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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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I>le experimentale Ästhetik

Malen zu beobachten. Man ist auch nicht an gegebene Gestalten, wie bei den
Bestandteilen eines Kreuzmodells, gebunden, sondern kann beliebig weit in der
Herstellung gehen, die ganze Gestalt selbst erzeugen lassen. Dann wird die
Verwandtschaft mit dem skizzierenden und seine Skizzen wiederholter Verarbeitung
unterziehenden Künstler noch deutlicher. So wird die Methode der Herstellung
dazu berufen sein, uns in das Geheimnis des künstlerischen Schaffens einen
tieferen psychologisch-ästhetischen Einblick gewinnen zu lassen.

Noch nach einer anderen Richtung ist die experimentelle Ästhetik methodisch
bereichert worden. Die experimentelle Psychologie hatte uns längst mit dem
Verfahren bekannt gemacht, durch eine Variation in der Zeitdauer eines Reizes
die Gesetzmäßigkeit seiner Wirkung genauer festzustellen. So hatte man bei¬
spielsweise untersucht, bei welcher Dauer der Exposition einer Farbe ein Farben¬
eindruck auftritt. Dasselbe Verfahren schien nun auch geeignet, die Bedeutung
der einzelnen Phasen eines zeitlich sich ausdehnenden Phänomens, wie des
ästhetischen Verhaltens, erkennbar zu machen. Diese Methode der Zeitvariation
hatte zugleich den Vorteil, auf komplexere ästhetische Gegenstände anwendbar zu
sein. Man denke sich beispielsweise das die Armut darstellende Fresko des
Giotto in der Unterkirche von Assise in einer bildlichen Wiedergabe etwa mit
Hilfe eines Projektionsapparats nur für zwei Sekunden einem ästhetisch vor¬
bereiteten Beobachter vorgeführt. Nehmen wir an, daß er noch nicht mit dem
Bilde bekannt sei, so wird er bei der kurzen Dauer desselben nur einen flüchtigen
Gesamteindruck erhalten, der wesentlich verschieden von demjenigen ist, der sich
bei längerer Betrachtung einzustellen pflegt. Die Farben, die Helligkeitsnnter-
schiede, die Gesamtform, eine Mannigfaltigkeit menschlicher Gestalten werden
erkennbar gewesen sein; was das alles zu bedeuten hat, wird dagegen sich der
Auffassung dessen noch nicht erschlossen haben, der sich den flüchtigen Eindruck
nicht durch entgegenkommende Erinnerungen, durch ein Wissen um den dar¬
gestellten Gegenstand u. a. in. zu ergänzen und zu bereichern vermag. Ebenso
wird es in solchem Falle an einer verständnisvollen Teilnahme für die Situation
und ihren allegorischen Gehalt, an einer Beseelung und an Mitgefühl mit dem
Erlebnis der Hauptfigur, des heiligen Franciscus, dem die Armut als Braut
durch Christus angetraut wird, fehlen. Solche Versuche haben uns zunächst
gelehrt, welche grundlegende Bedeutung der Auffassung für die ästhetische Wirkung
zukommt. Ohne Verständnis des dargestellten Gegenstandes kommt auch kein
tieferes ästhetisches Verhalten, vor allem kein adäquates, durch das Kunstwerk
gefordertes Verhalten zustande. Die erste Phase besteht somit in der Klärung
des Eindrucks, in seiner sachlichen Bestimmung, in seiner Ausfassung und Deutung.

