Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Rußland, Frankreich und Deutschland

Angriff gegen Frankreich, -- es müßte denn sein, daß das Foreign Office ihn
mit amtlichen Material versehe, das die Gefahr eines Krieges bestätige. Ich
teilte diese Antwort dem Herzog Decazes mit, der nach einem Ministerrat mich
kommen ließ und mir Depeschen des Grafen Gontaut-Biron zu lesen gab, die
über seine Unterredung mit Herrn v. Nadowitz berichteten. Der Herzog fügte
hinzu, daß eine Abschrift dieser Depeschen soeben nach London geschickt worden
sei, um der englischen Regierung mitgeteilt zu werden. Er richtete wiederum
einen dringenden Appell an meine Zuneigung für mein Adoptivvaterland. Nun
zögerte ich nicht länger, und nach Hause zurückgekehrt verfaßte ich meine
Korrespondenz und schickte sie an den Herausgeber der Times mit meinem
Entlassungsgesuch, falls diese Korrespondenz nicht veröffentlicht werden sollte.
Zwei Tage darauf erschien der Artikel, wurde in den Zeitungen des Kontinents
abgedruckt und verursachte eine Panik an allen Börsen Europas."

Man weiß natürlich nicht genau, ob diese Erzählung des Herrn Blowitz
in allen Punkten zutrifft. Indessen spricht eine große Wahrscheinlichkeit dafür.
Hiernach wäre also eine Intrige des Herzogs Decazes dem diplomatischen Spiel
Gortschakows zu Hilfe gekommen.

Auch Ssaburow hebt von seinem Standpunkt aus hervor, wie empfindlich
Bismarck durch den Ausgang dieser Sache betroffen wurde. "Alle Feinde
Deutschlands freuten sich. In Rußland erhoben die Moskaner Patrioten das
Haupt. . . Fürst Bismarck fühlte sein Prestige berührt. Mit der Übertreibung,
die durch den Ärger eines Staatsmannes verursacht wurde, der bis dahin noch
keinen Mißerfolg gekannt hatte, sah er das große Deutschland in seiner Person
erniedrigt." Der deutsche Reichskanzler hatte nicht verhindern können, daß
Rußland wenigstens dem Anschein nach eine Art von Bevormundung ausgeübt
und Europa den Frieden diktiert hatte.

Wenn freilich Ssaburow weiter meint, diese Erfahrung habe in Bismarcks
Geist den Gedanken entstehen lassen, mit Österreich-Ungarn einen engen Bund
zu schließen, so ist das schwerlich richtig. Diesen Plan hat Bismarck lange
vorher schon erwogen; es handelte sich für ihn nur darum, den rechten Zeit¬
punkt abzuwarten. Wie er diesen Zeitpunkt aber erfaßt hat, das wird von
Ssaburow wiederum sehr klar dargestellt. Er sagt unumwunden, Bismarck
habe bei den Verhandlungen, die dem Orientkriege von 1877 vorangingen,
vor Rußland immer den Vorteil voraus gehabt, zu wissen, was er wollte.
Ssaburow erinnert daran, daß der ursprüngliche Kriegsplan Rußlands keine
weitgesteckten Ziele verfolgte. Man habe vielmehr der Türkei gegenüber an
dem alten Grundsatz festgehalten, "die Artischocke Blatt für Blatt zu verspeisen".
Die Absicht, den Balkan nicht zu überschreiten und ein nur zum Teil befreites
Bulgarien zu schaffen, wurde allen Besprechungen vor dem Kriege zugrunde
gelegt. Die Beschränkung in den Kriegszielen war geeignet, die Einmischung
der Mächte fernzuhalten, auch -- was nach Ssaburows Versicherung Gortschakow
besonders angenehm war -- die freundschaftliche Mitwirkung Deutschlands.


