Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Franz Meilers Martyrium

Weiler öffnet die Fenster, schließt die Tür ab, bringt den Schlüssel zum
Polizeidiener, der dem Schulhause gegenüber wohnt, und geht die Straße hinauf
seinem Hause zu. Seinem Hause. Jawohl: seinem Hause.

Hundert Schritte vor ihm gehen die beiden Buben, zwischen sich den
Korb, den sie leise nach vorn und hinten schaukeln. Der dumme Heinrich
Erdelmeier hängt mit fanatischer Liebe an Franz. Was sein Verstand nicht
erfassen kann, das begreift die Liebe seines Herzens. Das nämlich, daß Franz
leidet. Er fragt:

"Gell, Franz. dein Babba kann dich net leide?"

"Heiner, des darf mer net sage!"

"Gell, Franz, er rise der awwer ganet mit deim Name?"

Franz gibt als Antwort ein Seufzen.

Sein Kamerad fragt weiter:

"Franz, kummschte heit Mittag e Bißje uff die Gaß spiele mit mer?"

"Heiner, ich muß grase gehe. Mein Babba siehts auch net gern, wann
ich mit euch spiel."

"Gell, Franz, weil mer net so sei sin wie Schullehrerskinner? Awwer ich
tact als gäärn e bißje spiele mit der. Franz, 's allerliebscht bin ich bei deer!"

Und in seinen stumpfen, dummen Augen geht ein Licht auf. Sie haben
den Ausdruck wie die eines treuen Hundes, der den Herrn nicht verlassen will.

"Gell, Franz. du kannscht mich aach gut leide, wann ich aach en dumme
Ochs bin?"

"Heiner, 's hat nix ze sage, wann mer auch net so arg gescheidt is. Mei
Tante sagt als: Wann mer nur en gut Herz hat. Und nachher schenk ich dir
en Griffel mit Goldpapier und en par Klinker."

Der Heiner ist überglücklich. Er meint:

"Franz, die Klinker, wu ich our deer hab, gilt aaner so viel als wie our
de ärmere Buwe ehre zwaa!"

Seine Liebe verdoppelt den Wert des Geschenkes vom Freund, um es zu
ehren. Und Heinrich ist der Dümmste in der Klasse.

"Franz, ich hab aach werklich net gelacht, wie dein Babba dich vorhin
geuzt Hot. Eigentlich mischt du aach in de owwerscht Bank z' owwerscht sitze.
Du bischt viel gescheidter wies Sattigs Philp!"

Franz antwortet nichts darauf, nur ein Weh zuckt um seinen Mund. Ach,
auf dem obersten Platz in der Klasse sitzen zu dürfen! Und vom Vater geliebt
ZU werden! Und Fleiß und Tüchtigkeit von ihm anerkannt zu sehen! Und
deshalb geehrt von den Mitschülern. Geehrt wie von dem einzigen Heinrich
Erdelmeier! Und so in liebender Kameradschaft mit ihnen spielen dürfen!

Im Hofe stellen die beiden Buben den Korb unterm Schuppen ab. Franz
schnallt den Schulranzen vom Rücken und holt den Griffelkasten daraus hervor,
dem er den versprochenen "Griffel mit Goldpapier" entnimmt.


Franz Meilers Martyrium

Weiler öffnet die Fenster, schließt die Tür ab, bringt den Schlüssel zum
Polizeidiener, der dem Schulhause gegenüber wohnt, und geht die Straße hinauf
seinem Hause zu. Seinem Hause. Jawohl: seinem Hause.

Hundert Schritte vor ihm gehen die beiden Buben, zwischen sich den
Korb, den sie leise nach vorn und hinten schaukeln. Der dumme Heinrich
Erdelmeier hängt mit fanatischer Liebe an Franz. Was sein Verstand nicht
erfassen kann, das begreift die Liebe seines Herzens. Das nämlich, daß Franz
leidet. Er fragt:

„Gell, Franz. dein Babba kann dich net leide?"

„Heiner, des darf mer net sage!"

„Gell, Franz, er rise der awwer ganet mit deim Name?"

Franz gibt als Antwort ein Seufzen.

Sein Kamerad fragt weiter:

„Franz, kummschte heit Mittag e Bißje uff die Gaß spiele mit mer?"

„Heiner, ich muß grase gehe. Mein Babba siehts auch net gern, wann
ich mit euch spiel."

„Gell, Franz, weil mer net so sei sin wie Schullehrerskinner? Awwer ich
tact als gäärn e bißje spiele mit der. Franz, 's allerliebscht bin ich bei deer!"