Aber auch für die ästhetischen Theorien ist die Methode der Zeitvariation
als entscheidende Instanz zu verwenden. Durch eine Abstufung der Zeiten ist man
S- B. zu dem interessanten Ergebnis gekommen, daß ästhetische Urteile über solche
Objekte bei zwei und drei Sekunden Exposttionsdauer möglich sind, obwohl die Wir¬
kungen eines Miterlebens der dargestellten Zustände sich noch nicht entfaltet hatten,


I>le experimentale Ästhetik

Malen zu beobachten. Man ist auch nicht an gegebene Gestalten, wie bei den
Bestandteilen eines Kreuzmodells, gebunden, sondern kann beliebig weit in der
Herstellung gehen, die ganze Gestalt selbst erzeugen lassen. Dann wird die
Verwandtschaft mit dem skizzierenden und seine Skizzen wiederholter Verarbeitung
unterziehenden Künstler noch deutlicher. So wird die Methode der Herstellung
dazu berufen sein, uns in das Geheimnis des künstlerischen Schaffens einen
tieferen psychologisch-ästhetischen Einblick gewinnen zu lassen.

Noch nach einer anderen Richtung ist die experimentelle Ästhetik methodisch
bereichert worden. Die experimentelle Psychologie hatte uns längst mit dem
Verfahren bekannt gemacht, durch eine Variation in der Zeitdauer eines Reizes
die Gesetzmäßigkeit seiner Wirkung genauer festzustellen. So hatte man bei¬
spielsweise untersucht, bei welcher Dauer der Exposition einer Farbe ein Farben¬
eindruck auftritt. Dasselbe Verfahren schien nun auch geeignet, die Bedeutung
der einzelnen Phasen eines zeitlich sich ausdehnenden Phänomens, wie des
ästhetischen Verhaltens, erkennbar zu machen. Diese Methode der Zeitvariation
hatte zugleich den Vorteil, auf komplexere ästhetische Gegenstände anwendbar zu
sein. Man denke sich beispielsweise das die Armut darstellende Fresko des
Giotto in der Unterkirche von Assise in einer bildlichen Wiedergabe etwa mit
Hilfe eines Projektionsapparats nur für zwei Sekunden einem ästhetisch vor¬
bereiteten Beobachter vorgeführt. Nehmen wir an, daß er noch nicht mit dem
Bilde bekannt sei, so wird er bei der kurzen Dauer desselben nur einen flüchtigen
Gesamteindruck erhalten, der wesentlich verschieden von demjenigen ist, der sich
bei längerer Betrachtung einzustellen pflegt. Die Farben, die Helligkeitsnnter-
schiede, die Gesamtform, eine Mannigfaltigkeit menschlicher Gestalten werden
erkennbar gewesen sein; was das alles zu bedeuten hat, wird dagegen sich der
Auffassung dessen noch nicht erschlossen haben, der sich den flüchtigen Eindruck
nicht durch entgegenkommende Erinnerungen, durch ein Wissen um den dar¬
gestellten Gegenstand u. a. in. zu ergänzen und zu bereichern vermag. Ebenso
wird es in solchem Falle an einer verständnisvollen Teilnahme für die Situation
und ihren allegorischen Gehalt, an einer Beseelung und an Mitgefühl mit dem
Erlebnis der Hauptfigur, des heiligen Franciscus, dem die Armut als Braut
durch Christus angetraut wird, fehlen. Solche Versuche haben uns zunächst
gelehrt, welche grundlegende Bedeutung der Auffassung für die ästhetische Wirkung
zukommt. Ohne Verständnis des dargestellten Gegenstandes kommt auch kein
tieferes ästhetisches Verhalten, vor allem kein adäquates, durch das Kunstwerk
gefordertes Verhalten zustande. Die erste Phase besteht somit in der Klärung
des Eindrucks, in seiner sachlichen Bestimmung, in seiner Ausfassung und Deutung.