Rußland, Frankreich und Deutschland

Angriff gegen Frankreich, — es müßte denn sein, daß das Foreign Office ihn
mit amtlichen Material versehe, das die Gefahr eines Krieges bestätige. Ich
teilte diese Antwort dem Herzog Decazes mit, der nach einem Ministerrat mich
kommen ließ und mir Depeschen des Grafen Gontaut-Biron zu lesen gab, die
über seine Unterredung mit Herrn v. Nadowitz berichteten. Der Herzog fügte
hinzu, daß eine Abschrift dieser Depeschen soeben nach London geschickt worden
sei, um der englischen Regierung mitgeteilt zu werden. Er richtete wiederum
einen dringenden Appell an meine Zuneigung für mein Adoptivvaterland. Nun
zögerte ich nicht länger, und nach Hause zurückgekehrt verfaßte ich meine
Korrespondenz und schickte sie an den Herausgeber der Times mit meinem
Entlassungsgesuch, falls diese Korrespondenz nicht veröffentlicht werden sollte.
Zwei Tage darauf erschien der Artikel, wurde in den Zeitungen des Kontinents
abgedruckt und verursachte eine Panik an allen Börsen Europas."

Man weiß natürlich nicht genau, ob diese Erzählung des Herrn Blowitz
in allen Punkten zutrifft. Indessen spricht eine große Wahrscheinlichkeit dafür.
Hiernach wäre also eine Intrige des Herzogs Decazes dem diplomatischen Spiel
Gortschakows zu Hilfe gekommen.

Auch Ssaburow hebt von seinem Standpunkt aus hervor, wie empfindlich
Bismarck durch den Ausgang dieser Sache betroffen wurde. „Alle Feinde
Deutschlands freuten sich. In Rußland erhoben die Moskaner Patrioten das
Haupt. . . Fürst Bismarck fühlte sein Prestige berührt. Mit der Übertreibung,
die durch den Ärger eines Staatsmannes verursacht wurde, der bis dahin noch
keinen Mißerfolg gekannt hatte, sah er das große Deutschland in seiner Person
erniedrigt." Der deutsche Reichskanzler hatte nicht verhindern können, daß
Rußland wenigstens dem Anschein nach eine Art von Bevormundung ausgeübt
und Europa den Frieden diktiert hatte.