Und in seinen stumpfen, dummen Augen geht ein Licht auf. Sie haben
den Ausdruck wie die eines treuen Hundes, der den Herrn nicht verlassen will.

„Gell, Franz. du kannscht mich aach gut leide, wann ich aach en dumme
Ochs bin?"

„Heiner, 's hat nix ze sage, wann mer auch net so arg gescheidt is. Mei
Tante sagt als: Wann mer nur en gut Herz hat. Und nachher schenk ich dir
en Griffel mit Goldpapier und en par Klinker."

Der Heiner ist überglücklich. Er meint:

„Franz, die Klinker, wu ich our deer hab, gilt aaner so viel als wie our
de ärmere Buwe ehre zwaa!"

Seine Liebe verdoppelt den Wert des Geschenkes vom Freund, um es zu
ehren. Und Heinrich ist der Dümmste in der Klasse.

„Franz, ich hab aach werklich net gelacht, wie dein Babba dich vorhin
geuzt Hot. Eigentlich mischt du aach in de owwerscht Bank z' owwerscht sitze.
Du bischt viel gescheidter wies Sattigs Philp!"

Franz antwortet nichts darauf, nur ein Weh zuckt um seinen Mund. Ach,
auf dem obersten Platz in der Klasse sitzen zu dürfen! Und vom Vater geliebt
ZU werden! Und Fleiß und Tüchtigkeit von ihm anerkannt zu sehen! Und
deshalb geehrt von den Mitschülern. Geehrt wie von dem einzigen Heinrich
Erdelmeier! Und so in liebender Kameradschaft mit ihnen spielen dürfen!

