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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Vereine und Verbände haben die politischen Parteien des Bürgertums ruiniert;
konservativ und liberal sind Begriffe geworden, die mit dem Wesen der so be¬
zeichneten politischen Gruppen kaum noch etwas gemein haben, und hinter dem
Wort "national" verbergen sich neuerdings vielfach Auffassungen und Be¬
strebungen, die auf eine tiefgreifende Krisis des nationalen Ideals schließen lassen.

Nicht ohne Einfluß auf die politischen Parteien ist auch das Aufkommen so¬
genannter unparteiisch-nationaler Vereine. Alldeutscher Verband, wie
auch im gewissen Sinne Flotten-, Ostmarken- und Wehr-Verein, müssen, um
selbst bestehen zu können, den politischen Parteien Kräfte, vor allen
Dingen moralische Kräfte entziehen. Selbstverständlich absichtslos. So segens¬
reich die Aufklärungsarbeit des Flotten- und Ostmarken-Vereins war, so wert¬
voll in mancher Hinsicht die Arbeit der Altdeutschen im Auslande ist, so nach¬
teilig wirkt die in diesen Organisationen liegende Spezialisierung auf die Entwicklung
der politischen Parteien. Ich bin überzeugt, daß z. B. die Ostmarkenpolitik an¬
gesichts der ausgezeichneten Aufklärungsarbeit des Ostmarkenvereins nicht so rettungs¬
los in den Sumpf geraten konnte, wenn statt eines unabhängigen, unpolitischen Ost¬
markenvereins oder wenigstens neben ihm jede der politischen Parteien ein spezielles
Organ für Polenfrage uno Jnnenkolonisation hätte; ich glaube, daß ein Gegensatz
zwischen Flotten- und Wehrverein, wie er sich immer mehr herausbildet, unmöglich
wäre, wenn jede politische Partei ihrer Organisation eine entsprechende Fachabteilung
angeschlossen hätte. Jetzt hat es fast den Anschein, als sollte der Wehrverein --
durchaus gegen die Absichten seiner Leitung -- mehr ein Anhängsel der agrarischen
konservativen Partei werden, während man den Flottenverein gern zu einem
Propaganda-Organ der Industrie stempeln möchte. Die hier angedeutete Ent¬
wicklung darf so nicht weiter gehen: den politischen Parteien müssen die Materien
aus der nationalen Politik wieder stärker zugeführt werden, damit die gemeinsamen
Interessen größere Bedeutung sür sie erhalten. Bei dem jetzigen Zustande glaubt
man sich den nationalen Dingen in den Parteien nicht mit der Intensität
widmen zu müssen, die sie tatsächlich beanspruchen, weil man sie bei den
SpezialVereinen in guter Hut weiß. Die Partei, die solchen Gesichtspunkten
bei der Ergänzung ihrer Organisation am besten Rechnung trüge, würde auch bei
den nächsten Wahlen die meisten Fortschritte zu verzeichnen haben.

Zum Schluß noch einen Blick auf die Haltung der Negierung. Sie
wird von allen Seiten nicht ohne Mißtrauen und Bangen betrachtet. Die
Zurückhaltung, die der Herr Reichskanzler sich seit seinem Antritt auferlegt hat
und an der er immer noch festhält, wirkt lähmend und hindert die Verständigung
zwischen den Parteien. Herr v. Bethmann ist in den fast drei Jahren seiner
Amtstätigkeit als Reichskanzler nicht einen Schritt vorangekommen, und was
dank seinem zähen Festhalten an Gutem zustande gekommen, verliert sich in
dem Meer von Unmut, das ihn umgibt. Sein Prinzip, sich Vertrauen zu
erwerben durch Beschäftigung, durch Erziehung der Fraktionen und Parteien
zur Pflicht, hat Schiffbruch gelitten. Die gemeinsame Arbeit wurde geleistet auf


Reichsspiegel

Vereine und Verbände haben die politischen Parteien des Bürgertums ruiniert;
konservativ und liberal sind Begriffe geworden, die mit dem Wesen der so be¬
zeichneten politischen Gruppen kaum noch etwas gemein haben, und hinter dem
Wort „national" verbergen sich neuerdings vielfach Auffassungen und Be¬
strebungen, die auf eine tiefgreifende Krisis des nationalen Ideals schließen lassen.

Nicht ohne Einfluß auf die politischen Parteien ist auch das Aufkommen so¬
genannter unparteiisch-nationaler Vereine. Alldeutscher Verband, wie
auch im gewissen Sinne Flotten-, Ostmarken- und Wehr-Verein, müssen, um
selbst bestehen zu können, den politischen Parteien Kräfte, vor allen
Dingen moralische Kräfte entziehen. Selbstverständlich absichtslos. So segens¬
reich die Aufklärungsarbeit des Flotten- und Ostmarken-Vereins war, so wert¬
voll in mancher Hinsicht die Arbeit der Altdeutschen im Auslande ist, so nach¬
teilig wirkt die in diesen Organisationen liegende Spezialisierung auf die Entwicklung
der politischen Parteien. Ich bin überzeugt, daß z. B. die Ostmarkenpolitik an¬
gesichts der ausgezeichneten Aufklärungsarbeit des Ostmarkenvereins nicht so rettungs¬
los in den Sumpf geraten konnte, wenn statt eines unabhängigen, unpolitischen Ost¬
markenvereins oder wenigstens neben ihm jede der politischen Parteien ein spezielles
Organ für Polenfrage uno Jnnenkolonisation hätte; ich glaube, daß ein Gegensatz
zwischen Flotten- und Wehrverein, wie er sich immer mehr herausbildet, unmöglich
wäre, wenn jede politische Partei ihrer Organisation eine entsprechende Fachabteilung
angeschlossen hätte. Jetzt hat es fast den Anschein, als sollte der Wehrverein —
durchaus gegen die Absichten seiner Leitung — mehr ein Anhängsel der agrarischen
konservativen Partei werden, während man den Flottenverein gern zu einem
Propaganda-Organ der Industrie stempeln möchte. Die hier angedeutete Ent¬
wicklung darf so nicht weiter gehen: den politischen Parteien müssen die Materien
aus der nationalen Politik wieder stärker zugeführt werden, damit die gemeinsamen
Interessen größere Bedeutung sür sie erhalten. Bei dem jetzigen Zustande glaubt
man sich den nationalen Dingen in den Parteien nicht mit der Intensität
widmen zu müssen, die sie tatsächlich beanspruchen, weil man sie bei den
SpezialVereinen in guter Hut weiß. Die Partei, die solchen Gesichtspunkten
bei der Ergänzung ihrer Organisation am besten Rechnung trüge, würde auch bei
den nächsten Wahlen die meisten Fortschritte zu verzeichnen haben.

