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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Rußland, Frankreich und Deutschland

in dem neuen Deutschland ein verstärktes Preußen, durch dessen Freundschaft
Rußland in der europäischen Politik nur gewinnen konnte. "Er hielt an dem
Bündnis mit dem Deutschen Reiche fest; es war die notwendige Krönung der
Politik seiner ganzen Regierung." Gortschakow dagegen ging von dem Grund¬
gedanken aus, die Unversöhnlichkeit und Nevanchelust des besiegten Frankreichs
zu benutzen, um Deutschland und Frankreich gegen einander auszuspielen und
Rußland dadurch eine Vermittler- und Schiedsrichterrolle in Europa zu sichern.
"Er liebte es, Nußland mit einer reichen Erbin zu vergleichen, die sich den Hof
machen läßt, aber ihre Freiheit wahrt und niemandem ihre Hand gewährt."

Zur Beantwortung der Frage, welcher Standpunkt der richtige war, ver¬
weist Ssaburow einfach auf die Erfahrungen, die Rußland seitdem im Orient
gemacht hat. Die Ereignisse haben Gortschakow unrecht gegeben. Der Verfasser
entschuldigt den alten Kanzler mit seinen fünfundsiebzig Jahren, die ihm einen
Teil seiner Voraussicht geraubt hätten. Kaiser Alexander aber habe wohl
vorhergesehen, daß er bei der Entwicklung der Dinge im Orient die deutsche
Freundschaft brauchen würde. "So verfolgte der Kaiser einerseits seine persön¬
liche Politik, die der Kanzler anderseits neutralisierte." Das konnte natürlich
nicht ohne Rückwirkungen auf die deutsche Politik bleiben.

So gelangt der Verfasser zu der weiteren Frage, wer die Schuld an den
Mißverstündnissen und Trübungen der Beziehungen zwischen Deutschland und
Rußland trüge. Die öffentliche Meinung in Rußland hat den Fürsten Bismarck
damit belastet. Es ist nun bemerkenswert, daß Ssaburow trotz der vorsichtigen
Schonung, die seine Darstellung an der patriotischen Empfindlichkeit seiner Lands¬
leute und auch des französischen Publikums, an das er sich wendet, übt, die in
Rußland und Frankreich herrschenden Anschauungen recht deutlich korrigiert.
Er erörtert zunächst durchaus objektiv den Standpunkt der deutschen Politik.
Mit vollem Recht hebt er hervor, daß Bismarck der geographischen Lage
Deutschlands habe Rechnung tragen müssen. Deutschland mußte nach drei Seiten
seine Grenzen schützen. Österreich war besiegt, aber Bismarck hatte seine
berechtigte Empfindlichkeit geschont und bereits den Weg für eine künftige Ver¬
ständigung geebnet. Frankreich dagegen hatte sich schneller als erwartet von
seiner Niederlage erholt und seine militärische Macht wiederhergestellt. "Indem
Fürst Bismarck," so meint Ssaburow, "in Frankreich die republikanische Re¬
gierung begünstigte, stellte er eine Berechnung an, die die Ereignisse nicht
gerechtfertigt haben. In der Tat ist es nach zwanzig Jahren unfruchtbarer
Diplomatie dem deutschen Kanzler weder gelungen, Frankreich zu versöhnen,
noch es der Anarchie auszuliefern." Hier muß freilich vom deutschen Stand¬
punkte aus eingeschaltet werden, daß dabei jedenfalls der Gedanke der
Bismarckschen Politik unrichtig wiedergegeben wird. Fürst Bismarck hat
schwerlich erwartet, daß das republikanische Regiment in Frankreich zur Anarchie
führen werde; auch hat er die Aussichten einer Versöhnung der französischen
Empfindlichkeit niemals überschätzt. Wenn er die Republik begünstigte, so sagte


Rußland, Frankreich und Deutschland

in dem neuen Deutschland ein verstärktes Preußen, durch dessen Freundschaft
Rußland in der europäischen Politik nur gewinnen konnte. „Er hielt an dem
Bündnis mit dem Deutschen Reiche fest; es war die notwendige Krönung der
Politik seiner ganzen Regierung." Gortschakow dagegen ging von dem Grund¬
gedanken aus, die Unversöhnlichkeit und Nevanchelust des besiegten Frankreichs
zu benutzen, um Deutschland und Frankreich gegen einander auszuspielen und
Rußland dadurch eine Vermittler- und Schiedsrichterrolle in Europa zu sichern.
„Er liebte es, Nußland mit einer reichen Erbin zu vergleichen, die sich den Hof
machen läßt, aber ihre Freiheit wahrt und niemandem ihre Hand gewährt."

Zur Beantwortung der Frage, welcher Standpunkt der richtige war, ver¬
weist Ssaburow einfach auf die Erfahrungen, die Rußland seitdem im Orient
gemacht hat. Die Ereignisse haben Gortschakow unrecht gegeben. Der Verfasser
entschuldigt den alten Kanzler mit seinen fünfundsiebzig Jahren, die ihm einen
Teil seiner Voraussicht geraubt hätten. Kaiser Alexander aber habe wohl
vorhergesehen, daß er bei der Entwicklung der Dinge im Orient die deutsche
Freundschaft brauchen würde. „So verfolgte der Kaiser einerseits seine persön¬
liche Politik, die der Kanzler anderseits neutralisierte." Das konnte natürlich
nicht ohne Rückwirkungen auf die deutsche Politik bleiben.

