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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Reichsspiegel

in den nächsten Tagen Gelegenheit haben, zu beobachten, wie die sozialdemokratische
Parteileitung den neugewonnenen Agitationsstoff ausnutzen wird.

Am Montag, dem 11. März, sind zweihunderttausend organisierte
Bergarbeiter in Westfalen in den Aufstand getreten, der sich immer
deutlicher als ein Sympathiestreik für die englischen Arbeiter kennzeichnet.
Die wirtschaftlichen Fragen, die seitens der Streitenden in den Vordergrund
geschoben werden, erscheinen um so weniger stichhaltig, als die aufsteigende
Konjunktur auch eine Steigerung der Löhne automatisch in Aussicht stellte.
Der Streik im Ruhrgebiet trägt somit alle Merkmale einer politischen Macht¬
probe an sich. Man hat den Eindruck, als ständen die Führer der roten
Internationale ähnlich wie zu Zeiten der russischen Revolution wieder einmal voll¬
ständig im Banne der Kladderadatsch-Theorie, als glaubten sie ihrem Ziele heute
näher zu sein als je, weil der ganze Erdball auf seiner Oberfläche eine Unruhe
zeigt, wie schon seit einem halben Jahrhundert nicht. Der Krieg um Tripolitanien
muß scheinbar diese Auffassung ebenso stützen wie die Revolution in China und die
Verbitterung der nationalen Parteien in Deutschland. Die Artikel des Vorwärts
atmen Siegeszuversicht.

Nun gilt es für den bürgerlichen Staat kaltblütig und unbekümmert um
das Drängen der Reichsverbändler die Maßnahmen zu treffen, um der roten
Partei eine Niederlage zu bereiten. Auf die Arbeitswilligen wird die Erklärung
der Regierung, die ihnen vollkommensten Schutz verspricht, den denkbar besten
Einfluß ausüben. Ebenso ist es warm zu begrüßen, daß die Regierung die
vorhandenen Gesetze als ausreichend bezeichnet, um Ruhe und Sicherheit im
Streikgebiet zu gewährleisten. Wir brauchen in der Tat keine Ausnahmegesetze,
auch kein Arbeitswilligengesetz, wie es neuerdings aus der Mitte des Herren¬
hauses vorgeschlagen wird. Was wir dagegen brauchen, das ist eine bessere
Organisation der bürgerlichen Parteien, ein größeres Interesse dieser Parteien auch
für die kulturellen Lebensbedingungen der Arbeiterfamilien. Wo die bürgerlichen
Parteien mit großer Aussicht auf vollen Erfolg mit ihrer Tätigkeit einsetzen könnten,
zeigen die Ausführungen Claßens in seinem weiter oben (S. 515) gedruckten
Aufsatz über die Arbeiterjugend. Claßen zeigt, wie ausgehöhlt der Sozialismus
ist und wie viel Raum er geschaffen hat für eine ernsthaft menschenfreundliche
Kulturarbeit in der Arbeiterjugend (s. auch Heft 1: "Wie gewinnen wir die
Arbeiterjugend").

Fragt sich nur, ob das heutige Bürgertum mit seinen politischen Organi¬
sationen dieser Aufgabe gewachsen ist. Was der Augenschein lehrt, ist nicht
sehr vertrauenerweckend.

Die bürgerlichen Parteien machen mit Ausnahme des Zentrums den
Eindruck, als seien sie der Auflösung verfallen. Was sie zusammenhält,
das sind wirtschaftliche Gesichtspunkte. Somit ist das eingetreten, was in
den Grenzboten schon seit Jahren als notwendige Folge der ausschlie߬
lichen Herrschaft ökonomischer Interessen bezeichnet wird: die wirtschaftlichen


Reichsspiegel

in den nächsten Tagen Gelegenheit haben, zu beobachten, wie die sozialdemokratische
Parteileitung den neugewonnenen Agitationsstoff ausnutzen wird.

Am Montag, dem 11. März, sind zweihunderttausend organisierte
Bergarbeiter in Westfalen in den Aufstand getreten, der sich immer
deutlicher als ein Sympathiestreik für die englischen Arbeiter kennzeichnet.
Die wirtschaftlichen Fragen, die seitens der Streitenden in den Vordergrund
geschoben werden, erscheinen um so weniger stichhaltig, als die aufsteigende
Konjunktur auch eine Steigerung der Löhne automatisch in Aussicht stellte.
Der Streik im Ruhrgebiet trägt somit alle Merkmale einer politischen Macht¬
probe an sich. Man hat den Eindruck, als ständen die Führer der roten
Internationale ähnlich wie zu Zeiten der russischen Revolution wieder einmal voll¬
ständig im Banne der Kladderadatsch-Theorie, als glaubten sie ihrem Ziele heute
näher zu sein als je, weil der ganze Erdball auf seiner Oberfläche eine Unruhe
zeigt, wie schon seit einem halben Jahrhundert nicht. Der Krieg um Tripolitanien
muß scheinbar diese Auffassung ebenso stützen wie die Revolution in China und die
Verbitterung der nationalen Parteien in Deutschland. Die Artikel des Vorwärts
atmen Siegeszuversicht.

