Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die experimentelle Ästhetik

auf die manche Ästhetiker jeden ästhetischen Eindruck zurückzuführen versuchen. sym¬
pathische Einfühlung, ein Mitempfinden von dargestellten Haltungen, Stellungen,
Bewegungen, von Affekten und Stimmungen u. tgi. in., das ist nach der Ansicht
eines hervorragenden Ästhetikers unserer Tage (Th. Lipps) die notwendige
Voraussetzung für alle ästhetischen Wirkungen. Durch die Methode der Zeit¬
variation konnte nun festgestellt werden, daß diese Ansicht unrichtig ist, daß sie
jedenfalls nicht als allgemeingültig betrachtet werden darf. Die bloße Form,
die Komposition, die Farbe und andere unmittelbar anschaulich gegebene Bestand¬
teile des ästhetischen Gegenstandes können bereits bei einer auf wenige Sekunden
reduzierten Einwirkungsdauer ästhetisch gewertet werden, ohne daß eine sym¬
pathische Einfühlung, für deren Entwicklung erfahrungsgemäß eine längere Zeit
erforderlich ist, die Grundlage gebildet hätte.

Mit der Ausdehnung der Anwendungsgebiete und der Verfeinerung der
Methoden der experimentellen Ästhetik ist nun auch eine Annäherung an die
Aufgaben und Probleme der ohne experimentelle Hilfsmittel gepflegten Ästhetik
eingetreten. Es geht nicht mehr an, den heutigen Tatbestand der experimen¬
tellen Forschung ebenso als gleichgültig und wertlos für die eigentliche Ästhetik
beiseite zu schieben, wie das den Fechnerschen Anfängen gegenüber geschehen ist.
Sicherlich sind wir auch heute noch weit entfernt von dem Ziele, das der
experimentellen Ästhetik vorschwebt, aber sie leistet bereits beachtenswerte Beiträge
zur Lösung der Aufgabe einer allgemeinen Ästhetik. So hat sie es neuerdings
auch versucht, das Gebiet der individuellen Entwicklung eines ästhetischen Ver¬
haltens in ihren Kreis zu ziehen. Bei der heutigen regen Bewegung in der
Frage der künstlerischen Erziehung der Jugend ist es von großer Wichtigkeit zu
wissen, welche ästhetischen Fähigkeiten und Neigungen bei Kindern bestehen und
wie sie sich naturgemäß äußern und entwickeln. Mit dem bloßen Aufhängen
von Bildern in Schulsälen, mit einem entsprechenden Hinweise auf ästhetisch
bildende Lektüre, auf gute Musik, auf Galerien und Ausstellungen ist es wahrlich
nicht getan. Es muß die Einsicht in das hier Erreichbare durch wirkliche Tat-
sachenkeuntnis gefördert und gestützt werden. Wenn wir z. B. erfahren, daß
Kinder in den ersten Schuljahren von einem ihrem Auffassungskreise angepaßten
Bilde nichts weiter als zusammenhanglose Einzelheiten sehen, beachten und
beurteilen, daß ferner der Sinn für künstlerische Form, Komposition und Leistung
verhältnismäßig spät auftritt und das stoffliche Interesse, das zunächst allein
vorhanden ist, ergänzt oder ersetzt, so sind solche durch die experimentellen
Untersuchungen festgestellten Tatsachen offenbar die notwendige Voraussetzung
und die wertvolle Grundlage für die Bemühungen um eine ästhetische Erziehung
der Jugend.

