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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Das Problem der U?cchlreform in Ungcirn

auch nicht einen hineinlassen. Und solch ein Parlament könnte dann jedes
beliebige Attentat auf die ungarische Selbständigkeit ausführen, ein gefügiges
Werkzeug dessen, was man in Ungarn unter dem Sammelbegriff "Wien"
zusammenfaßt. Wird aber eine Wahlreform durchgeführt, die mit entsprechender
Wahlgeometrie dem Magyarentum das zahlenmäßige Übergewicht sichert, bei
dem aber schon die stark vermehrte Zahl der Wähler, die geheime Abstimmung
und sonstige Sicherungsmaßregeln die Wahlkorruption erschweren, dann ist Justs
ziemlich sicher, daß die rein magyarischen Gebiete des Landes in Zukunft seiner
Partei zufallen werden -- wie ja auch bisher schon die magyarischen Gegenden
vorwiegend Mitglieder der Unabhängigkeitsparteien wählen, wenn der Terrorismus
der Regierung nicht gar zu groß ist, während die sicheren Regierungssitze in
den Nationalitätengegenden liegen. Dafür will Justs sich einige Nationalitäten¬
vertreter mehr im Hause schon gefallen lassen. Wie er ist auch Kristoffy
Magyar von reinstem Wasser, viel mehr als der sehr international getünchte
Graf Apponyi; er ist kein Unabhängigkeitspolitiker vom Schlage Jusths, ihm
wohl insofern ähnlich, als auch er ein Mann von geradlinigem Denken ist. Er
steht in der Demokratisierung Ungarns etwas, das unausbleiblich kommen muß,
und glaubt, daß das Magyarentum diesen Prozeß um so besser überstehen wird,
je rascher es sich mit ihm abfindet.

Nur der Einblick in diesen "jarciin 8eeret" der magyarischen Politiker
gibt den Schlüssel zu den politischen Vorgängen der letzten Zeit. Die Koalition
hatte dem Monarchen ihr Wort in bezug auf das Wahlrecht gebrochen, wozu
die Führer der koalierten Parteien zweifellos schon bei Übernahme der Re¬
gierung entschlossen waren. Aber auch die Krone bestand nicht allzu nachdrück¬
lich auf ihrem Schein, wohl auf Grund der in Österreich mit dem allgemeinen
Wahlrecht gemachten Erfahrungen. Es würde zu weit führen, die Ursachen für
dieses Versagen des allgemeinen Wahlrechts in Österreich hier zu erörtern. Nur
das sei in aller Kürze angedeutet: das notwendige Korrelat des allgemeinen
Wahlrechts ist eine starke Regierung. Daß der Kaiser sich aber von dieser
Forderung wieder abdrängen ließ, wurde auch der Wehrreform zum Verhängnis.
Kaum von der Sorge wegen des allgemeinen Wahlrechts etwas entlastet,
steuerten die Parteien wieder in die ihnen so vertraute Bahn der "Gravamina".
Dieser so echt ungarischen Politik entstammt auch die letzte Krise. "Nur einige
kleine Konzessiönchen", flötete Graf Apponyi, "und wir stellen die Obstruktion
ein". Das war die Resolution wegen der Einberufung der Reserven. Graf
Khuen sah sich die Sache an, ging damit zum Kaiser und sagte ihm mit der
freundlichen Miene des Zahnarztes: "Es ist gleich geschehen und tut weiter
nicht weh." Der Kaiser wollte sich aber den Zahn doch nicht ziehen lassen.
So kam Graf Khuen zunächst mit leeren Händen zurück. Da geschah das Un¬
begreifliche: Graf Khuen stellte sich auf den Standpunkt Apponyis in der Frage
der Resolution über die Einberufung der Reservisten, ohne die Ermächtigung
des Kaisers zu besitzen. In Wien legte der Kriegsminister Verwahrung ein,