Wenn freilich Ssaburow weiter meint, diese Erfahrung habe in Bismarcks
Geist den Gedanken entstehen lassen, mit Österreich-Ungarn einen engen Bund
zu schließen, so ist das schwerlich richtig. Diesen Plan hat Bismarck lange
vorher schon erwogen; es handelte sich für ihn nur darum, den rechten Zeit¬
punkt abzuwarten. Wie er diesen Zeitpunkt aber erfaßt hat, das wird von
Ssaburow wiederum sehr klar dargestellt. Er sagt unumwunden, Bismarck
habe bei den Verhandlungen, die dem Orientkriege von 1877 vorangingen,
vor Rußland immer den Vorteil voraus gehabt, zu wissen, was er wollte.
Ssaburow erinnert daran, daß der ursprüngliche Kriegsplan Rußlands keine
weitgesteckten Ziele verfolgte. Man habe vielmehr der Türkei gegenüber an
dem alten Grundsatz festgehalten, „die Artischocke Blatt für Blatt zu verspeisen".
Die Absicht, den Balkan nicht zu überschreiten und ein nur zum Teil befreites
Bulgarien zu schaffen, wurde allen Besprechungen vor dem Kriege zugrunde
gelegt. Die Beschränkung in den Kriegszielen war geeignet, die Einmischung
der Mächte fernzuhalten, auch — was nach Ssaburows Versicherung Gortschakow
besonders angenehm war — die freundschaftliche Mitwirkung Deutschlands.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0118" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/321201"/>
          <fw type="header" place="top"> Rußland, Frankreich und Deutschland</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_486" prev="#ID_485"> Angriff gegen Frankreich, &#x2014; es müßte denn sein, daß das Foreign Office ihn<lb/>
mit amtlichen Material versehe, das die Gefahr eines Krieges bestätige. Ich<lb/>
teilte diese Antwort dem Herzog Decazes mit, der nach einem Ministerrat mich<lb/>
kommen ließ und mir Depeschen des Grafen Gontaut-Biron zu lesen gab, die<lb/>
über seine Unterredung mit Herrn v. Nadowitz berichteten. Der Herzog fügte<lb/>
hinzu, daß eine Abschrift dieser Depeschen soeben nach London geschickt worden<lb/>
sei, um der englischen Regierung mitgeteilt zu werden. Er richtete wiederum<lb/>
einen dringenden Appell an meine Zuneigung für mein Adoptivvaterland. Nun<lb/>
zögerte ich nicht länger, und nach Hause zurückgekehrt verfaßte ich meine<lb/>
Korrespondenz und schickte sie an den Herausgeber der Times mit meinem<lb/>
Entlassungsgesuch, falls diese Korrespondenz nicht veröffentlicht werden sollte.<lb/>
Zwei Tage darauf erschien der Artikel, wurde in den Zeitungen des Kontinents<lb/>
abgedruckt und verursachte eine Panik an allen Börsen Europas."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_487"> Man weiß natürlich nicht genau, ob diese Erzählung des Herrn Blowitz<lb/>
in allen Punkten zutrifft. Indessen spricht eine große Wahrscheinlichkeit dafür.<lb/>
Hiernach wäre also eine Intrige des Herzogs Decazes dem diplomatischen Spiel<lb/>
Gortschakows zu Hilfe gekommen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_488"> Auch Ssaburow hebt von seinem Standpunkt aus hervor, wie empfindlich<lb/>
Bismarck durch den Ausgang dieser Sache betroffen wurde. &#x201E;Alle Feinde<lb/>
Deutschlands freuten sich. In Rußland erhoben die Moskaner Patrioten das<lb/>
Haupt. . . Fürst Bismarck fühlte sein Prestige berührt. Mit der Übertreibung,<lb/>
die durch den Ärger eines Staatsmannes verursacht wurde, der bis dahin noch<lb/>
keinen Mißerfolg gekannt hatte, sah er das große Deutschland in seiner Person<lb/>
erniedrigt." Der deutsche Reichskanzler hatte nicht verhindern können, daß<lb/>
Rußland wenigstens dem Anschein nach eine Art von Bevormundung ausgeübt<lb/>
und Europa den Frieden diktiert hatte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_489" next="#ID_490"> Wenn freilich Ssaburow weiter meint, diese Erfahrung habe in Bismarcks<lb/>
Geist den Gedanken entstehen lassen, mit Österreich-Ungarn einen engen Bund<lb/>
zu schließen, so ist das schwerlich richtig. Diesen Plan hat Bismarck lange<lb/>
vorher schon erwogen; es handelte sich für ihn nur darum, den rechten Zeit¬<lb/>
punkt abzuwarten. Wie er diesen Zeitpunkt aber erfaßt hat, das wird von<lb/>
Ssaburow wiederum sehr klar dargestellt. Er sagt unumwunden, Bismarck<lb/>
