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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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eigentlichen Kontrolle zugänglich, weil die Bedingungen und Umstände, unter denen
die angeführten Urteile sich gebildet haben, nicht genau festgestellt und mitgeteilt
werden. Wenn jemand z. B. erklärt, daß ein Hebbelsches Drama niederdrückend
auf ihn wirke, so erfahre ich damit nichts über die besonderen Voraussetzungen,
welche in dem urteilenden Subjekt jene niederdrückende Wirkung haben entstehen
lassen. Ebensowenig ist mit dieser Erklärung zugleich eine über das urteilende
Individuum hinaufführende Einsicht gewonnen. Der Ästhetiker, der wesentlich
eigene Erfahrungen verwertet, darf nicht ohne weiteres die allgemeine Geltung
derselben behaupten. Darum ist eine Nachprüfung solcher Urteile unausführbar,
und darum müssen die von den Ästhetikern in solcher Weise aufgestellten oder
angenommenen Gesetzmäßigkeiten zunächst als individuelle Tatbestände angesehen
werden. Es ist kein Zweifel, daß die experimentelle Ästhetik hierin einen
Wandel zu schaffen vermag. Sie kann uns auf den Boden gesicherter, an einen
bestimmten und genau formulierbaren Bedingungskomplex gebundener Er¬
scheinungen stellen. Bei Anwendung des experimentellen Verfahrens läßt sich
jederzeit erklären, welche Versuchspersonen die ästhetischen Eindrücke empfingen
und beurteilten, in welchem Zustande sie sich befanden, als gewisse Gegenstände
ihnen dargeboten wurden, und welcher Art diese Gegenstände selbst waren.
Comte hat in seinem Gesetz der drei Stadien das dritte und letzte Stadium in
der Entwicklung einer Wissenschaft das positive genannt. Dieses positive Stadium
ist dadurch ausgezeichnet, daß es sich streng an die Phänomene hält, an die
Tatsachen, daß es von der Spekulation über deren tieferen Sinn absieht und
die Gesetze der Erscheinungen zu ermitteln sucht. Zu diesem positiven Stadium
gehört aber auch sicherlich die Nachkonstruierbarkeit aller Ergebnisse aus den
Bedingungen heraus, welche zu ihnen geführt haben. Eine solche Nachkon¬
struierbarkeit ist bei experimentellen Forschungen prinzipiell möglich, bei den
Behauptungen auf Grund gelegentlicher Beobachtungen oder gar Erinnerungen
an solche dagegen ausgeschlossen. Dieser bedeutende methodische Vorteil der
experimentellen Ästhetik verdient festgehalten und weiter ausgebeutet zu werden.

Dazu kommt aber ferner die genauere Analyse, welche uns ein experimen-
telles Verfahren in bezug auf die untersuchten Gegenstände gestattet. Der
Gegenstand der Ästhetik ist das ästhetische Verhalten, eine eigentümliche psycho-
phystsche Gesamtverfassung, die unter dem beherrschenden Gesichtspunkt eines
rein qualitativ gerichteten Interesses steht. Wir wollen bei einer Musik, die
wir hören, nicht physikalische Forschung treiben, keine Beziehung auf die Natur-
Wirklichkeit durchführen, ebensowenig die Psychologie der Tonwahrnehmung zur
Anwendung bringen. Wir wollen bloß den qualitativen Bestand des Gegen¬
standes erfassen, die Töne, ihre Harmonie, ihre Melodie auf uns wirken lassen,
den Aufbau des Werkes verstehen, seinen inneren Gehalt uns zu eigen machen.
Bei diesem Verhalten sind von maßgebender Bedeutung sein Objekt, der Zustand,
in den wir angesichts eines ästhetischen Objektes geraten, und die Aufgabe,
welche wir uns selbst stellen, der Gesichtspunkt, unter dem nur das ästhetische


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eigentlichen Kontrolle zugänglich, weil die Bedingungen und Umstände, unter denen
die angeführten Urteile sich gebildet haben, nicht genau festgestellt und mitgeteilt
werden. Wenn jemand z. B. erklärt, daß ein Hebbelsches Drama niederdrückend
auf ihn wirke, so erfahre ich damit nichts über die besonderen Voraussetzungen,
welche in dem urteilenden Subjekt jene niederdrückende Wirkung haben entstehen
lassen. Ebensowenig ist mit dieser Erklärung zugleich eine über das urteilende
Individuum hinaufführende Einsicht gewonnen. Der Ästhetiker, der wesentlich
eigene Erfahrungen verwertet, darf nicht ohne weiteres die allgemeine Geltung
derselben behaupten. Darum ist eine Nachprüfung solcher Urteile unausführbar,
und darum müssen die von den Ästhetikern in solcher Weise aufgestellten oder
angenommenen Gesetzmäßigkeiten zunächst als individuelle Tatbestände angesehen
werden. Es ist kein Zweifel, daß die experimentelle Ästhetik hierin einen
Wandel zu schaffen vermag. Sie kann uns auf den Boden gesicherter, an einen
bestimmten und genau formulierbaren Bedingungskomplex gebundener Er¬
scheinungen stellen. Bei Anwendung des experimentellen Verfahrens läßt sich
jederzeit erklären, welche Versuchspersonen die ästhetischen Eindrücke empfingen
und beurteilten, in welchem Zustande sie sich befanden, als gewisse Gegenstände
ihnen dargeboten wurden, und welcher Art diese Gegenstände selbst waren.
Comte hat in seinem Gesetz der drei Stadien das dritte und letzte Stadium in
der Entwicklung einer Wissenschaft das positive genannt. Dieses positive Stadium
ist dadurch ausgezeichnet, daß es sich streng an die Phänomene hält, an die
Tatsachen, daß es von der Spekulation über deren tieferen Sinn absieht und
die Gesetze der Erscheinungen zu ermitteln sucht. Zu diesem positiven Stadium
gehört aber auch sicherlich die Nachkonstruierbarkeit aller Ergebnisse aus den
Bedingungen heraus, welche zu ihnen geführt haben. Eine solche Nachkon¬
struierbarkeit ist bei experimentellen Forschungen prinzipiell möglich, bei den
Behauptungen auf Grund gelegentlicher Beobachtungen oder gar Erinnerungen
an solche dagegen ausgeschlossen. Dieser bedeutende methodische Vorteil der
experimentellen Ästhetik verdient festgehalten und weiter ausgebeutet zu werden.

Dazu kommt aber ferner die genauere Analyse, welche uns ein experimen-
telles Verfahren in bezug auf die untersuchten Gegenstände gestattet. Der
Gegenstand der Ästhetik ist das ästhetische Verhalten, eine eigentümliche psycho-
phystsche Gesamtverfassung, die unter dem beherrschenden Gesichtspunkt eines
rein qualitativ gerichteten Interesses steht. Wir wollen bei einer Musik, die
wir hören, nicht physikalische Forschung treiben, keine Beziehung auf die Natur-
Wirklichkeit durchführen, ebensowenig die Psychologie der Tonwahrnehmung zur
Anwendung bringen. Wir wollen bloß den qualitativen Bestand des Gegen¬
standes erfassen, die Töne, ihre Harmonie, ihre Melodie auf uns wirken lassen,
den Aufbau des Werkes verstehen, seinen inneren Gehalt uns zu eigen machen.
Bei diesem Verhalten sind von maßgebender Bedeutung sein Objekt, der Zustand,
in den wir angesichts eines ästhetischen Objektes geraten, und die Aufgabe,
welche wir uns selbst stellen, der Gesichtspunkt, unter dem nur das ästhetische


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/475>, abgerufen am 27.09.2024.