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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Das Problem der Wahlreform in Ungarn

Einer aber erfaßte die Lage: Graf Khuens Vetter Graf Stefan Tisza. Er
dachte sich: dieser Khuen ist ein energischer Mensch und hätte das Zeug in sich,
Wehrreform und Wahlreform mit irgendeinem Gewaltstreich durchzuführen. Es
ist besser, sich mit ihm zu verbünden, die Wehrresorm, auf der die Krone nun
einmal besteht, zu schlucken, dafür die Wahlreform aber zu verhindern. So
stellte sich Stefan Tisza Khuen zur Verfügung und wurde der eigentliche Führer
der neuen Regierungspartei, der Graf Khuen nach Auflösung des Abgeordneten¬
hauses unter Aufwendung ganz enormer Mittel (man spricht davon, daß Banken
und Finanzleute über 25 Millionen Kronen für den Wahlfonds beizusteuern
veranlaßt wurden) zu einem glänzenden Siege verholfen hatte. Die Opposition
war wieder einmal "zerschmettert", überdies die Unabhängigkeitspartei in zwei
Gruppen gespalten, von denen die eine Franz Kossuth, die andere Justs folgt.
Der Grund der Spaltung war die Frage des Wahlrechts gewesen; Justs tritt
nachdrücklich für das gleiche, allgemeine und geheime Wahlrecht ein, das Kossuth
und Graf Apponyi ablehnen.

Die Stellungnahme Jusths erscheint zunächst als ein Rätsel. Wie kommt
er, der magyarische Nationalist reinsten Wassers, dazu, für ein Wahlrecht ein¬
zutreten, das die magyarische Suprematie aufs schwerste bedroht? Die nächste
Erklärung wäre vielleicht die, daß er es eben gar nicht ernst damit meine und
seine Zustimmung auch nur einem sehr verwässerten Wahlrecht geben werde,
das den Magyaren nicht gefährlich werden könne. Das mag so weit zutreffen,
daß Justs gewiß Änderungen zugunsten des Magyarentums fordern wird: eine
Wählrechtserweiterung, vor allem eine Sicherung der Wahlfreiheit, die aber
ohne nachteilige Wirkung für die herrschende Stellung des Magyarentums sein
würde, wäre eine solche Karikatur, daß Justs dafür nicht eintreten könnte, ohne
sich lächerlich zu machen. Justs ist vielleicht kein sehr scharf denkender Kopf,
im ungarischen Parlament bildet er aber jedenfalls eine Oase der Anständigkeit
und Ehrlichkeit. Er will also sicherlich eine Wahlreform, die auch den nicht¬
magyarischen Nationalitäten Aussicht verschafft, im Reichstag halbwegs angemessen
vertreten zu sein; er steht die darin für das Magyarentum liegende Gefahr, er
hält dies aber für ein geringeres Übel als das jetzige System, das es der
Regierung ermöglicht zu bestimmen, wieviel Sitze sie der Opposition überhaupt
einräumen will. Das ist einfach eine Frage des Geldes, des aufgebotenen
Militärs und des von den Verwaltungsbehörden bethätigten Maßes von Skrupel¬
losikeit. Und da sagt sich Justs: Tisza und vielleicht sogar Khuen denken im
Herzen nicht viel anders als ich selbst; sie wollen auf ihren Wegen und mit
ihren Mitteln die Wahrung und Erweiterung der staatlichen Selbständigkeit
Ungarns. Aber nach demselben Rezept, nach dem Graf Khuen jetzt bei den
Wahlen eine überwältigende Mehrheit zusammengebracht hat, könnte irgend-
einmal im Auftrage des Monarchen ein Ministerpräsident eine noch viel stärkere
Mehrheit wühlen lassen, er könnte von uns, die wir diesmal doch wenigstens
vierzig übriggeblieben sind -- genug, um wirksame Obstruktion zu machen --,


Das Problem der Wahlreform in Ungarn

Einer aber erfaßte die Lage: Graf Khuens Vetter Graf Stefan Tisza. Er
dachte sich: dieser Khuen ist ein energischer Mensch und hätte das Zeug in sich,
Wehrreform und Wahlreform mit irgendeinem Gewaltstreich durchzuführen. Es
ist besser, sich mit ihm zu verbünden, die Wehrresorm, auf der die Krone nun
einmal besteht, zu schlucken, dafür die Wahlreform aber zu verhindern. So
stellte sich Stefan Tisza Khuen zur Verfügung und wurde der eigentliche Führer
der neuen Regierungspartei, der Graf Khuen nach Auflösung des Abgeordneten¬
hauses unter Aufwendung ganz enormer Mittel (man spricht davon, daß Banken
und Finanzleute über 25 Millionen Kronen für den Wahlfonds beizusteuern
veranlaßt wurden) zu einem glänzenden Siege verholfen hatte. Die Opposition
war wieder einmal „zerschmettert", überdies die Unabhängigkeitspartei in zwei
Gruppen gespalten, von denen die eine Franz Kossuth, die andere Justs folgt.
Der Grund der Spaltung war die Frage des Wahlrechts gewesen; Justs tritt
nachdrücklich für das gleiche, allgemeine und geheime Wahlrecht ein, das Kossuth
und Graf Apponyi ablehnen.