Wenn wir uns zum Schluß noch der Frage zuwenden, welche Aufgaben
und Aussichten für die experimentelle Ästhetik bestehen, so werden wir zunächst
den großen Vorteil zu rühmen haben, den sie der gewöhnlichen psychologischen
Ästhetik gegenüber besitzt. Die in dieser auftretenden Behauptungen sind meist keiner


Die experimentelle Ästhetik

auf die manche Ästhetiker jeden ästhetischen Eindruck zurückzuführen versuchen. sym¬
pathische Einfühlung, ein Mitempfinden von dargestellten Haltungen, Stellungen,
Bewegungen, von Affekten und Stimmungen u. tgi. in., das ist nach der Ansicht
eines hervorragenden Ästhetikers unserer Tage (Th. Lipps) die notwendige
Voraussetzung für alle ästhetischen Wirkungen. Durch die Methode der Zeit¬
variation konnte nun festgestellt werden, daß diese Ansicht unrichtig ist, daß sie
jedenfalls nicht als allgemeingültig betrachtet werden darf. Die bloße Form,
die Komposition, die Farbe und andere unmittelbar anschaulich gegebene Bestand¬
teile des ästhetischen Gegenstandes können bereits bei einer auf wenige Sekunden
reduzierten Einwirkungsdauer ästhetisch gewertet werden, ohne daß eine sym¬
pathische Einfühlung, für deren Entwicklung erfahrungsgemäß eine längere Zeit
erforderlich ist, die Grundlage gebildet hätte.

Mit der Ausdehnung der Anwendungsgebiete und der Verfeinerung der
Methoden der experimentellen Ästhetik ist nun auch eine Annäherung an die
Aufgaben und Probleme der ohne experimentelle Hilfsmittel gepflegten Ästhetik
eingetreten. Es geht nicht mehr an, den heutigen Tatbestand der experimen¬
tellen Forschung ebenso als gleichgültig und wertlos für die eigentliche Ästhetik
beiseite zu schieben, wie das den Fechnerschen Anfängen gegenüber geschehen ist.
Sicherlich sind wir auch heute noch weit entfernt von dem Ziele, das der
experimentellen Ästhetik vorschwebt, aber sie leistet bereits beachtenswerte Beiträge
zur Lösung der Aufgabe einer allgemeinen Ästhetik. So hat sie es neuerdings
auch versucht, das Gebiet der individuellen Entwicklung eines ästhetischen Ver¬
haltens in ihren Kreis zu ziehen. Bei der heutigen regen Bewegung in der
Frage der künstlerischen Erziehung der Jugend ist es von großer Wichtigkeit zu
wissen, welche ästhetischen Fähigkeiten und Neigungen bei Kindern bestehen und
wie sie sich naturgemäß äußern und entwickeln. Mit dem bloßen Aufhängen
von Bildern in Schulsälen, mit einem entsprechenden Hinweise auf ästhetisch
bildende Lektüre, auf gute Musik, auf Galerien und Ausstellungen ist es wahrlich
nicht getan. Es muß die Einsicht in das hier Erreichbare durch wirkliche Tat-
sachenkeuntnis gefördert und gestützt werden. Wenn wir z. B. erfahren, daß
Kinder in den ersten Schuljahren von einem ihrem Auffassungskreise angepaßten
Bilde nichts weiter als zusammenhanglose Einzelheiten sehen, beachten und
beurteilen, daß ferner der Sinn für künstlerische Form, Komposition und Leistung
verhältnismäßig spät auftritt und das stoffliche Interesse, das zunächst allein
vorhanden ist, ergänzt oder ersetzt, so sind solche durch die experimentellen
Untersuchungen festgestellten Tatsachen offenbar die notwendige Voraussetzung
und die wertvolle Grundlage für die Bemühungen um eine ästhetische Erziehung
der Jugend.

Wenn wir uns zum Schluß noch der Frage zuwenden, welche Aufgaben
und Aussichten für die experimentelle Ästhetik bestehen, so werden wir zunächst
den großen Vorteil zu rühmen haben, den sie der gewöhnlichen psychologischen
Ästhetik gegenüber besitzt. Die in dieser auftretenden Behauptungen sind meist keiner