Zum Schluß noch einen Blick auf die Haltung der Negierung. Sie
wird von allen Seiten nicht ohne Mißtrauen und Bangen betrachtet. Die
Zurückhaltung, die der Herr Reichskanzler sich seit seinem Antritt auferlegt hat
und an der er immer noch festhält, wirkt lähmend und hindert die Verständigung
zwischen den Parteien. Herr v. Bethmann ist in den fast drei Jahren seiner
Amtstätigkeit als Reichskanzler nicht einen Schritt vorangekommen, und was
dank seinem zähen Festhalten an Gutem zustande gekommen, verliert sich in
dem Meer von Unmut, das ihn umgibt. Sein Prinzip, sich Vertrauen zu
erwerben durch Beschäftigung, durch Erziehung der Fraktionen und Parteien
zur Pflicht, hat Schiffbruch gelitten. Die gemeinsame Arbeit wurde geleistet auf


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[0553] Reichsspiegel Vereine und Verbände haben die politischen Parteien des Bürgertums ruiniert; konservativ und liberal sind Begriffe geworden, die mit dem Wesen der so be¬ zeichneten politischen Gruppen kaum noch etwas gemein haben, und hinter dem Wort „national" verbergen sich neuerdings vielfach Auffassungen und Be¬ strebungen, die auf eine tiefgreifende Krisis des nationalen Ideals schließen lassen. Nicht ohne Einfluß auf die politischen Parteien ist auch das Aufkommen so¬ genannter unparteiisch-nationaler Vereine. Alldeutscher Verband, wie auch im gewissen Sinne Flotten-, Ostmarken- und Wehr-Verein, müssen, um selbst bestehen zu können, den politischen Parteien Kräfte, vor allen Dingen moralische Kräfte entziehen. Selbstverständlich absichtslos. So segens¬ reich die Aufklärungsarbeit des Flotten- und Ostmarken-Vereins war, so wert¬ voll in mancher Hinsicht die Arbeit der Altdeutschen im Auslande ist, so nach¬ teilig wirkt die in diesen Organisationen liegende Spezialisierung auf die Entwicklung der politischen Parteien. Ich bin überzeugt, daß z. B. die Ostmarkenpolitik an¬ gesichts der ausgezeichneten Aufklärungsarbeit des Ostmarkenvereins nicht so rettungs¬ los in den Sumpf geraten konnte, wenn statt eines unabhängigen, unpolitischen Ost¬ markenvereins oder wenigstens neben ihm jede der politischen Parteien ein spezielles Organ für Polenfrage uno Jnnenkolonisation hätte; ich glaube, daß ein Gegensatz zwischen Flotten- und Wehrverein, wie er sich immer mehr herausbildet, unmöglich wäre, wenn jede politische Partei ihrer Organisation eine entsprechende Fachabteilung angeschlossen hätte. Jetzt hat es fast den Anschein, als sollte der Wehrverein — durchaus gegen die Absichten seiner Leitung — mehr ein Anhängsel der agrarischen konservativen Partei werden, während man den Flottenverein gern zu einem Propaganda-Organ der Industrie stempeln möchte. Die hier angedeutete Ent¬ wicklung darf so nicht weiter gehen: den politischen Parteien müssen die Materien aus der nationalen Politik wieder stärker zugeführt werden, damit die gemeinsamen Interessen größere Bedeutung sür sie erhalten. Bei dem jetzigen Zustande glaubt man sich den nationalen Dingen in den Parteien nicht mit der Intensität widmen zu müssen, die sie tatsächlich beanspruchen, weil man sie bei den SpezialVereinen in guter Hut weiß. Die Partei, die solchen Gesichtspunkten bei der Ergänzung ihrer Organisation am besten Rechnung trüge, würde auch bei den nächsten Wahlen die meisten Fortschritte zu verzeichnen haben. Zum Schluß noch einen Blick auf die Haltung der Negierung. Sie wird von allen Seiten nicht ohne Mißtrauen und Bangen betrachtet. Die Zurückhaltung, die der Herr Reichskanzler sich seit seinem Antritt auferlegt hat und an der er immer noch festhält, wirkt lähmend und hindert die Verständigung zwischen den Parteien. Herr v. Bethmann ist in den fast drei Jahren seiner Amtstätigkeit als Reichskanzler nicht einen Schritt vorangekommen, und was dank seinem zähen Festhalten an Gutem zustande gekommen, verliert sich in dem Meer von Unmut, das ihn umgibt. Sein Prinzip, sich Vertrauen zu erwerben durch Beschäftigung, durch Erziehung der Fraktionen und Parteien zur Pflicht, hat Schiffbruch gelitten. Die gemeinsame Arbeit wurde geleistet auf

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/553>, abgerufen am 27.09.2024.