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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Vor Zvicsenzaun

und schauerlich aus zerfallenen Mauern herausgeschlüpft, viel hundert totbleiche
Kinder waren es, von gespenstischen Matronen geführt, und alle zogen sie
schweigend mit schleppenden Schritten an uns vorbei. Und plötzlich, als sie
seitab auf eine Wiese gekommen waren, da warfen sie sich nieder, groß und
klein und rauften mit gierigen Fingern Gras und Getränke und schlangen es
in Hungers Qual hinab, dem lieben Vieh vergleichbar. Gedenkt Ihr noch?
Ihr brandet bei diesem Anblick im Liede jählings ab und weintet laut, und
auch wir anderen weinten alle mit. Und solchem Greuel, den der Krieg uns
bringt und immer bringen wird, seid Ihr noch gewogen, Jörg? Noch immer
singt Ihr gern von Euren Landsknechtstagen? Ward Euch vom Segen des
Humanismus keine Kunde und vom Morgenrot einer milderen Zeit?"

Die Brust des blinden Niesen wogte gewaltig. Erinnerung bedrängte ihn,
und schmerzlich Verworrenes rang nach Klarheit. Dann aber riß es ihn mächtig
empor, und mit erhobenen Fäusten rief er:

"So solltet Ihr nit sprechen, der Ihr unser Feldherr wart, Herr Pirk-
heimer! Wer je den Brüdern Treu geschworen in Sturm und Not, wo Herz
an Herz geklopft im Fähnlein, Spieß an Spieß, indes die Trummeln lärmten
und die Pfeifen schrien, und wußt ein jeder: Mord und Brand, der Feind, der
ist vorhanden! -- und dann den Staub von Schuh und Wams geschüttelt --
drauf und dran! -- wer je ein frummer Knecht gewesen nach rechtem Regi¬
ment, dem liegt nichts anderes mehr im Sinn, er bleibt für alle Welt verloren
außer dem!"

Und nun, als hätte er alles um sich herum vergessen, tappte der Blinde
nach seiner Laute, die in der Ecke hing und stellte sich, wie er es wohl in den
Höfen und Schenken der Stadt gewohnt war, breitspurig inmitten des Zimmers
hin und begann mit schallender Stimme ein selbstersonnenes Landsknechtslied zu
singen, wobei er seinem Saitenspiel in grimmiger Weise ein schnarrendes
Trommeln entlockte:

Das war ein grausam stürmisches Lied, ganz ohne Wortgezier und Reim-
geprunke und doch ergreifend in seiner wahrhaftigen Nacktheit, Schlag für
Schlag. Vom Landsknecht sang der Blinde, der keine Zeit zu fasten und zu
beten habe, dagegen im Schnee und Regen springen oder lagern müsse und
dem kein Land zu weit sei, wenn es dort einem günstigen Herrn zu dienen
gelte, mit Spieß und Helleparten. Und eine grüne Heide ist das Buch des
Gerichtes, doch wird das Urteil fürchterlich geschrieben, bis daß das Blut die
Schuh' durchrinnt. Dann hebt die Klage an der treuen Frauen, und jede, die
den Mann erschlagen findt, zeigt bald sich eines andern wert, damit der Tote
ihrer sich nicht zu schämen brauche.


Vor Zvicsenzaun

und schauerlich aus zerfallenen Mauern herausgeschlüpft, viel hundert totbleiche
Kinder waren es, von gespenstischen Matronen geführt, und alle zogen sie
schweigend mit schleppenden Schritten an uns vorbei. Und plötzlich, als sie
seitab auf eine Wiese gekommen waren, da warfen sie sich nieder, groß und
klein und rauften mit gierigen Fingern Gras und Getränke und schlangen es
in Hungers Qual hinab, dem lieben Vieh vergleichbar. Gedenkt Ihr noch?
Ihr brandet bei diesem Anblick im Liede jählings ab und weintet laut, und
auch wir anderen weinten alle mit. Und solchem Greuel, den der Krieg uns
bringt und immer bringen wird, seid Ihr noch gewogen, Jörg? Noch immer
singt Ihr gern von Euren Landsknechtstagen? Ward Euch vom Segen des
Humanismus keine Kunde und vom Morgenrot einer milderen Zeit?"

Die Brust des blinden Niesen wogte gewaltig. Erinnerung bedrängte ihn,
und schmerzlich Verworrenes rang nach Klarheit. Dann aber riß es ihn mächtig
empor, und mit erhobenen Fäusten rief er:

„So solltet Ihr nit sprechen, der Ihr unser Feldherr wart, Herr Pirk-
heimer! Wer je den Brüdern Treu geschworen in Sturm und Not, wo Herz
an Herz geklopft im Fähnlein, Spieß an Spieß, indes die Trummeln lärmten
und die Pfeifen schrien, und wußt ein jeder: Mord und Brand, der Feind, der
ist vorhanden! — und dann den Staub von Schuh und Wams geschüttelt —
drauf und dran! — wer je ein frummer Knecht gewesen nach rechtem Regi¬
ment, dem liegt nichts anderes mehr im Sinn, er bleibt für alle Welt verloren
außer dem!"

Und nun, als hätte er alles um sich herum vergessen, tappte der Blinde
nach seiner Laute, die in der Ecke hing und stellte sich, wie er es wohl in den
Höfen und Schenken der Stadt gewohnt war, breitspurig inmitten des Zimmers
hin und begann mit schallender Stimme ein selbstersonnenes Landsknechtslied zu
singen, wobei er seinem Saitenspiel in grimmiger Weise ein schnarrendes
Trommeln entlockte:

Das war ein grausam stürmisches Lied, ganz ohne Wortgezier und Reim-
geprunke und doch ergreifend in seiner wahrhaftigen Nacktheit, Schlag für
Schlag. Vom Landsknecht sang der Blinde, der keine Zeit zu fasten und zu
beten habe, dagegen im Schnee und Regen springen oder lagern müsse und
dem kein Land zu weit sei, wenn es dort einem günstigen Herrn zu dienen
gelte, mit Spieß und Helleparten. Und eine grüne Heide ist das Buch des
Gerichtes, doch wird das Urteil fürchterlich geschrieben, bis daß das Blut die
Schuh' durchrinnt. Dann hebt die Klage an der treuen Frauen, und jede, die
den Mann erschlagen findt, zeigt bald sich eines andern wert, damit der Tote
ihrer sich nicht zu schämen brauche.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/193>, abgerufen am 29.06.2024.