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0474" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/320891"/>
          <fw type="header" place="top"> Die experimentelle Ästhetik</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1987" prev="#ID_1986"> auf die manche Ästhetiker jeden ästhetischen Eindruck zurückzuführen versuchen. sym¬<lb/>
pathische Einfühlung, ein Mitempfinden von dargestellten Haltungen, Stellungen,<lb/>
Bewegungen, von Affekten und Stimmungen u. tgi. in., das ist nach der Ansicht<lb/>
eines hervorragenden Ästhetikers unserer Tage (Th. Lipps) die notwendige<lb/>
Voraussetzung für alle ästhetischen Wirkungen. Durch die Methode der Zeit¬<lb/>
variation konnte nun festgestellt werden, daß diese Ansicht unrichtig ist, daß sie<lb/>
jedenfalls nicht als allgemeingültig betrachtet werden darf. Die bloße Form,<lb/>
die Komposition, die Farbe und andere unmittelbar anschaulich gegebene Bestand¬<lb/>
teile des ästhetischen Gegenstandes können bereits bei einer auf wenige Sekunden<lb/>
reduzierten Einwirkungsdauer ästhetisch gewertet werden, ohne daß eine sym¬<lb/>
pathische Einfühlung, für deren Entwicklung erfahrungsgemäß eine längere Zeit<lb/>
erforderlich ist, die Grundlage gebildet hätte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1988"> Mit der Ausdehnung der Anwendungsgebiete und der Verfeinerung der<lb/>
Methoden der experimentellen Ästhetik ist nun auch eine Annäherung an die<lb/>
Aufgaben und Probleme der ohne experimentelle Hilfsmittel gepflegten Ästhetik<lb/>
eingetreten. Es geht nicht mehr an, den heutigen Tatbestand der experimen¬<lb/>
tellen Forschung ebenso als gleichgültig und wertlos für die eigentliche Ästhetik<lb/>
beiseite zu schieben, wie das den Fechnerschen Anfängen gegenüber geschehen ist.<lb/>
Sicherlich sind wir auch heute noch weit entfernt von dem Ziele, das der<lb/>
experimentellen Ästhetik vorschwebt, aber sie leistet bereits beachtenswerte Beiträge<lb/>
zur Lösung der Aufgabe einer allgemeinen Ästhetik. So hat sie es neuerdings<lb/>
auch versucht, das Gebiet der individuellen Entwicklung eines ästhetischen Ver¬<lb/>
haltens in ihren Kreis zu ziehen. Bei der heutigen regen Bewegung in der<lb/>
Frage der künstlerischen Erziehung der Jugend ist es von großer Wichtigkeit zu<lb/>
wissen, welche ästhetischen Fähigkeiten und Neigungen bei Kindern bestehen und<lb/>
wie sie sich naturgemäß äußern und entwickeln. Mit dem bloßen Aufhängen<lb/>
von Bildern in Schulsälen, mit einem entsprechenden Hinweise auf ästhetisch<lb/>
bildende Lektüre, auf gute Musik, auf Galerien und Ausstellungen ist es wahrlich<lb/>
nicht getan. Es muß die Einsicht in das hier Erreichbare durch wirkliche Tat-<lb/>
sachenkeuntnis gefördert und gestützt werden. Wenn wir z. B. erfahren, daß<lb/>
Kinder in den ersten Schuljahren von einem ihrem Auffassungskreise angepaßten<lb/>
Bilde nichts weiter als zusammenhanglose Einzelheiten sehen, beachten und<lb/>
beurteilen, daß ferner der Sinn für künstlerische Form, Komposition und Leistung<lb/>
verhältnismäßig spät auftritt und das stoffliche Interesse, das zunächst allein<lb/>
vorhanden ist, ergänzt oder ersetzt, so sind solche durch die experimentellen<lb/>
Untersuchungen festgestellten Tatsachen offenbar die notwendige Voraussetzung<lb/>
und die wertvolle Grundlage für die Bemühungen um eine ästhetische Erziehung<lb/>
der Jugend.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1989" next="#ID_1990"> Wenn wir uns zum Schluß noch der Frage zuwenden, welche Aufgaben<lb/>
und Aussichten für die experimentelle Ästhetik bestehen, so werden wir zunächst<lb/>
