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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Rußland, Frankreich und Deutschland

Rußland war dann auch nicht gezwungen, solange es diese Grenzen einhielt,
auf die früheren Verabredungen und Versprechungen gegenüber Österreich-Ungarn
wegen der Besetzung der westlichen Balkanländer (Bosnien und Herzegowina)
zurückzukommen. Nun änderte sich aber die Lage, als die Leitung der krieg¬
führenden Armee mit gutem Recht volle Bewegungsfreiheit forderte. Es kam
der Zeitpunkt, wo sich die russische Armee vor den Toren von Konstantinopel
befand. Die Mächte wurden dadurch überrascht und in Verlegenheit gesetzt.
Aber auch für die russische Regierung zeigten sich jetzt erst die Schwierigkeiten.
Namentlich Österreich gegenüber mußte man entweder auf einer neuen Grund¬
lage verhandeln oder sich mit Deutschland verständigen. Ssaburow erzählt weiter:

"Mit England hatte man in der Eile ein Versprechen ausgetauscht, weder
an Konstantinopel noch an Gallipoli zu rühren. Infolge dieser Bedingung
durfte das englische Geschwader nicht die Meerenge überschreiten. Aber diese
Abmachung wurde fallen gelassen vor dem Sturm der öffentlichen Meinung in
England, und Lord Derby, der sie abgeschlossen hatte, mußte aus dem Kabinett
scheiden. In dieser unsicheren Lage mußte man sich ein Unterpfand sichern.
England tat das, indem es seine Flotte in das Marmara-Meer einlaufen ließ
und dem bedrängten Sultan die Insel Cypern wegnahm. Österreich tat das,
indem es mit England und Deutschland die Überlassung der beiden Provinzen
vereinbarte, die es von uns zu erlangen nicht mehr sicher war. Rußland hatte
sein Pfand bequem zur Hand: es war Konstantinopel; aber seine Hand zögerte,
es zu ergreifen, und dieser einzige Augenblick wurde unwiderruflich verloren.
Und doch hatte der Kaiser das richtige Gefühl dafür gehabt, was er tun
mußte: der Befehl, Konstantinopel zu besetzen, war gegeben worden; er wurde
im Journal officiel an demselben Tage veröffentlicht, als man erfuhr, daß
England unter Bruch seines Versprechens sein Geschwader hatte in die Dardanellen
einlaufen lassen. Die Öffentlichkeit hat niemals die wirklichen Gründe erfahren,
weshalb dieser Befehl unausgeführt geblieben ist. Eine Art Verhängnis ver¬
folgte Kaiser Alexander bei seinen besten Eingebungen. Denn während seiner
an Ereignissen so reichen Regierung schadete die natürliche Güte des Menschen
der Energie des Herrschers. Deshalb entschlüpften uns in dieser denkwürdigen
Zeit überall die Früchte des Sieges."

So die Erzählung Ssaburows von diesem entscheidenden Augenblick der
neuesten russischen Geschichte. Was er als russischer Patriot darin nur diskret
andeutet, wird sich der Leser leicht ergänzen. Es war die politische Isolierung
Rußlands, die ihm in dieser kritischen Lage die Früchte seiner Anstrengungen
und Blutopfer entriß, und diese Isolierung wäre nicht eingetreten, wenn
Alexander der Zweite die Kraft gehabt hätte, seiner besseren Einsicht zu folgen
und -- gegen die Bestrebungen seines Kanzlers und eines irregeleiteten National¬
gefühls -- zur rechten Zeit die ihm entgegengestreckte Hand Deutschlands
festzuhalten. Das politische System Gortschakows, das im Jahre 1875 seinen
schärfsten Ausdruck gefunden hatte, trug die Schuld an den Enttäuschungen,


Rußland, Frankreich und Deutschland

Rußland war dann auch nicht gezwungen, solange es diese Grenzen einhielt,
auf die früheren Verabredungen und Versprechungen gegenüber Österreich-Ungarn
wegen der Besetzung der westlichen Balkanländer (Bosnien und Herzegowina)
zurückzukommen. Nun änderte sich aber die Lage, als die Leitung der krieg¬
führenden Armee mit gutem Recht volle Bewegungsfreiheit forderte. Es kam
der Zeitpunkt, wo sich die russische Armee vor den Toren von Konstantinopel
befand. Die Mächte wurden dadurch überrascht und in Verlegenheit gesetzt.
Aber auch für die russische Regierung zeigten sich jetzt erst die Schwierigkeiten.
Namentlich Österreich gegenüber mußte man entweder auf einer neuen Grund¬
lage verhandeln oder sich mit Deutschland verständigen. Ssaburow erzählt weiter:

„Mit England hatte man in der Eile ein Versprechen ausgetauscht, weder
an Konstantinopel noch an Gallipoli zu rühren. Infolge dieser Bedingung
durfte das englische Geschwader nicht die Meerenge überschreiten. Aber diese
Abmachung wurde fallen gelassen vor dem Sturm der öffentlichen Meinung in
England, und Lord Derby, der sie abgeschlossen hatte, mußte aus dem Kabinett
scheiden. In dieser unsicheren Lage mußte man sich ein Unterpfand sichern.
England tat das, indem es seine Flotte in das Marmara-Meer einlaufen ließ
und dem bedrängten Sultan die Insel Cypern wegnahm. Österreich tat das,
indem es mit England und Deutschland die Überlassung der beiden Provinzen
vereinbarte, die es von uns zu erlangen nicht mehr sicher war. Rußland hatte
sein Pfand bequem zur Hand: es war Konstantinopel; aber seine Hand zögerte,
es zu ergreifen, und dieser einzige Augenblick wurde unwiderruflich verloren.
Und doch hatte der Kaiser das richtige Gefühl dafür gehabt, was er tun
mußte: der Befehl, Konstantinopel zu besetzen, war gegeben worden; er wurde
im Journal officiel an demselben Tage veröffentlicht, als man erfuhr, daß
England unter Bruch seines Versprechens sein Geschwader hatte in die Dardanellen
einlaufen lassen. Die Öffentlichkeit hat niemals die wirklichen Gründe erfahren,
weshalb dieser Befehl unausgeführt geblieben ist. Eine Art Verhängnis ver¬
folgte Kaiser Alexander bei seinen besten Eingebungen. Denn während seiner
an Ereignissen so reichen Regierung schadete die natürliche Güte des Menschen
der Energie des Herrschers. Deshalb entschlüpften uns in dieser denkwürdigen
Zeit überall die Früchte des Sieges."

So die Erzählung Ssaburows von diesem entscheidenden Augenblick der
neuesten russischen Geschichte. Was er als russischer Patriot darin nur diskret
andeutet, wird sich der Leser leicht ergänzen. Es war die politische Isolierung
Rußlands, die ihm in dieser kritischen Lage die Früchte seiner Anstrengungen
und Blutopfer entriß, und diese Isolierung wäre nicht eingetreten, wenn
Alexander der Zweite die Kraft gehabt hätte, seiner besseren Einsicht zu folgen
und — gegen die Bestrebungen seines Kanzlers und eines irregeleiteten National¬
gefühls — zur rechten Zeit die ihm entgegengestreckte Hand Deutschlands
festzuhalten. Das politische System Gortschakows, das im Jahre 1875 seinen
schärfsten Ausdruck gefunden hatte, trug die Schuld an den Enttäuschungen,


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[0119] Rußland, Frankreich und Deutschland Rußland war dann auch nicht gezwungen, solange es diese Grenzen einhielt, auf die früheren Verabredungen und Versprechungen gegenüber Österreich-Ungarn wegen der Besetzung der westlichen Balkanländer (Bosnien und Herzegowina) zurückzukommen. Nun änderte sich aber die Lage, als die Leitung der krieg¬ führenden Armee mit gutem Recht volle Bewegungsfreiheit forderte. Es kam der Zeitpunkt, wo sich die russische Armee vor den Toren von Konstantinopel befand. Die Mächte wurden dadurch überrascht und in Verlegenheit gesetzt. Aber auch für die russische Regierung zeigten sich jetzt erst die Schwierigkeiten. Namentlich Österreich gegenüber mußte man entweder auf einer neuen Grund¬ lage verhandeln oder sich mit Deutschland verständigen. Ssaburow erzählt weiter: „Mit England hatte man in der Eile ein Versprechen ausgetauscht, weder an Konstantinopel noch an Gallipoli zu rühren. Infolge dieser Bedingung durfte das englische Geschwader nicht die Meerenge überschreiten. Aber diese Abmachung wurde fallen gelassen vor dem Sturm der öffentlichen Meinung in England, und Lord Derby, der sie abgeschlossen hatte, mußte aus dem Kabinett scheiden. In dieser unsicheren Lage mußte man sich ein Unterpfand sichern. England tat das, indem es seine Flotte in das Marmara-Meer einlaufen ließ und dem bedrängten Sultan die Insel Cypern wegnahm. Österreich tat das, indem es mit England und Deutschland die Überlassung der beiden Provinzen vereinbarte, die es von uns zu erlangen nicht mehr sicher war. Rußland hatte sein Pfand bequem zur Hand: es war Konstantinopel; aber seine Hand zögerte, es zu ergreifen, und dieser einzige Augenblick wurde unwiderruflich verloren. Und doch hatte der Kaiser das richtige Gefühl dafür gehabt, was er tun mußte: der Befehl, Konstantinopel zu besetzen, war gegeben worden; er wurde im Journal officiel an demselben Tage veröffentlicht, als man erfuhr, daß England unter Bruch seines Versprechens sein Geschwader hatte in die Dardanellen einlaufen lassen. Die Öffentlichkeit hat niemals die wirklichen Gründe erfahren, weshalb dieser Befehl unausgeführt geblieben ist. Eine Art Verhängnis ver¬ folgte Kaiser Alexander bei seinen besten Eingebungen. Denn während seiner an Ereignissen so reichen Regierung schadete die natürliche Güte des Menschen der Energie des Herrschers. Deshalb entschlüpften uns in dieser denkwürdigen Zeit überall die Früchte des Sieges." So die Erzählung Ssaburows von diesem entscheidenden Augenblick der neuesten russischen Geschichte. Was er als russischer Patriot darin nur diskret andeutet, wird sich der Leser leicht ergänzen. Es war die politische Isolierung Rußlands, die ihm in dieser kritischen Lage die Früchte seiner Anstrengungen und Blutopfer entriß, und diese Isolierung wäre nicht eingetreten, wenn Alexander der Zweite die Kraft gehabt hätte, seiner besseren Einsicht zu folgen und — gegen die Bestrebungen seines Kanzlers und eines irregeleiteten National¬ gefühls — zur rechten Zeit die ihm entgegengestreckte Hand Deutschlands festzuhalten. Das politische System Gortschakows, das im Jahre 1875 seinen schärfsten Ausdruck gefunden hatte, trug die Schuld an den Enttäuschungen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/119>, abgerufen am 23.07.2024.