So gelangt der Verfasser zu der weiteren Frage, wer die Schuld an den
Mißverstündnissen und Trübungen der Beziehungen zwischen Deutschland und
Rußland trüge. Die öffentliche Meinung in Rußland hat den Fürsten Bismarck
damit belastet. Es ist nun bemerkenswert, daß Ssaburow trotz der vorsichtigen
Schonung, die seine Darstellung an der patriotischen Empfindlichkeit seiner Lands¬
leute und auch des französischen Publikums, an das er sich wendet, übt, die in
Rußland und Frankreich herrschenden Anschauungen recht deutlich korrigiert.
Er erörtert zunächst durchaus objektiv den Standpunkt der deutschen Politik.
Mit vollem Recht hebt er hervor, daß Bismarck der geographischen Lage
Deutschlands habe Rechnung tragen müssen. Deutschland mußte nach drei Seiten
seine Grenzen schützen. Österreich war besiegt, aber Bismarck hatte seine
berechtigte Empfindlichkeit geschont und bereits den Weg für eine künftige Ver¬
ständigung geebnet. Frankreich dagegen hatte sich schneller als erwartet von
seiner Niederlage erholt und seine militärische Macht wiederhergestellt. „Indem
Fürst Bismarck," so meint Ssaburow, „in Frankreich die republikanische Re¬
gierung begünstigte, stellte er eine Berechnung an, die die Ereignisse nicht
gerechtfertigt haben. In der Tat ist es nach zwanzig Jahren unfruchtbarer
Diplomatie dem deutschen Kanzler weder gelungen, Frankreich zu versöhnen,
noch es der Anarchie auszuliefern." Hier muß freilich vom deutschen Stand¬
punkte aus eingeschaltet werden, daß dabei jedenfalls der Gedanke der
Bismarckschen Politik unrichtig wiedergegeben wird. Fürst Bismarck hat
schwerlich erwartet, daß das republikanische Regiment in Frankreich zur Anarchie
führen werde; auch hat er die Aussichten einer Versöhnung der französischen
Empfindlichkeit niemals überschätzt. Wenn er die Republik begünstigte, so sagte


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[0112] Rußland, Frankreich und Deutschland in dem neuen Deutschland ein verstärktes Preußen, durch dessen Freundschaft Rußland in der europäischen Politik nur gewinnen konnte. „Er hielt an dem Bündnis mit dem Deutschen Reiche fest; es war die notwendige Krönung der Politik seiner ganzen Regierung." Gortschakow dagegen ging von dem Grund¬ gedanken aus, die Unversöhnlichkeit und Nevanchelust des besiegten Frankreichs zu benutzen, um Deutschland und Frankreich gegen einander auszuspielen und Rußland dadurch eine Vermittler- und Schiedsrichterrolle in Europa zu sichern. „Er liebte es, Nußland mit einer reichen Erbin zu vergleichen, die sich den Hof machen läßt, aber ihre Freiheit wahrt und niemandem ihre Hand gewährt." Zur Beantwortung der Frage, welcher Standpunkt der richtige war, ver¬ weist Ssaburow einfach auf die Erfahrungen, die Rußland seitdem im Orient gemacht hat. Die Ereignisse haben Gortschakow unrecht gegeben. Der Verfasser entschuldigt den alten Kanzler mit seinen fünfundsiebzig Jahren, die ihm einen Teil seiner Voraussicht geraubt hätten. Kaiser Alexander aber habe wohl vorhergesehen, daß er bei der Entwicklung der Dinge im Orient die deutsche Freundschaft brauchen würde. „So verfolgte der Kaiser einerseits seine persön¬ liche Politik, die der Kanzler anderseits neutralisierte." Das konnte natürlich nicht ohne Rückwirkungen auf die deutsche Politik bleiben. So gelangt der Verfasser zu der weiteren Frage, wer die Schuld an den Mißverstündnissen und Trübungen der Beziehungen zwischen Deutschland und Rußland trüge. Die öffentliche Meinung in Rußland hat den Fürsten Bismarck damit belastet. Es ist nun bemerkenswert, daß Ssaburow trotz der vorsichtigen Schonung, die seine Darstellung an der patriotischen Empfindlichkeit seiner Lands¬ leute und auch des französischen Publikums, an das er sich wendet, übt, die in Rußland und Frankreich herrschenden Anschauungen recht deutlich korrigiert. Er erörtert zunächst durchaus objektiv den Standpunkt der deutschen Politik. Mit vollem Recht hebt er hervor, daß Bismarck der geographischen Lage Deutschlands habe Rechnung tragen müssen. Deutschland mußte nach drei Seiten seine Grenzen schützen. Österreich war besiegt, aber Bismarck hatte seine berechtigte Empfindlichkeit geschont und bereits den Weg für eine künftige Ver¬ ständigung geebnet. Frankreich dagegen hatte sich schneller als erwartet von seiner Niederlage erholt und seine militärische Macht wiederhergestellt. „Indem Fürst Bismarck," so meint Ssaburow, „in Frankreich die republikanische Re¬ gierung begünstigte, stellte er eine Berechnung an, die die Ereignisse nicht gerechtfertigt haben. In der Tat ist es nach zwanzig Jahren unfruchtbarer Diplomatie dem deutschen Kanzler weder gelungen, Frankreich zu versöhnen, noch es der Anarchie auszuliefern." Hier muß freilich vom deutschen Stand¬ punkte aus eingeschaltet werden, daß dabei jedenfalls der Gedanke der Bismarckschen Politik unrichtig wiedergegeben wird. Fürst Bismarck hat schwerlich erwartet, daß das republikanische Regiment in Frankreich zur Anarchie führen werde; auch hat er die Aussichten einer Versöhnung der französischen Empfindlichkeit niemals überschätzt. Wenn er die Republik begünstigte, so sagte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/112>, abgerufen am 29.06.2024.