neue Gefahr für die Plastik der Figuren und damit
für die Bühnendichtung. Durch die Betonung von Licht- und Farbenwerten
im Bühnenbilde wird dieses malerisch gestaltet, nicht plastisch; die flächenhaften
Reize erhalten das Übergewicht über das Dreidimensionale. Die Phantasie
vermag sich die Andeutungen für das Detail und die Raumgestaltung nicht
mehr plastisch auszugestalten, sondern wird durch die Betonung jener Stimmungs¬
werte in den Einzelheiten gezwungen, bei ihnen zu verweilen, sie kommt über
sie und ihre Flächenhaftigkeit nicht hinaus. Daher stellt sich die Notwendigkeit
heraus, die Figuren dem unplastisch und flächenhaft gewordenen Hintergrunde
anzupassen, ihre Plastik flacher zu gestalten. Die letzte Station dieser Ent¬
wicklung ist die Pantomime. Es ist bezeichnend, daß auch sie der Bühne
Reinhardts nicht fremd geblieben ist.

Den Rückschlag gegen diese Entartungsformen der modernen Bühne bildet
das Münchener Künstlertheater. Es versucht die überwuchernden plastischen
Einzelheiten wieder auszumerzen und durch allgemeine und einfache Andeutungen
für die Phantasie zu ergänzen. Es versucht, der Plastik der Bühnenfiguren
wieder zu ihrem Rechte zu verhelfen, und stellt sie wieder beherrschend und fast
ohne alles plastische Nebenwerk streng dekorativ in den knappen und eng
umgrenzten Bühnenraum. Dennoch kann man diese Bühne nicht als einen
historisch gerichteten Versuch ansehen, man kann nicht etwa sagen, sie habe die
Entwicklung der modernen Bühnenplastik zurückgeschraubt. Sie stellt uns viel¬
mehr die dekorativen Beziehungen, die zwischen der Plastik der Bühnenfiguren
und dem Bühnenraum herrschen, in einer reinen Abstraktion, in so absoluter
Stilisierung dar, wie es die alte Kulissenbühne nie getan hat.

Es ist nicht zu verwundern, daß die lyrisch-naturalistische Kunst Reinhardts
auf diesen: Prototyp einer stilisierten Bühne bald Schiffbruch gelitten hat.

Dagegen muß man anerkennen, daß derselbe Reinhardt ein feines Gefühl
für die dekorativen Gesetze historischer Epochen bewiesen hat, als er darauf ver¬
zichtete, das antike Drama und das mittelalterliche Mysterium im modernen
geschlossenen Theater aufzuführen, und beide lieber in den Zirkus brachte. Man
hätte den Spott und die Angriffe, die ihm zuteil geworden sind, mindestens
schon deswegen etwas einschränken sollen, weil er uns durch seine Experimente
die Gelegenheit geboten hat. die Wirkung jener dekorativen Gesetze einmal im
freien Bühnenraum zu studieren.

Eine griechische Tragödie auf den: modernen geschlossenen Theater auf¬
führen, das heißt in der Tat, einem Kunstwerk Zwang antun. Denn die antike
Bühne war ja kein allseitig geschlossener, kein nur auf Vorderansicht orientierter,
vor allem kein umrahmter Raum, Daher bewegten sich auf ihr die plastischen
Figuren des Dramas viel freier, sie standen nicht so sehr unter der Herrschaft
des Raumes und wirkten weniger als Naumfüllung. Sie standen in selbst¬
ständiger Plastik da und hoben sich nur von einem Hintergrunde ab. Diese


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[0199] Bnhneiiplastik und Bühnenraum Der lyrische Zug in der Gestaltung des Bühnenbildes und des Bühnen¬ raumes brachte aber eine neue Gefahr für die Plastik der Figuren und damit für die Bühnendichtung. Durch die Betonung von Licht- und Farbenwerten im Bühnenbilde wird dieses malerisch gestaltet, nicht plastisch; die flächenhaften Reize erhalten das Übergewicht über das Dreidimensionale. Die Phantasie vermag sich die Andeutungen für das Detail und die Raumgestaltung nicht mehr plastisch auszugestalten, sondern wird durch die Betonung jener Stimmungs¬ werte in den Einzelheiten gezwungen, bei ihnen zu verweilen, sie kommt über sie und ihre Flächenhaftigkeit nicht hinaus. Daher stellt sich die Notwendigkeit heraus, die Figuren dem unplastisch und flächenhaft gewordenen Hintergrunde anzupassen, ihre Plastik flacher zu gestalten. Die letzte Station dieser Ent¬ wicklung ist die Pantomime. Es ist bezeichnend, daß auch sie der Bühne Reinhardts nicht fremd geblieben ist. Den Rückschlag gegen diese Entartungsformen der modernen Bühne bildet das Münchener Künstlertheater. Es versucht die überwuchernden plastischen Einzelheiten wieder auszumerzen und durch allgemeine und einfache Andeutungen für die Phantasie zu ergänzen. Es versucht, der Plastik der Bühnenfiguren wieder zu ihrem Rechte zu verhelfen, und stellt sie wieder beherrschend und fast ohne alles plastische Nebenwerk streng dekorativ in den knappen und eng umgrenzten Bühnenraum. Dennoch kann man diese Bühne nicht als einen historisch gerichteten Versuch ansehen, man kann nicht etwa sagen, sie habe die Entwicklung der modernen Bühnenplastik zurückgeschraubt. Sie stellt uns viel¬ mehr die dekorativen Beziehungen, die zwischen der Plastik der Bühnenfiguren und dem Bühnenraum herrschen, in einer reinen Abstraktion, in so absoluter Stilisierung dar, wie es die alte Kulissenbühne nie getan hat. Es ist nicht zu verwundern, daß die lyrisch-naturalistische Kunst Reinhardts auf diesen: Prototyp einer stilisierten Bühne bald Schiffbruch gelitten hat. Dagegen muß man anerkennen, daß derselbe Reinhardt ein feines Gefühl für die dekorativen Gesetze historischer Epochen bewiesen hat, als er darauf ver¬ zichtete, das antike Drama und das mittelalterliche Mysterium im modernen geschlossenen Theater aufzuführen, und beide lieber in den Zirkus brachte. Man hätte den Spott und die Angriffe, die ihm zuteil geworden sind, mindestens schon deswegen etwas einschränken sollen, weil er uns durch seine Experimente die Gelegenheit geboten hat. die Wirkung jener dekorativen Gesetze einmal im freien Bühnenraum zu studieren. Eine griechische Tragödie auf den: modernen geschlossenen Theater auf¬ führen, das heißt in der Tat, einem Kunstwerk Zwang antun. Denn die antike Bühne war ja kein allseitig geschlossener, kein nur auf Vorderansicht orientierter, vor allem kein umrahmter Raum, Daher bewegten sich auf ihr die plastischen Figuren des Dramas viel freier, sie standen nicht so sehr unter der Herrschaft des Raumes und wirkten weniger als Naumfüllung. Sie standen in selbst¬ ständiger Plastik da und hoben sich nur von einem Hintergrunde ab. Diese

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/199>, abgerufen am 29.06.2024.