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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Reichsspiegel

den verschiedensten Gebieten, aber eine Annäherung der Parteien hat nicht
stattgefunden.

Woran die Politik des fünften Kanzlers leidet, wird uns peinlich deutlich
an dem Auftreten des neuen bayerischen Ministerpräsidenten, des greisen Frei¬
herrn v. Hertling. Man vergleiche seinen Antritt in der bayerischen Kammer
mit dem des deutschen Reichskanzlers vor zweieinhalb Jahren. Freiherr v. Hertling
hat nicht erst Anfragen und Interpellationen abgewartet, um der Kammer und
dem Lande zu sagen, was er will und auf welchem Boden die Regierung steht.
Er hat entgegen allem Brauch bei Eröffnung der Kammer das Wort ergriffen
und gesagt, was er will. Freilich hatte er es leichter als der deutsche Reichs¬
kanzler, weil er von vornherein auf eine Mehrheit in der Kammer rechnen
kann, die seinen Zielen zustrebt. Zwar betonte er in seiner Rede ausdrücklich,
daß er nicht durch das Vertrauen dieser Kammermehrheit auf seinen Posten
gelangt sei, sondern ausschließlich durch das Vertrauen seines Monarchen --
aber er betonte es in dem Bewußtsein, daß dies Bekenntnis seiner Stellung
nur nützlich sein würde. Das Zentrum begnügt sich mit Siegen, die ihren Wert
in sich haben. Herr v. Bethmann traf seinerzeit eine weit schwierigere Lage
an. Er hatte keine Mehrheit im alten Reichstage, es sei denn, daß er vom
ersten Tage der Übernahme der Regierungsgeschäfte an seinen Vorgänger desavouiert
hätte und sich auf Konservative und Zentrum stützte, was übrigens die logische




Reichsspiegel

den verschiedensten Gebieten, aber eine Annäherung der Parteien hat nicht
stattgefunden.

Woran die Politik des fünften Kanzlers leidet, wird uns peinlich deutlich
an dem Auftreten des neuen bayerischen Ministerpräsidenten, des greisen Frei¬
herrn v. Hertling. Man vergleiche seinen Antritt in der bayerischen Kammer
mit dem des deutschen Reichskanzlers vor zweieinhalb Jahren. Freiherr v. Hertling
hat nicht erst Anfragen und Interpellationen abgewartet, um der Kammer und
dem Lande zu sagen, was er will und auf welchem Boden die Regierung steht.
Er hat entgegen allem Brauch bei Eröffnung der Kammer das Wort ergriffen
und gesagt, was er will. Freilich hatte er es leichter als der deutsche Reichs¬
kanzler, weil er von vornherein auf eine Mehrheit in der Kammer rechnen
kann, die seinen Zielen zustrebt. Zwar betonte er in seiner Rede ausdrücklich,
daß er nicht durch das Vertrauen dieser Kammermehrheit auf seinen Posten
gelangt sei, sondern ausschließlich durch das Vertrauen seines Monarchen —
aber er betonte es in dem Bewußtsein, daß dies Bekenntnis seiner Stellung
nur nützlich sein würde. Das Zentrum begnügt sich mit Siegen, die ihren Wert
in sich haben. Herr v. Bethmann traf seinerzeit eine weit schwierigere Lage
an. Er hatte keine Mehrheit im alten Reichstage, es sei denn, daß er vom
ersten Tage der Übernahme der Regierungsgeschäfte an seinen Vorgänger desavouiert
hätte und sich auf Konservative und Zentrum stützte, was übrigens die logische




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[0554] Reichsspiegel den verschiedensten Gebieten, aber eine Annäherung der Parteien hat nicht stattgefunden. Woran die Politik des fünften Kanzlers leidet, wird uns peinlich deutlich an dem Auftreten des neuen bayerischen Ministerpräsidenten, des greisen Frei¬ herrn v. Hertling. Man vergleiche seinen Antritt in der bayerischen Kammer mit dem des deutschen Reichskanzlers vor zweieinhalb Jahren. Freiherr v. Hertling hat nicht erst Anfragen und Interpellationen abgewartet, um der Kammer und dem Lande zu sagen, was er will und auf welchem Boden die Regierung steht. Er hat entgegen allem Brauch bei Eröffnung der Kammer das Wort ergriffen und gesagt, was er will. Freilich hatte er es leichter als der deutsche Reichs¬ kanzler, weil er von vornherein auf eine Mehrheit in der Kammer rechnen kann, die seinen Zielen zustrebt. Zwar betonte er in seiner Rede ausdrücklich, daß er nicht durch das Vertrauen dieser Kammermehrheit auf seinen Posten gelangt sei, sondern ausschließlich durch das Vertrauen seines Monarchen — aber er betonte es in dem Bewußtsein, daß dies Bekenntnis seiner Stellung nur nützlich sein würde. Das Zentrum begnügt sich mit Siegen, die ihren Wert in sich haben. Herr v. Bethmann traf seinerzeit eine weit schwierigere Lage an. Er hatte keine Mehrheit im alten Reichstage, es sei denn, daß er vom ersten Tage der Übernahme der Regierungsgeschäfte an seinen Vorgänger desavouiert hätte und sich auf Konservative und Zentrum stützte, was übrigens die logische

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/554>, abgerufen am 20.10.2024.