den großen Vorteil zu rühmen haben, den sie der gewöhnlichen psychologischen<lb/>
Ästhetik gegenüber besitzt. Die in dieser auftretenden Behauptungen sind meist keiner</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0474] Die experimentelle Ästhetik auf die manche Ästhetiker jeden ästhetischen Eindruck zurückzuführen versuchen. sym¬ pathische Einfühlung, ein Mitempfinden von dargestellten Haltungen, Stellungen, Bewegungen, von Affekten und Stimmungen u. tgi. in., das ist nach der Ansicht eines hervorragenden Ästhetikers unserer Tage (Th. Lipps) die notwendige Voraussetzung für alle ästhetischen Wirkungen. Durch die Methode der Zeit¬ variation konnte nun festgestellt werden, daß diese Ansicht unrichtig ist, daß sie jedenfalls nicht als allgemeingültig betrachtet werden darf. Die bloße Form, die Komposition, die Farbe und andere unmittelbar anschaulich gegebene Bestand¬ teile des ästhetischen Gegenstandes können bereits bei einer auf wenige Sekunden reduzierten Einwirkungsdauer ästhetisch gewertet werden, ohne daß eine sym¬ pathische Einfühlung, für deren Entwicklung erfahrungsgemäß eine längere Zeit erforderlich ist, die Grundlage gebildet hätte. Mit der Ausdehnung der Anwendungsgebiete und der Verfeinerung der Methoden der experimentellen Ästhetik ist nun auch eine Annäherung an die Aufgaben und Probleme der ohne experimentelle Hilfsmittel gepflegten Ästhetik eingetreten. Es geht nicht mehr an, den heutigen Tatbestand der experimen¬ tellen Forschung ebenso als gleichgültig und wertlos für die eigentliche Ästhetik beiseite zu schieben, wie das den Fechnerschen Anfängen gegenüber geschehen ist. Sicherlich sind wir auch heute noch weit entfernt von dem Ziele, das der experimentellen Ästhetik vorschwebt, aber sie leistet bereits beachtenswerte Beiträge zur Lösung der Aufgabe einer allgemeinen Ästhetik. So hat sie es neuerdings auch versucht, das Gebiet der individuellen Entwicklung eines ästhetischen Ver¬ haltens in ihren Kreis zu ziehen. Bei der heutigen regen Bewegung in der Frage der künstlerischen Erziehung der Jugend ist es von großer Wichtigkeit zu wissen, welche ästhetischen Fähigkeiten und Neigungen bei Kindern bestehen und wie sie sich naturgemäß äußern und entwickeln. Mit dem bloßen Aufhängen von Bildern in Schulsälen, mit einem entsprechenden Hinweise auf ästhetisch bildende Lektüre, auf gute Musik, auf Galerien und Ausstellungen ist es wahrlich nicht getan. Es muß die Einsicht in das hier Erreichbare durch wirkliche Tat- sachenkeuntnis gefördert und gestützt werden. Wenn wir z. B. erfahren, daß Kinder in den ersten Schuljahren von einem ihrem Auffassungskreise angepaßten Bilde nichts weiter als zusammenhanglose Einzelheiten sehen, beachten und beurteilen, daß ferner der Sinn für künstlerische Form, Komposition und Leistung verhältnismäßig spät auftritt und das stoffliche Interesse, das zunächst allein vorhanden ist, ergänzt oder ersetzt, so sind solche durch die experimentellen Untersuchungen festgestellten Tatsachen offenbar die notwendige Voraussetzung und die wertvolle Grundlage für die Bemühungen um eine ästhetische Erziehung der Jugend. Wenn wir uns zum Schluß noch der Frage zuwenden, welche Aufgaben und Aussichten für die experimentelle Ästhetik bestehen, so werden wir zunächst den großen Vorteil zu rühmen haben, den sie der gewöhnlichen psychologischen Ästhetik gegenüber besitzt. Die in dieser auftretenden Behauptungen sind meist keiner

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/474
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/474>, abgerufen am 27.09.2024.