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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Reich-spiegel

lediglich die sogenannte mi88a solitarm, das Lesen von Primizmessen, soweit
dabei der Charakter eines Familienfestes gewahrt bleibe, das Lesen stiller
Messen, sowie die Austeilung der Sterbesakramente. Als verbotene Ordens¬
tätigkeit sei weiterhin, entsprechend der Entscheidung des Oberverwaltungs¬
gerichts vom 8. Mai 1900, auch das Halten von religiös-wissenschaftlichen
Vorträgen durch Jesuiten anzusehen. Unter die hiernach verbotene Ordens¬
tätigkeit fallen selbstverständlich auch die sogenannten Konferenzvorträge und
alle priesterlichen Handlungen, die zum Zweck vorübergehender Aushilfe in der
Seelsorge vorgenommen werden. In Preußen ist stets daran festgehalten, daß
zwischen der Ordenstätigkeit der Jesuiten und anderen priesterlichen Funktionen
derselben ein Unterschied nicht zu machen sei."

Die Ultramontanen haben natürlich nicht gezögert, die liberale Auffassung
der Regierungen nach Kräften auszunutzen, und sie gingen in Bayern schließlich
soweit, daß der durchaus zentrumsfreundliche Kultusminister von Wehner
sich im August 1911 veranlaßt sah, einen Erlaß an die Kreisregierung von
Oberbayern zu richten, der dem gefährlichen Treiben der Jesuiten Einhalt
gebieten sollte. In diesem Erlaß wurde "in Übereinstimmung mit der Praxis
der übrigen größeren Bundesstaaten" daraus hingewiesen, "daß lediglich das
Lesen einer stillen Messe oder die Abhaltung von wissenschaftlichen oder religiösen
Vorträgen außerhalb kirchlicher Räume als erlaubt anzusehen sind, daß also --
von Notfällen abgesehen -- jede seelsorgerische Tätigkeit, namentlich auch die
Abhaltung von Exerzitien und die Übernahme religiöser Vorträge in der Kirche,
in das Gebiet der verbotenen Ordenstätigkeit falle."

Gegen Ende des Jahres 1911, nach der Kammerauflösung, wurde der
Erlaß durch die Zentrumspresse weiteren Kreisen bekannt gegeben und als ein
Angriff auf die katholische Kirche zur Wahlagitation ausgenutzt. Soweit war
alles in Ordnung, bis Ende März dieses Jahres plötzlich ein neuer vom
Minister des Innern und Kultusminister gezeichneter Erlaß bekannt wurde, der,
zur vertraulichen Mitteilung an die Pfarrämter bestimmt, an die Kreisregierungen
gerichtet war. Dieser Erlaß hebt nicht nur die Erinnerungen Wehners auf,
sondern gibt den Behörden die Wege an, auf denen das Neichsgesetz am
leichtesten umgangen werden könnte!

Man muß schon mit den Feinheiten der einschlägigen Gesetzgebung und der
dazugehörigen Terminologie sehr eingehend vertraut sein, um die ganze Be¬
deutung des Erlasses ermessen zu können. In der Frankfurter Zeitung
schreibt ein Kundiger:

Nach demi neuen Erlas; sollen unter die verbotene Ordenstätigkeit nicht mehr die
sogenannten Konferenzen mit Vorträgen und Sakramentsspendungen sollen, sondern nur noch
die wirklichen Missionen. Der Unterschied zwischen Konferenzen und Missionen besteht darin,
daß unter Konferenzen religiöse Vorträge spezieller Tendenz, beispielsweise apologetischen und
ethischen Inhalts, verstanden werden, unter Misstonen dagegen eine Reihe von Vorträgen,
die nach dem Schema der Ererzitien des Ignatius von Loyola aufgebaut sind und die
religiöse Bekehrung im allgemeinen zur Aufgabe haben. Der Unterschied zwischen beiden


Reich-spiegel

lediglich die sogenannte mi88a solitarm, das Lesen von Primizmessen, soweit
dabei der Charakter eines Familienfestes gewahrt bleibe, das Lesen stiller
Messen, sowie die Austeilung der Sterbesakramente. Als verbotene Ordens¬
tätigkeit sei weiterhin, entsprechend der Entscheidung des Oberverwaltungs¬
gerichts vom 8. Mai 1900, auch das Halten von religiös-wissenschaftlichen
Vorträgen durch Jesuiten anzusehen. Unter die hiernach verbotene Ordens¬
tätigkeit fallen selbstverständlich auch die sogenannten Konferenzvorträge und
alle priesterlichen Handlungen, die zum Zweck vorübergehender Aushilfe in der
Seelsorge vorgenommen werden. In Preußen ist stets daran festgehalten, daß
zwischen der Ordenstätigkeit der Jesuiten und anderen priesterlichen Funktionen
derselben ein Unterschied nicht zu machen sei."

Die Ultramontanen haben natürlich nicht gezögert, die liberale Auffassung
der Regierungen nach Kräften auszunutzen, und sie gingen in Bayern schließlich
soweit, daß der durchaus zentrumsfreundliche Kultusminister von Wehner
sich im August 1911 veranlaßt sah, einen Erlaß an die Kreisregierung von
Oberbayern zu richten, der dem gefährlichen Treiben der Jesuiten Einhalt
gebieten sollte. In diesem Erlaß wurde „in Übereinstimmung mit der Praxis
der übrigen größeren Bundesstaaten" daraus hingewiesen, „daß lediglich das
Lesen einer stillen Messe oder die Abhaltung von wissenschaftlichen oder religiösen
Vorträgen außerhalb kirchlicher Räume als erlaubt anzusehen sind, daß also —
von Notfällen abgesehen — jede seelsorgerische Tätigkeit, namentlich auch die
Abhaltung von Exerzitien und die Übernahme religiöser Vorträge in der Kirche,
in das Gebiet der verbotenen Ordenstätigkeit falle."