Im Hofe stellen die beiden Buben den Korb unterm Schuppen ab. Franz
schnallt den Schulranzen vom Rücken und holt den Griffelkasten daraus hervor,
dem er den versprochenen „Griffel mit Goldpapier" entnimmt.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0487" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/320904"/>
          <fw type="header" place="top"> Franz Meilers Martyrium</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2122"> Weiler öffnet die Fenster, schließt die Tür ab, bringt den Schlüssel zum<lb/>
Polizeidiener, der dem Schulhause gegenüber wohnt, und geht die Straße hinauf<lb/>
seinem Hause zu.  Seinem Hause. Jawohl: seinem Hause.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2123"> Hundert Schritte vor ihm gehen die beiden Buben, zwischen sich den<lb/>
Korb, den sie leise nach vorn und hinten schaukeln. Der dumme Heinrich<lb/>
Erdelmeier hängt mit fanatischer Liebe an Franz. Was sein Verstand nicht<lb/>
erfassen kann, das begreift die Liebe seines Herzens. Das nämlich, daß Franz<lb/>
leidet.  Er fragt:</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2124"> &#x201E;Gell, Franz. dein Babba kann dich net leide?"</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2125"> &#x201E;Heiner, des darf mer net sage!"</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2126"> &#x201E;Gell, Franz, er rise der awwer ganet mit deim Name?"</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2127"> Franz gibt als Antwort ein Seufzen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2128"> Sein Kamerad fragt weiter:</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2129"> &#x201E;Franz, kummschte heit Mittag e Bißje uff die Gaß spiele mit mer?"</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2130"> &#x201E;Heiner, ich muß grase gehe. Mein Babba siehts auch net gern, wann<lb/>
ich mit euch spiel."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2131"> &#x201E;Gell, Franz, weil mer net so sei sin wie Schullehrerskinner? Awwer ich<lb/>
tact als gäärn e bißje spiele mit der. Franz, 's allerliebscht bin ich bei deer!"</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2132"> Und in seinen stumpfen, dummen Augen geht ein Licht auf. Sie haben<lb/>
den Ausdruck wie die eines treuen Hundes, der den Herrn nicht verlassen will.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2133"> &#x201E;Gell, Franz. du kannscht mich aach gut leide, wann ich aach en dumme<lb/>
Ochs bin?"</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2134"> &#x201E;Heiner, 's hat nix ze sage, wann mer auch net so arg gescheidt is. Mei<lb/>
Tante sagt als: Wann mer nur en gut Herz hat. Und nachher schenk ich dir<lb/>
en Griffel mit Goldpapier und en par Klinker."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2135"> Der Heiner ist überglücklich.  Er meint:</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2136"> &#x201E;Franz, die Klinker, wu ich our deer hab, gilt aaner so viel als wie our<lb/>
de ärmere Buwe ehre zwaa!"</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2137"> Seine Liebe verdoppelt den Wert des Geschenkes vom Freund, um es zu<lb/>
ehren.  Und Heinrich ist der Dümmste in der Klasse.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2138"> &#x201E;Franz, ich hab aach werklich net gelacht, wie dein Babba dich vorhin<lb/>
geuzt Hot. Eigentlich mischt du aach in de owwerscht Bank z' owwerscht sitze.<lb/>
Du bischt viel gescheidter wies Sattigs Philp!"</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2139"> Franz antwortet nichts darauf, nur ein Weh zuckt um seinen Mund. Ach,<lb/>
auf dem obersten Platz in der Klasse sitzen zu dürfen! Und vom Vater geliebt<lb/>
ZU werden! Und Fleiß und Tüchtigkeit von ihm anerkannt zu sehen! Und<lb/>
deshalb geehrt von den Mitschülern. Geehrt wie von dem einzigen Heinrich<lb/>
Erdelmeier! Und so in liebender Kameradschaft mit ihnen spielen dürfen!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2140"> Im Hofe stellen die beiden Buben den Korb unterm Schuppen ab. Franz<lb/>
schnallt den Schulranzen vom Rücken und holt den Griffelkasten daraus hervor,<lb/>
dem er den versprochenen &#x201E;Griffel mit Goldpapier" entnimmt.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0487] Franz Meilers Martyrium Weiler öffnet die Fenster, schließt die Tür ab, bringt den Schlüssel zum Polizeidiener, der dem Schulhause gegenüber wohnt, und geht die Straße hinauf seinem Hause zu. Seinem Hause. Jawohl: seinem Hause. Hundert Schritte vor ihm gehen die beiden Buben, zwischen sich den Korb, den sie leise nach vorn und hinten schaukeln. Der dumme Heinrich Erdelmeier hängt mit fanatischer Liebe an Franz. Was sein Verstand nicht erfassen kann, das begreift die Liebe seines Herzens. Das nämlich, daß Franz leidet. Er fragt: „Gell, Franz. dein Babba kann dich net leide?" „Heiner, des darf mer net sage!" „Gell, Franz, er rise der awwer ganet mit deim Name?" Franz gibt als Antwort ein Seufzen. Sein Kamerad fragt weiter: „Franz, kummschte heit Mittag e Bißje uff die Gaß spiele mit mer?" „Heiner, ich muß grase gehe. Mein Babba siehts auch net gern, wann ich mit euch spiel." „Gell, Franz, weil mer net so sei sin wie Schullehrerskinner? Awwer ich tact als gäärn e bißje spiele mit der. Franz, 's allerliebscht bin ich bei deer!" Und in seinen stumpfen, dummen Augen geht ein Licht auf. Sie haben den Ausdruck wie die eines treuen Hundes, der den Herrn nicht verlassen will. „Gell, Franz. du kannscht mich aach gut leide, wann ich aach en dumme Ochs bin?" „Heiner, 's hat nix ze sage, wann mer auch net so arg gescheidt is. Mei Tante sagt als: Wann mer nur en gut Herz hat. Und nachher schenk ich dir en Griffel mit Goldpapier und en par Klinker." Der Heiner ist überglücklich. Er meint: „Franz, die Klinker, wu ich our deer hab, gilt aaner so viel als wie our de ärmere Buwe ehre zwaa!" Seine Liebe verdoppelt den Wert des Geschenkes vom Freund, um es zu ehren. Und Heinrich ist der Dümmste in der Klasse. „Franz, ich hab aach werklich net gelacht, wie dein Babba dich vorhin geuzt Hot. Eigentlich mischt du aach in de owwerscht Bank z' owwerscht sitze. Du bischt viel gescheidter wies Sattigs Philp!" Franz antwortet nichts darauf, nur ein Weh zuckt um seinen Mund. Ach, auf dem obersten Platz in der Klasse sitzen zu dürfen! Und vom Vater geliebt ZU werden! Und Fleiß und Tüchtigkeit von ihm anerkannt zu sehen! Und deshalb geehrt von den Mitschülern. Geehrt wie von dem einzigen Heinrich Erdelmeier! Und so in liebender Kameradschaft mit ihnen spielen dürfen! Im Hofe stellen die beiden Buben den Korb unterm Schuppen ab. Franz schnallt den Schulranzen vom Rücken und holt den Griffelkasten daraus hervor, dem er den versprochenen „Griffel mit Goldpapier" entnimmt.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/487
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/487>, abgerufen am 27.09.2024.