Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.er sich, daß diese Regierungsform mehr als jede andere auf eine vorsichtige Hieran knüpft sich nun die Schilderung der bekannten Episode von 1875. er sich, daß diese Regierungsform mehr als jede andere auf eine vorsichtige Hieran knüpft sich nun die Schilderung der bekannten Episode von 1875. <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0113" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/321196"/> <fw type="header" place="top"/><lb/> <p xml:id="ID_473" prev="#ID_472"> er sich, daß diese Regierungsform mehr als jede andere auf eine vorsichtige<lb/> Politik angewiesen war, während jeder Diktator oder Prätendent in Frankreich<lb/> zunächst und vor allem für sein persönliches Prestige sorgen mußte, also auf<lb/> die Pflege und Ausnutzung des Revanchegedankens geradezu hingewiesen wurde.<lb/> Daß Fürst Bismarck darin recht hatte, steht außer Zweifel. Für die Beweis¬<lb/> führung Ssaburows kommt es freilich nicht darauf an, ob man Bismarcks<lb/> Politik diese oder jene Deutung gibt. Das Tatsächliche in den Beziehungen<lb/> zwischen Deutschland und Frankreich ist richtig gekennzeichnet, und daran knüpft<lb/> Ssabnrow mit Recht die weitere Feststellung, daß Bismarck um so mehr bestrebt<lb/> war, die Ostgrenze des Reiches durch ein Bündnis mit Rußland zu decken.<lb/> Deutschland hatte auch durchaus kein Interesse, die deutschfeindliche Bewegung,<lb/> die sich in Rußland nach .1870 bemerkbar machte, durch einen Frontwechsel<lb/> noch mehr anzuspornen. Über diese Bewegung urteilt der Verfasser: „Sie war<lb/> verhängnisvoll, unvermeidlich; es war die spontane Stimme eines National¬<lb/> gefühls, das sich um die Berechnungen der Politik nicht kümmert." Leider war<lb/> Alexander der Zweite nicht stark genug, um solchen Bewegungen dadurch die<lb/> Spitze zu bieten, daß er seinen Kanzler ausschließlich zum Vollstrecker seines Willens<lb/> machte. Ssaburow sagt in dieser Gedankenverbindung sehr bezeichnend für die<lb/> Verhältnisse: „Nichts ist gefährlicher für einen Herrscher, als einen Minister zu<lb/> behalten, dessen Ideen von den seinigen abweichen; er läuft Gefahr, unbewußt<lb/> das Werkzeug dieses Ministers zu werden, der vor ihm den Vorteil voraus<lb/> hat, die Einzelheiten der Geschäfte zu beherrschen (I'avgnwAe nie cliliZer le<lb/> clef Maires)."</p><lb/> <p xml:id="ID_474" next="#ID_475"> Hieran knüpft sich nun die Schilderung der bekannten Episode von 1875.<lb/> Der Hergang, wie er sich zu jener Zeit der Öffentlichkeit darstellte, mag hier<lb/> in folgendem noch einmal kurz skizziert werden. Die Annahme des französischen<lb/> Cadregesetzes im Frühjahr 1875 bedeutete eine so ungeheure Anspannung der<lb/> militärischen Kräfte Frankreichs, daß in sachverständigen Kreisen Deutschlands<lb/> der Eindruck entstand, dies könne unmöglich als eine dauernde Belastung zu¬<lb/> gunsten der allgemeinen Verteidigungsfähigkeit des Landes angesehen werden,<lb/> es sei vielmehr nur aus der Absicht zu erklären, daß Frankreich binnen kurzer<lb/> Zeit eine neue kriegerische Auseinandersetzung mit Deutschland herbeiführen<lb/> wolle. Während diese Sorgen anfangs nur die militärischen Kreise beschäftigten,<lb/> erschien am 8. April in der Post ein Alarmartikel mit der Überschrift: „Ist<lb/> der Krieg in Sicht?", der die Beunruhigung zum Gemeingut der weitesten<lb/> Kreise machte. Dem Artikel wurde amtlicher Ursprung beigemessen, und die<lb/> ganze deutsche Presse beschäftigte sich damit. Allgemein wurde die von Frank¬<lb/> reich drohende Kriegsgefahr besprochen und an einzelnen Stellen auch dem<lb/> Gedanken Ausdruck gegeben, daß, wenn ein neuer Krieg doch unvermeidlich sei,<lb/> es besser wäre, ihn früher zu führen, als zu warten, bis Frankreich vollständig<lb/> gerüstet sei und seinerseits anfange. Während dieses Lärms beobachteten die<lb/> maßgebenden politischen Persönlichkeiten ihre Ruhe. Der französische Minister</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0113]
er sich, daß diese Regierungsform mehr als jede andere auf eine vorsichtige
Politik angewiesen war, während jeder Diktator oder Prätendent in Frankreich
zunächst und vor allem für sein persönliches Prestige sorgen mußte, also auf
die Pflege und Ausnutzung des Revanchegedankens geradezu hingewiesen wurde.
