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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Rußland, Frankreich und Deutschland

"Man hat bei dieser Gelegenheit gesagt: .Rußland hat sich von Preußen
ausbeuten lassen.' Dieses Wort ist. weil es beständig wiederholt wurde, für
die Moskaner Patrioten eine geschichtliche Wahrheit geworden. Niemals aber
ist eine Anklage ungerechter gewesen. Wenn von Ausbeutung die Rede sein
kann, so ist sie gegenseitig gewesen. In Wahrheit hat sich Kaiser Alexander
erst von diesem Augenblick an in Europa politisch wohlgefühlt und hat Rußland
seine alte Stellung in der Welt wiedergegeben."

Nach Ssaburows Urteil bezeugte der Besuch Kaiser Wilhelms des Ersten
in Se. Petersburg im Jahre 1878 die Tatsache, daß die beiden Herrscher damals
die Herren der Welt waren. Kein Wunder, daß die Idee eines ständigen
Bündnisses auftauchte. Wäre es dazu gekommen, so wäre das auch für Ru߬
lands Orientpolitik von außerordentlicher Bedeutung gewesen. Aber die anti¬
deutsche Strömung war immer mächtiger geworden und machte sich auch in der
Regierung geltend. Alexander der Zweite war wohl tatsächlich und rechtlich,
aber nicht von Veranlagung Selbstherrscher. Wie Ssaburow hervorhebt, teilte
Fürst Gortschakow von Anfang an die Befürchtungen der Moskaner Patrioten
wegen der Einigung Deutschlands. Schon bei Beginn des Krieges hatte er die
Politik seines Kaisers, die er nicht verhindern konnte, nicht gut geheißen. Dieser
Stellungnahme entsprach auch sein Verfahren bei der Kündigung des Pariser
Vertrages.

Ssaburow weist nach, daß Gortschakow das gleicheZiel, die Befreiung Rußlands
von den ihm im Jahre 1856 auferlegten Beschränkungen, auf bequemere Weise
in vertrauensvollen Einvernehmen mit dem Fürsten Bismarck nach Beendigung
des Krieges erreichen konnte. Er wählte einen anderen Weg: die unvermittelte
Zerreißung des Vertrages während des Krieges. Er beschwor die Gefahr eines
allgemeinen europäischen Krieges herauf, um dadurch zu erreichen, daß Deutsch¬
land den Dienst, den es Nußland sonst freiwillig geleistet hätte, gewissermaßen
gezwungen leistete, um eine Erschwerung seiner eigenen politischen Lage zu ver¬
meiden. Der Druck, der von deutscher Seite auf England ausgeübt werden
mußte, um seine Zustimmung zu der geschaffenen Lage zu erlangen, erschien
jetzt nicht als ein Akt der Freundschaft und Dankbarkeit für Rußland, sondern
als ein Akt zur Wahrnehmung der eigenen Interessen, die es erforderten, daß
Deutschland in seiner kriegerischen Auseinandersetzung mit Frankreich allein
blieb und nicht durch neue kriegerische Verwicklungen mit anderen Mächten
gestört wurde.

Ssaburow nennt dieses Verfahren einen Meisterstreich Gortschakows, aber
er läßt bei aller Bewunderung für die diplomatische Geschicklichkeit feines alten
Meisters doch der Erkenntnis Raum, daß Gortschakow unrecht hatte. Zwischen
Kaiser Alexander und seinem Reichskanzler bestand eine tiefgehende Meinungs¬
verschiedenheit. Der Kaiser hatte die Erfahrung gemacht, daß ein schwaches
Preußen Österreichs Stellung verstärkt und es ermutigt hatte, in der Orient-
Politik Anschluß bei den Westmächten gegen Rußland zu suchen. Er sah daher


Rußland, Frankreich und Deutschland

„Man hat bei dieser Gelegenheit gesagt: .Rußland hat sich von Preußen
ausbeuten lassen.' Dieses Wort ist. weil es beständig wiederholt wurde, für
die Moskaner Patrioten eine geschichtliche Wahrheit geworden. Niemals aber
ist eine Anklage ungerechter gewesen. Wenn von Ausbeutung die Rede sein
kann, so ist sie gegenseitig gewesen. In Wahrheit hat sich Kaiser Alexander
erst von diesem Augenblick an in Europa politisch wohlgefühlt und hat Rußland
seine alte Stellung in der Welt wiedergegeben."

Nach Ssaburows Urteil bezeugte der Besuch Kaiser Wilhelms des Ersten
in Se. Petersburg im Jahre 1878 die Tatsache, daß die beiden Herrscher damals
die Herren der Welt waren. Kein Wunder, daß die Idee eines ständigen
Bündnisses auftauchte. Wäre es dazu gekommen, so wäre das auch für Ru߬
lands Orientpolitik von außerordentlicher Bedeutung gewesen. Aber die anti¬
deutsche Strömung war immer mächtiger geworden und machte sich auch in der
Regierung geltend. Alexander der Zweite war wohl tatsächlich und rechtlich,
aber nicht von Veranlagung Selbstherrscher. Wie Ssaburow hervorhebt, teilte
Fürst Gortschakow von Anfang an die Befürchtungen der Moskaner Patrioten
wegen der Einigung Deutschlands. Schon bei Beginn des Krieges hatte er die
Politik seines Kaisers, die er nicht verhindern konnte, nicht gut geheißen. Dieser
Stellungnahme entsprach auch sein Verfahren bei der Kündigung des Pariser
Vertrages.