habe bei den Verhandlungen, die dem Orientkriege von 1877 vorangingen,<lb/>
vor Rußland immer den Vorteil voraus gehabt, zu wissen, was er wollte.<lb/>
Ssaburow erinnert daran, daß der ursprüngliche Kriegsplan Rußlands keine<lb/>
weitgesteckten Ziele verfolgte. Man habe vielmehr der Türkei gegenüber an<lb/>
dem alten Grundsatz festgehalten, &#x201E;die Artischocke Blatt für Blatt zu verspeisen".<lb/>
Die Absicht, den Balkan nicht zu überschreiten und ein nur zum Teil befreites<lb/>
Bulgarien zu schaffen, wurde allen Besprechungen vor dem Kriege zugrunde<lb/>
gelegt. Die Beschränkung in den Kriegszielen war geeignet, die Einmischung<lb/>
der Mächte fernzuhalten, auch &#x2014; was nach Ssaburows Versicherung Gortschakow<lb/>
besonders angenehm war &#x2014; die freundschaftliche Mitwirkung Deutschlands.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0118] Rußland, Frankreich und Deutschland Angriff gegen Frankreich, — es müßte denn sein, daß das Foreign Office ihn mit amtlichen Material versehe, das die Gefahr eines Krieges bestätige. Ich teilte diese Antwort dem Herzog Decazes mit, der nach einem Ministerrat mich kommen ließ und mir Depeschen des Grafen Gontaut-Biron zu lesen gab, die über seine Unterredung mit Herrn v. Nadowitz berichteten. Der Herzog fügte hinzu, daß eine Abschrift dieser Depeschen soeben nach London geschickt worden sei, um der englischen Regierung mitgeteilt zu werden. Er richtete wiederum einen dringenden Appell an meine Zuneigung für mein Adoptivvaterland. Nun zögerte ich nicht länger, und nach Hause zurückgekehrt verfaßte ich meine Korrespondenz und schickte sie an den Herausgeber der Times mit meinem Entlassungsgesuch, falls diese Korrespondenz nicht veröffentlicht werden sollte. Zwei Tage darauf erschien der Artikel, wurde in den Zeitungen des Kontinents abgedruckt und verursachte eine Panik an allen Börsen Europas." Man weiß natürlich nicht genau, ob diese Erzählung des Herrn Blowitz in allen Punkten zutrifft. Indessen spricht eine große Wahrscheinlichkeit dafür. Hiernach wäre also eine Intrige des Herzogs Decazes dem diplomatischen Spiel Gortschakows zu Hilfe gekommen. Auch Ssaburow hebt von seinem Standpunkt aus hervor, wie empfindlich Bismarck durch den Ausgang dieser Sache betroffen wurde. „Alle Feinde Deutschlands freuten sich. In Rußland erhoben die Moskaner Patrioten das Haupt. . . Fürst Bismarck fühlte sein Prestige berührt. Mit der Übertreibung, die durch den Ärger eines Staatsmannes verursacht wurde, der bis dahin noch keinen Mißerfolg gekannt hatte, sah er das große Deutschland in seiner Person erniedrigt." Der deutsche Reichskanzler hatte nicht verhindern können, daß Rußland wenigstens dem Anschein nach eine Art von Bevormundung ausgeübt und Europa den Frieden diktiert hatte. Wenn freilich Ssaburow weiter meint, diese Erfahrung habe in Bismarcks Geist den Gedanken entstehen lassen, mit Österreich-Ungarn einen engen Bund zu schließen, so ist das schwerlich richtig. Diesen Plan hat Bismarck lange vorher schon erwogen; es handelte sich für ihn nur darum, den rechten Zeit¬ punkt abzuwarten. Wie er diesen Zeitpunkt aber erfaßt hat, das wird von Ssaburow wiederum sehr klar dargestellt. Er sagt unumwunden, Bismarck habe bei den Verhandlungen, die dem Orientkriege von 1877 vorangingen, vor Rußland immer den Vorteil voraus gehabt, zu wissen, was er wollte. Ssaburow erinnert daran, daß der ursprüngliche Kriegsplan Rußlands keine weitgesteckten Ziele verfolgte. Man habe vielmehr der Türkei gegenüber an dem alten Grundsatz festgehalten, „die Artischocke Blatt für Blatt zu verspeisen". Die Absicht, den Balkan nicht zu überschreiten und ein nur zum Teil befreites Bulgarien zu schaffen, wurde allen Besprechungen vor dem Kriege zugrunde gelegt. Die Beschränkung in den Kriegszielen war geeignet, die Einmischung der Mächte fernzuhalten, auch — was nach Ssaburows Versicherung Gortschakow besonders angenehm war — die freundschaftliche Mitwirkung Deutschlands.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/118
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/118>, abgerufen am 23.07.2024.