Grenzbowi II 1912 16
Das Problem der U?cchlreform in Ungcirn

auch nicht einen hineinlassen. Und solch ein Parlament könnte dann jedes
beliebige Attentat auf die ungarische Selbständigkeit ausführen, ein gefügiges
Werkzeug dessen, was man in Ungarn unter dem Sammelbegriff „Wien"
zusammenfaßt. Wird aber eine Wahlreform durchgeführt, die mit entsprechender
Wahlgeometrie dem Magyarentum das zahlenmäßige Übergewicht sichert, bei
dem aber schon die stark vermehrte Zahl der Wähler, die geheime Abstimmung
und sonstige Sicherungsmaßregeln die Wahlkorruption erschweren, dann ist Justs
ziemlich sicher, daß die rein magyarischen Gebiete des Landes in Zukunft seiner
Partei zufallen werden — wie ja auch bisher schon die magyarischen Gegenden
vorwiegend Mitglieder der Unabhängigkeitsparteien wählen, wenn der Terrorismus
der Regierung nicht gar zu groß ist, während die sicheren Regierungssitze in
den Nationalitätengegenden liegen. Dafür will Justs sich einige Nationalitäten¬
vertreter mehr im Hause schon gefallen lassen. Wie er ist auch Kristoffy
Magyar von reinstem Wasser, viel mehr als der sehr international getünchte
Graf Apponyi; er ist kein Unabhängigkeitspolitiker vom Schlage Jusths, ihm
wohl insofern ähnlich, als auch er ein Mann von geradlinigem Denken ist. Er
steht in der Demokratisierung Ungarns etwas, das unausbleiblich kommen muß,
und glaubt, daß das Magyarentum diesen Prozeß um so besser überstehen wird,
je rascher es sich mit ihm abfindet.

Nur der Einblick in diesen „jarciin 8eeret" der magyarischen Politiker
gibt den Schlüssel zu den politischen Vorgängen der letzten Zeit. Die Koalition
hatte dem Monarchen ihr Wort in bezug auf das Wahlrecht gebrochen, wozu
die Führer der koalierten Parteien zweifellos schon bei Übernahme der Re¬
gierung entschlossen waren. Aber auch die Krone bestand nicht allzu nachdrück¬
lich auf ihrem Schein, wohl auf Grund der in Österreich mit dem allgemeinen
Wahlrecht gemachten Erfahrungen. Es würde zu weit führen, die Ursachen für
dieses Versagen des allgemeinen Wahlrechts in Österreich hier zu erörtern. Nur
das sei in aller Kürze angedeutet: das notwendige Korrelat des allgemeinen
Wahlrechts ist eine starke Regierung. Daß der Kaiser sich aber von dieser
Forderung wieder abdrängen ließ, wurde auch der Wehrreform zum Verhängnis.
Kaum von der Sorge wegen des allgemeinen Wahlrechts etwas entlastet,
steuerten die Parteien wieder in die ihnen so vertraute Bahn der „Gravamina".
Dieser so echt ungarischen Politik entstammt auch die letzte Krise. „Nur einige
kleine Konzessiönchen", flötete Graf Apponyi, „und wir stellen die Obstruktion
ein". Das war die Resolution wegen der Einberufung der Reserven. Graf
Khuen sah sich die Sache an, ging damit zum Kaiser und sagte ihm mit der
freundlichen Miene des Zahnarztes: „Es ist gleich geschehen und tut weiter
nicht weh." Der Kaiser wollte sich aber den Zahn doch nicht ziehen lassen.
So kam Graf Khuen zunächst mit leeren Händen zurück. Da geschah das Un¬
begreifliche: Graf Khuen stellte sich auf den Standpunkt Apponyis in der Frage
der Resolution über die Einberufung der Reservisten, ohne die Ermächtigung
des Kaisers zu besitzen. In Wien legte der Kriegsminister Verwahrung ein,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/133>, abgerufen am 23.07.2024.