Gegen Ende des Jahres 1911, nach der Kammerauflösung, wurde der
Erlaß durch die Zentrumspresse weiteren Kreisen bekannt gegeben und als ein
Angriff auf die katholische Kirche zur Wahlagitation ausgenutzt. Soweit war
alles in Ordnung, bis Ende März dieses Jahres plötzlich ein neuer vom
Minister des Innern und Kultusminister gezeichneter Erlaß bekannt wurde, der,
zur vertraulichen Mitteilung an die Pfarrämter bestimmt, an die Kreisregierungen
gerichtet war. Dieser Erlaß hebt nicht nur die Erinnerungen Wehners auf,
sondern gibt den Behörden die Wege an, auf denen das Neichsgesetz am
leichtesten umgangen werden könnte!

Man muß schon mit den Feinheiten der einschlägigen Gesetzgebung und der
dazugehörigen Terminologie sehr eingehend vertraut sein, um die ganze Be¬
deutung des Erlasses ermessen zu können. In der Frankfurter Zeitung
schreibt ein Kundiger:

Nach demi neuen Erlas; sollen unter die verbotene Ordenstätigkeit nicht mehr die
sogenannten Konferenzen mit Vorträgen und Sakramentsspendungen sollen, sondern nur noch
die wirklichen Missionen. Der Unterschied zwischen Konferenzen und Missionen besteht darin,
daß unter Konferenzen religiöse Vorträge spezieller Tendenz, beispielsweise apologetischen und
ethischen Inhalts, verstanden werden, unter Misstonen dagegen eine Reihe von Vorträgen,
die nach dem Schema der Ererzitien des Ignatius von Loyola aufgebaut sind und die
religiöse Bekehrung im allgemeinen zur Aufgabe haben. Der Unterschied zwischen beiden


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[0159] Reich-spiegel lediglich die sogenannte mi88a solitarm, das Lesen von Primizmessen, soweit dabei der Charakter eines Familienfestes gewahrt bleibe, das Lesen stiller Messen, sowie die Austeilung der Sterbesakramente. Als verbotene Ordens¬ tätigkeit sei weiterhin, entsprechend der Entscheidung des Oberverwaltungs¬ gerichts vom 8. Mai 1900, auch das Halten von religiös-wissenschaftlichen Vorträgen durch Jesuiten anzusehen. Unter die hiernach verbotene Ordens¬ tätigkeit fallen selbstverständlich auch die sogenannten Konferenzvorträge und alle priesterlichen Handlungen, die zum Zweck vorübergehender Aushilfe in der Seelsorge vorgenommen werden. In Preußen ist stets daran festgehalten, daß zwischen der Ordenstätigkeit der Jesuiten und anderen priesterlichen Funktionen derselben ein Unterschied nicht zu machen sei." Die Ultramontanen haben natürlich nicht gezögert, die liberale Auffassung der Regierungen nach Kräften auszunutzen, und sie gingen in Bayern schließlich soweit, daß der durchaus zentrumsfreundliche Kultusminister von Wehner sich im August 1911 veranlaßt sah, einen Erlaß an die Kreisregierung von Oberbayern zu richten, der dem gefährlichen Treiben der Jesuiten Einhalt gebieten sollte. In diesem Erlaß wurde „in Übereinstimmung mit der Praxis der übrigen größeren Bundesstaaten" daraus hingewiesen, „daß lediglich das Lesen einer stillen Messe oder die Abhaltung von wissenschaftlichen oder religiösen Vorträgen außerhalb kirchlicher Räume als erlaubt anzusehen sind, daß also — von Notfällen abgesehen — jede seelsorgerische Tätigkeit, namentlich auch die Abhaltung von Exerzitien und die Übernahme religiöser Vorträge in der Kirche, in das Gebiet der verbotenen Ordenstätigkeit falle." Gegen Ende des Jahres 1911, nach der Kammerauflösung, wurde der Erlaß durch die Zentrumspresse weiteren Kreisen bekannt gegeben und als ein Angriff auf die katholische Kirche zur Wahlagitation ausgenutzt. Soweit war alles in Ordnung, bis Ende März dieses Jahres plötzlich ein neuer vom Minister des Innern und Kultusminister gezeichneter Erlaß bekannt wurde, der, zur vertraulichen Mitteilung an die Pfarrämter bestimmt, an die Kreisregierungen gerichtet war. Dieser Erlaß hebt nicht nur die Erinnerungen Wehners auf, sondern gibt den Behörden die Wege an, auf denen das Neichsgesetz am leichtesten umgangen werden könnte! Man muß schon mit den Feinheiten der einschlägigen Gesetzgebung und der dazugehörigen Terminologie sehr eingehend vertraut sein, um die ganze Be¬ deutung des Erlasses ermessen zu können. In der Frankfurter Zeitung schreibt ein Kundiger: Nach demi neuen Erlas; sollen unter die verbotene Ordenstätigkeit nicht mehr die sogenannten Konferenzen mit Vorträgen und Sakramentsspendungen sollen, sondern nur noch die wirklichen Missionen. Der Unterschied zwischen Konferenzen und Missionen besteht darin, daß unter Konferenzen religiöse Vorträge spezieller Tendenz, beispielsweise apologetischen und ethischen Inhalts, verstanden werden, unter Misstonen dagegen eine Reihe von Vorträgen, die nach dem Schema der Ererzitien des Ignatius von Loyola aufgebaut sind und die religiöse Bekehrung im allgemeinen zur Aufgabe haben. Der Unterschied zwischen beiden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/159>, abgerufen am 29.06.2024.