Die Stellungnahme Jusths erscheint zunächst als ein Rätsel. Wie kommt
er, der magyarische Nationalist reinsten Wassers, dazu, für ein Wahlrecht ein¬
zutreten, das die magyarische Suprematie aufs schwerste bedroht? Die nächste
Erklärung wäre vielleicht die, daß er es eben gar nicht ernst damit meine und
seine Zustimmung auch nur einem sehr verwässerten Wahlrecht geben werde,
das den Magyaren nicht gefährlich werden könne. Das mag so weit zutreffen,
daß Justs gewiß Änderungen zugunsten des Magyarentums fordern wird: eine
Wählrechtserweiterung, vor allem eine Sicherung der Wahlfreiheit, die aber
ohne nachteilige Wirkung für die herrschende Stellung des Magyarentums sein
würde, wäre eine solche Karikatur, daß Justs dafür nicht eintreten könnte, ohne
sich lächerlich zu machen. Justs ist vielleicht kein sehr scharf denkender Kopf,
im ungarischen Parlament bildet er aber jedenfalls eine Oase der Anständigkeit
und Ehrlichkeit. Er will also sicherlich eine Wahlreform, die auch den nicht¬
magyarischen Nationalitäten Aussicht verschafft, im Reichstag halbwegs angemessen
vertreten zu sein; er steht die darin für das Magyarentum liegende Gefahr, er
hält dies aber für ein geringeres Übel als das jetzige System, das es der
Regierung ermöglicht zu bestimmen, wieviel Sitze sie der Opposition überhaupt
einräumen will. Das ist einfach eine Frage des Geldes, des aufgebotenen
Militärs und des von den Verwaltungsbehörden bethätigten Maßes von Skrupel¬
losikeit. Und da sagt sich Justs: Tisza und vielleicht sogar Khuen denken im
Herzen nicht viel anders als ich selbst; sie wollen auf ihren Wegen und mit
ihren Mitteln die Wahrung und Erweiterung der staatlichen Selbständigkeit
Ungarns. Aber nach demselben Rezept, nach dem Graf Khuen jetzt bei den
Wahlen eine überwältigende Mehrheit zusammengebracht hat, könnte irgend-
einmal im Auftrage des Monarchen ein Ministerpräsident eine noch viel stärkere
Mehrheit wühlen lassen, er könnte von uns, die wir diesmal doch wenigstens
vierzig übriggeblieben sind — genug, um wirksame Obstruktion zu machen —,


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[0132] Das Problem der Wahlreform in Ungarn Einer aber erfaßte die Lage: Graf Khuens Vetter Graf Stefan Tisza. Er dachte sich: dieser Khuen ist ein energischer Mensch und hätte das Zeug in sich, Wehrreform und Wahlreform mit irgendeinem Gewaltstreich durchzuführen. Es ist besser, sich mit ihm zu verbünden, die Wehrresorm, auf der die Krone nun einmal besteht, zu schlucken, dafür die Wahlreform aber zu verhindern. So stellte sich Stefan Tisza Khuen zur Verfügung und wurde der eigentliche Führer der neuen Regierungspartei, der Graf Khuen nach Auflösung des Abgeordneten¬ hauses unter Aufwendung ganz enormer Mittel (man spricht davon, daß Banken und Finanzleute über 25 Millionen Kronen für den Wahlfonds beizusteuern veranlaßt wurden) zu einem glänzenden Siege verholfen hatte. Die Opposition war wieder einmal „zerschmettert", überdies die Unabhängigkeitspartei in zwei Gruppen gespalten, von denen die eine Franz Kossuth, die andere Justs folgt. Der Grund der Spaltung war die Frage des Wahlrechts gewesen; Justs tritt nachdrücklich für das gleiche, allgemeine und geheime Wahlrecht ein, das Kossuth und Graf Apponyi ablehnen. Die Stellungnahme Jusths erscheint zunächst als ein Rätsel. Wie kommt er, der magyarische Nationalist reinsten Wassers, dazu, für ein Wahlrecht ein¬ zutreten, das die magyarische Suprematie aufs schwerste bedroht? Die nächste Erklärung wäre vielleicht die, daß er es eben gar nicht ernst damit meine und seine Zustimmung auch nur einem sehr verwässerten Wahlrecht geben werde, das den Magyaren nicht gefährlich werden könne. Das mag so weit zutreffen, daß Justs gewiß Änderungen zugunsten des Magyarentums fordern wird: eine Wählrechtserweiterung, vor allem eine Sicherung der Wahlfreiheit, die aber ohne nachteilige Wirkung für die herrschende Stellung des Magyarentums sein würde, wäre eine solche Karikatur, daß Justs dafür nicht eintreten könnte, ohne sich lächerlich zu machen. Justs ist vielleicht kein sehr scharf denkender Kopf, im ungarischen Parlament bildet er aber jedenfalls eine Oase der Anständigkeit und Ehrlichkeit. Er will also sicherlich eine Wahlreform, die auch den nicht¬ magyarischen Nationalitäten Aussicht verschafft, im Reichstag halbwegs angemessen vertreten zu sein; er steht die darin für das Magyarentum liegende Gefahr, er hält dies aber für ein geringeres Übel als das jetzige System, das es der Regierung ermöglicht zu bestimmen, wieviel Sitze sie der Opposition überhaupt einräumen will. Das ist einfach eine Frage des Geldes, des aufgebotenen Militärs und des von den Verwaltungsbehörden bethätigten Maßes von Skrupel¬ losikeit. Und da sagt sich Justs: Tisza und vielleicht sogar Khuen denken im Herzen nicht viel anders als ich selbst; sie wollen auf ihren Wegen und mit ihren Mitteln die Wahrung und Erweiterung der staatlichen Selbständigkeit Ungarns. Aber nach demselben Rezept, nach dem Graf Khuen jetzt bei den Wahlen eine überwältigende Mehrheit zusammengebracht hat, könnte irgend- einmal im Auftrage des Monarchen ein Ministerpräsident eine noch viel stärkere Mehrheit wühlen lassen, er könnte von uns, die wir diesmal doch wenigstens vierzig übriggeblieben sind — genug, um wirksame Obstruktion zu machen —,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/132>, abgerufen am 23.07.2024.