Daß Fürst Bismarck darin recht hatte, steht außer Zweifel. Für die Beweis¬
führung Ssaburows kommt es freilich nicht darauf an, ob man Bismarcks
Politik diese oder jene Deutung gibt. Das Tatsächliche in den Beziehungen
zwischen Deutschland und Frankreich ist richtig gekennzeichnet, und daran knüpft
Ssabnrow mit Recht die weitere Feststellung, daß Bismarck um so mehr bestrebt
war, die Ostgrenze des Reiches durch ein Bündnis mit Rußland zu decken.
Deutschland hatte auch durchaus kein Interesse, die deutschfeindliche Bewegung,
die sich in Rußland nach .1870 bemerkbar machte, durch einen Frontwechsel
noch mehr anzuspornen. Über diese Bewegung urteilt der Verfasser: „Sie war
verhängnisvoll, unvermeidlich; es war die spontane Stimme eines National¬
gefühls, das sich um die Berechnungen der Politik nicht kümmert." Leider war
Alexander der Zweite nicht stark genug, um solchen Bewegungen dadurch die
Spitze zu bieten, daß er seinen Kanzler ausschließlich zum Vollstrecker seines Willens
machte. Ssaburow sagt in dieser Gedankenverbindung sehr bezeichnend für die
Verhältnisse: „Nichts ist gefährlicher für einen Herrscher, als einen Minister zu
behalten, dessen Ideen von den seinigen abweichen; er läuft Gefahr, unbewußt
das Werkzeug dieses Ministers zu werden, der vor ihm den Vorteil voraus
hat, die Einzelheiten der Geschäfte zu beherrschen (I'avgnwAe nie cliliZer le
clef Maires)."
Hieran knüpft sich nun die Schilderung der bekannten Episode von 1875.
Der Hergang, wie er sich zu jener Zeit der Öffentlichkeit darstellte, mag hier
in folgendem noch einmal kurz skizziert werden. Die Annahme des französischen
Cadregesetzes im Frühjahr 1875 bedeutete eine so ungeheure Anspannung der
militärischen Kräfte Frankreichs, daß in sachverständigen Kreisen Deutschlands
der Eindruck entstand, dies könne unmöglich als eine dauernde Belastung zu¬
gunsten der allgemeinen Verteidigungsfähigkeit des Landes angesehen werden,
es sei vielmehr nur aus der Absicht zu erklären, daß Frankreich binnen kurzer
Zeit eine neue kriegerische Auseinandersetzung mit Deutschland herbeiführen
wolle. Während diese Sorgen anfangs nur die militärischen Kreise beschäftigten,
erschien am 8. April in der Post ein Alarmartikel mit der Überschrift: „Ist
der Krieg in Sicht?", der die Beunruhigung zum Gemeingut der weitesten
Kreise machte. Dem Artikel wurde amtlicher Ursprung beigemessen, und die
ganze deutsche Presse beschäftigte sich damit. Allgemein wurde die von Frank¬
reich drohende Kriegsgefahr besprochen und an einzelnen Stellen auch dem
Gedanken Ausdruck gegeben, daß, wenn ein neuer Krieg doch unvermeidlich sei,
es besser wäre, ihn früher zu führen, als zu warten, bis Frankreich vollständig
gerüstet sei und seinerseits anfange. Während dieses Lärms beobachteten die
maßgebenden politischen Persönlichkeiten ihre Ruhe. Der französische Minister
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