Nun gilt es für den bürgerlichen Staat kaltblütig und unbekümmert um
das Drängen der Reichsverbändler die Maßnahmen zu treffen, um der roten
Partei eine Niederlage zu bereiten. Auf die Arbeitswilligen wird die Erklärung
der Regierung, die ihnen vollkommensten Schutz verspricht, den denkbar besten
Einfluß ausüben. Ebenso ist es warm zu begrüßen, daß die Regierung die
vorhandenen Gesetze als ausreichend bezeichnet, um Ruhe und Sicherheit im
Streikgebiet zu gewährleisten. Wir brauchen in der Tat keine Ausnahmegesetze,
auch kein Arbeitswilligengesetz, wie es neuerdings aus der Mitte des Herren¬
hauses vorgeschlagen wird. Was wir dagegen brauchen, das ist eine bessere
Organisation der bürgerlichen Parteien, ein größeres Interesse dieser Parteien auch
für die kulturellen Lebensbedingungen der Arbeiterfamilien. Wo die bürgerlichen
Parteien mit großer Aussicht auf vollen Erfolg mit ihrer Tätigkeit einsetzen könnten,
zeigen die Ausführungen Claßens in seinem weiter oben (S. 515) gedruckten
Aufsatz über die Arbeiterjugend. Claßen zeigt, wie ausgehöhlt der Sozialismus
ist und wie viel Raum er geschaffen hat für eine ernsthaft menschenfreundliche
Kulturarbeit in der Arbeiterjugend (s. auch Heft 1: „Wie gewinnen wir die
Arbeiterjugend").

Fragt sich nur, ob das heutige Bürgertum mit seinen politischen Organi¬
sationen dieser Aufgabe gewachsen ist. Was der Augenschein lehrt, ist nicht
sehr vertrauenerweckend.

Die bürgerlichen Parteien machen mit Ausnahme des Zentrums den
Eindruck, als seien sie der Auflösung verfallen. Was sie zusammenhält,
das sind wirtschaftliche Gesichtspunkte. Somit ist das eingetreten, was in
den Grenzboten schon seit Jahren als notwendige Folge der ausschlie߬
lichen Herrschaft ökonomischer Interessen bezeichnet wird: die wirtschaftlichen


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[0552] Reichsspiegel in den nächsten Tagen Gelegenheit haben, zu beobachten, wie die sozialdemokratische Parteileitung den neugewonnenen Agitationsstoff ausnutzen wird. Am Montag, dem 11. März, sind zweihunderttausend organisierte Bergarbeiter in Westfalen in den Aufstand getreten, der sich immer deutlicher als ein Sympathiestreik für die englischen Arbeiter kennzeichnet. Die wirtschaftlichen Fragen, die seitens der Streitenden in den Vordergrund geschoben werden, erscheinen um so weniger stichhaltig, als die aufsteigende Konjunktur auch eine Steigerung der Löhne automatisch in Aussicht stellte. Der Streik im Ruhrgebiet trägt somit alle Merkmale einer politischen Macht¬ probe an sich. Man hat den Eindruck, als ständen die Führer der roten Internationale ähnlich wie zu Zeiten der russischen Revolution wieder einmal voll¬ ständig im Banne der Kladderadatsch-Theorie, als glaubten sie ihrem Ziele heute näher zu sein als je, weil der ganze Erdball auf seiner Oberfläche eine Unruhe zeigt, wie schon seit einem halben Jahrhundert nicht. Der Krieg um Tripolitanien muß scheinbar diese Auffassung ebenso stützen wie die Revolution in China und die Verbitterung der nationalen Parteien in Deutschland. Die Artikel des Vorwärts atmen Siegeszuversicht. Nun gilt es für den bürgerlichen Staat kaltblütig und unbekümmert um das Drängen der Reichsverbändler die Maßnahmen zu treffen, um der roten Partei eine Niederlage zu bereiten. Auf die Arbeitswilligen wird die Erklärung der Regierung, die ihnen vollkommensten Schutz verspricht, den denkbar besten Einfluß ausüben. Ebenso ist es warm zu begrüßen, daß die Regierung die vorhandenen Gesetze als ausreichend bezeichnet, um Ruhe und Sicherheit im Streikgebiet zu gewährleisten. Wir brauchen in der Tat keine Ausnahmegesetze, auch kein Arbeitswilligengesetz, wie es neuerdings aus der Mitte des Herren¬ hauses vorgeschlagen wird. Was wir dagegen brauchen, das ist eine bessere Organisation der bürgerlichen Parteien, ein größeres Interesse dieser Parteien auch für die kulturellen Lebensbedingungen der Arbeiterfamilien. Wo die bürgerlichen Parteien mit großer Aussicht auf vollen Erfolg mit ihrer Tätigkeit einsetzen könnten, zeigen die Ausführungen Claßens in seinem weiter oben (S. 515) gedruckten Aufsatz über die Arbeiterjugend. Claßen zeigt, wie ausgehöhlt der Sozialismus ist und wie viel Raum er geschaffen hat für eine ernsthaft menschenfreundliche Kulturarbeit in der Arbeiterjugend (s. auch Heft 1: „Wie gewinnen wir die Arbeiterjugend"). Fragt sich nur, ob das heutige Bürgertum mit seinen politischen Organi¬ sationen dieser Aufgabe gewachsen ist. Was der Augenschein lehrt, ist nicht sehr vertrauenerweckend. Die bürgerlichen Parteien machen mit Ausnahme des Zentrums den Eindruck, als seien sie der Auflösung verfallen. Was sie zusammenhält, das sind wirtschaftliche Gesichtspunkte. Somit ist das eingetreten, was in den Grenzboten schon seit Jahren als notwendige Folge der ausschlie߬ lichen Herrschaft ökonomischer Interessen bezeichnet wird: die wirtschaftlichen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/552>, abgerufen am 27.09.2024.