Aber auch für die ästhetischen Theorien ist die Methode der Zeitvariation
als entscheidende Instanz zu verwenden. Durch eine Abstufung der Zeiten ist man
S- B. zu dem interessanten Ergebnis gekommen, daß ästhetische Urteile über solche
Objekte bei zwei und drei Sekunden Exposttionsdauer möglich sind, obwohl die Wir¬
kungen eines Miterlebens der dargestellten Zustände sich noch nicht entfaltet hatten,


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[0473] I>le experimentale Ästhetik Malen zu beobachten. Man ist auch nicht an gegebene Gestalten, wie bei den Bestandteilen eines Kreuzmodells, gebunden, sondern kann beliebig weit in der Herstellung gehen, die ganze Gestalt selbst erzeugen lassen. Dann wird die Verwandtschaft mit dem skizzierenden und seine Skizzen wiederholter Verarbeitung unterziehenden Künstler noch deutlicher. So wird die Methode der Herstellung dazu berufen sein, uns in das Geheimnis des künstlerischen Schaffens einen tieferen psychologisch-ästhetischen Einblick gewinnen zu lassen. Noch nach einer anderen Richtung ist die experimentelle Ästhetik methodisch bereichert worden. Die experimentelle Psychologie hatte uns längst mit dem Verfahren bekannt gemacht, durch eine Variation in der Zeitdauer eines Reizes die Gesetzmäßigkeit seiner Wirkung genauer festzustellen. So hatte man bei¬ spielsweise untersucht, bei welcher Dauer der Exposition einer Farbe ein Farben¬ eindruck auftritt. Dasselbe Verfahren schien nun auch geeignet, die Bedeutung der einzelnen Phasen eines zeitlich sich ausdehnenden Phänomens, wie des ästhetischen Verhaltens, erkennbar zu machen. Diese Methode der Zeitvariation hatte zugleich den Vorteil, auf komplexere ästhetische Gegenstände anwendbar zu sein. Man denke sich beispielsweise das die Armut darstellende Fresko des Giotto in der Unterkirche von Assise in einer bildlichen Wiedergabe etwa mit Hilfe eines Projektionsapparats nur für zwei Sekunden einem ästhetisch vor¬ bereiteten Beobachter vorgeführt. Nehmen wir an, daß er noch nicht mit dem Bilde bekannt sei, so wird er bei der kurzen Dauer desselben nur einen flüchtigen Gesamteindruck erhalten, der wesentlich verschieden von demjenigen ist, der sich bei längerer Betrachtung einzustellen pflegt. Die Farben, die Helligkeitsnnter- schiede, die Gesamtform, eine Mannigfaltigkeit menschlicher Gestalten werden erkennbar gewesen sein; was das alles zu bedeuten hat, wird dagegen sich der Auffassung dessen noch nicht erschlossen haben, der sich den flüchtigen Eindruck nicht durch entgegenkommende Erinnerungen, durch ein Wissen um den dar¬ gestellten Gegenstand u. a. in. zu ergänzen und zu bereichern vermag. Ebenso wird es in solchem Falle an einer verständnisvollen Teilnahme für die Situation und ihren allegorischen Gehalt, an einer Beseelung und an Mitgefühl mit dem Erlebnis der Hauptfigur, des heiligen Franciscus, dem die Armut als Braut durch Christus angetraut wird, fehlen. Solche Versuche haben uns zunächst gelehrt, welche grundlegende Bedeutung der Auffassung für die ästhetische Wirkung zukommt. Ohne Verständnis des dargestellten Gegenstandes kommt auch kein tieferes ästhetisches Verhalten, vor allem kein adäquates, durch das Kunstwerk gefordertes Verhalten zustande. Die erste Phase besteht somit in der Klärung des Eindrucks, in seiner sachlichen Bestimmung, in seiner Ausfassung und Deutung. Aber auch für die ästhetischen Theorien ist die Methode der Zeitvariation als entscheidende Instanz zu verwenden. Durch eine Abstufung der Zeiten ist man S- B. zu dem interessanten Ergebnis gekommen, daß ästhetische Urteile über solche Objekte bei zwei und drei Sekunden Exposttionsdauer möglich sind, obwohl die Wir¬ kungen eines Miterlebens der dargestellten Zustände sich noch nicht entfaltet hatten,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/473>, abgerufen am 27.09.2024.