Ssaburow weist nach, daß Gortschakow das gleicheZiel, die Befreiung Rußlands
von den ihm im Jahre 1856 auferlegten Beschränkungen, auf bequemere Weise
in vertrauensvollen Einvernehmen mit dem Fürsten Bismarck nach Beendigung
des Krieges erreichen konnte. Er wählte einen anderen Weg: die unvermittelte
Zerreißung des Vertrages während des Krieges. Er beschwor die Gefahr eines
allgemeinen europäischen Krieges herauf, um dadurch zu erreichen, daß Deutsch¬
land den Dienst, den es Nußland sonst freiwillig geleistet hätte, gewissermaßen
gezwungen leistete, um eine Erschwerung seiner eigenen politischen Lage zu ver¬
meiden. Der Druck, der von deutscher Seite auf England ausgeübt werden
mußte, um seine Zustimmung zu der geschaffenen Lage zu erlangen, erschien
jetzt nicht als ein Akt der Freundschaft und Dankbarkeit für Rußland, sondern
als ein Akt zur Wahrnehmung der eigenen Interessen, die es erforderten, daß
Deutschland in seiner kriegerischen Auseinandersetzung mit Frankreich allein
blieb und nicht durch neue kriegerische Verwicklungen mit anderen Mächten
gestört wurde.

Ssaburow nennt dieses Verfahren einen Meisterstreich Gortschakows, aber
er läßt bei aller Bewunderung für die diplomatische Geschicklichkeit feines alten
Meisters doch der Erkenntnis Raum, daß Gortschakow unrecht hatte. Zwischen
Kaiser Alexander und seinem Reichskanzler bestand eine tiefgehende Meinungs¬
verschiedenheit. Der Kaiser hatte die Erfahrung gemacht, daß ein schwaches
Preußen Österreichs Stellung verstärkt und es ermutigt hatte, in der Orient-
Politik Anschluß bei den Westmächten gegen Rußland zu suchen. Er sah daher


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[0111] Rußland, Frankreich und Deutschland „Man hat bei dieser Gelegenheit gesagt: .Rußland hat sich von Preußen ausbeuten lassen.' Dieses Wort ist. weil es beständig wiederholt wurde, für die Moskaner Patrioten eine geschichtliche Wahrheit geworden. Niemals aber ist eine Anklage ungerechter gewesen. Wenn von Ausbeutung die Rede sein kann, so ist sie gegenseitig gewesen. In Wahrheit hat sich Kaiser Alexander erst von diesem Augenblick an in Europa politisch wohlgefühlt und hat Rußland seine alte Stellung in der Welt wiedergegeben." Nach Ssaburows Urteil bezeugte der Besuch Kaiser Wilhelms des Ersten in Se. Petersburg im Jahre 1878 die Tatsache, daß die beiden Herrscher damals die Herren der Welt waren. Kein Wunder, daß die Idee eines ständigen Bündnisses auftauchte. Wäre es dazu gekommen, so wäre das auch für Ru߬ lands Orientpolitik von außerordentlicher Bedeutung gewesen. Aber die anti¬ deutsche Strömung war immer mächtiger geworden und machte sich auch in der Regierung geltend. Alexander der Zweite war wohl tatsächlich und rechtlich, aber nicht von Veranlagung Selbstherrscher. Wie Ssaburow hervorhebt, teilte Fürst Gortschakow von Anfang an die Befürchtungen der Moskaner Patrioten wegen der Einigung Deutschlands. Schon bei Beginn des Krieges hatte er die Politik seines Kaisers, die er nicht verhindern konnte, nicht gut geheißen. Dieser Stellungnahme entsprach auch sein Verfahren bei der Kündigung des Pariser Vertrages. Ssaburow weist nach, daß Gortschakow das gleicheZiel, die Befreiung Rußlands von den ihm im Jahre 1856 auferlegten Beschränkungen, auf bequemere Weise in vertrauensvollen Einvernehmen mit dem Fürsten Bismarck nach Beendigung des Krieges erreichen konnte. Er wählte einen anderen Weg: die unvermittelte Zerreißung des Vertrages während des Krieges. Er beschwor die Gefahr eines allgemeinen europäischen Krieges herauf, um dadurch zu erreichen, daß Deutsch¬ land den Dienst, den es Nußland sonst freiwillig geleistet hätte, gewissermaßen gezwungen leistete, um eine Erschwerung seiner eigenen politischen Lage zu ver¬ meiden. Der Druck, der von deutscher Seite auf England ausgeübt werden mußte, um seine Zustimmung zu der geschaffenen Lage zu erlangen, erschien jetzt nicht als ein Akt der Freundschaft und Dankbarkeit für Rußland, sondern als ein Akt zur Wahrnehmung der eigenen Interessen, die es erforderten, daß Deutschland in seiner kriegerischen Auseinandersetzung mit Frankreich allein blieb und nicht durch neue kriegerische Verwicklungen mit anderen Mächten gestört wurde. Ssaburow nennt dieses Verfahren einen Meisterstreich Gortschakows, aber er läßt bei aller Bewunderung für die diplomatische Geschicklichkeit feines alten Meisters doch der Erkenntnis Raum, daß Gortschakow unrecht hatte. Zwischen Kaiser Alexander und seinem Reichskanzler bestand eine tiefgehende Meinungs¬ verschiedenheit. Der Kaiser hatte die Erfahrung gemacht, daß ein schwaches Preußen Österreichs Stellung verstärkt und es ermutigt hatte, in der Orient- Politik Anschluß bei den Westmächten gegen Rußland zu suchen. Er sah daher

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/111>, abgerufen am 26.06.2024.