Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.Die experimentelle Ästhetik Anzahl von Versuchspersonen vorlegt und sie bloß darüber urteilen läßt, welche Der Grund für die Geringschätzung, welche die zünftigen Ästhetiker dem Die experimentelle Ästhetik Anzahl von Versuchspersonen vorlegt und sie bloß darüber urteilen läßt, welche Der Grund für die Geringschätzung, welche die zünftigen Ästhetiker dem <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0470" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/320887"/> <fw type="header" place="top"> Die experimentelle Ästhetik</fw><lb/> <p xml:id="ID_1977" prev="#ID_1976"> Anzahl von Versuchspersonen vorlegt und sie bloß darüber urteilen läßt, welche<lb/> von diesen Figuren unter einer Reihe einander ähnlicher Gestalten den gefälligsten<lb/> Eindruck gemacht habe, so ist weder eine ästhetische Beurteilung bei jeder dieser<lb/> Personen ohne weiteres vorauszusetzen, noch auch dem Ergebnis irgendeine tiefere<lb/> gesetzmäßige Bedeutung beizulegen. Fechner hat die Urteile der verschiedenen<lb/> Versuchspersonen auf die einzelnen Figuren verteilt und diejenige sür die<lb/> ästhetisch bevorzugte erklärt, die den meisten Personen am besten gefiel. So<lb/> bekam er zugleich eine Kurve, welche die Grade der Wohlgefälligkeit der einzelnen<lb/> von den Versuchspersonen beurteilten Raumgestalten durch die Zahl der abgegebenen<lb/> Urteile ausdrückte. Eine solche Kurve mußte, da sie einer Wahrscheinlichkeits¬<lb/> betrachtung unterworfen wurde, auf voller Gleichwertigkeit der in sie auf¬<lb/> genommenen ästhetischen Beurteilungen beruhen. Diese war jedoch in keiner<lb/> Weise sichergestellt worden. Die Auswahl der Versuchspersonen, die Schulung<lb/> derselben, die besondere Aufgabe, der sie sich zu unterziehen hatten, all das war<lb/> bei den Fechnerschen Versuchen ohne Kontrolle oder Berücksichtigung geblieben.<lb/> So konnte denn das Resultat keine größere ästhetische Bedeutung beanspruchen,<lb/> die Methode der Untersuchung keine Aussichten auf neue Leistungen eröffnen.<lb/> Und so mußten die Anfänge der experimentellen Ästhetik jene Würdigung zu<lb/> verdienen scheinen und ertragen, die ihr allenthalben aus den Kreisen der Fach¬<lb/> leute entgegenschallte: ein nutzloses Spiel zu sein, das die Mühe nicht lohnte,<lb/> die darauf verwendet wurde. Weder psychologisch, noch ästhetisch war auf diesem<lb/> Wege eine Erkenntnis zu gewinnen. Insbesondere waren auch die Motive, von<lb/> denen die einzelnen Urteile abgehangen hatten, nicht festgestellt worden, und so<lb/> wußte man nicht, inwiefern die Verschiedenheit der Urteile mehr zufällig oder<lb/> durch konstante Neigungen oder Abneigungen begründet gewesen war.</p><lb/> <p xml:id="ID_1978"> Der Grund für die Geringschätzung, welche die zünftigen Ästhetiker dem<lb/> Fechnerschen Verfahren entgegenbrachten, lag aber auch in der Natur der Sache.<lb/> Notwendige Bedingung für die ästhetische Verwertbarkeit derartiger Experimente<lb/> mußte ja ein ästhetisches Verhalten der herangezogenen Versuchspersonen sein.<lb/> Wie konnte nun aber erwartet werden, daß einfache Figuren, wie Rechtecke oder<lb/> Ellipsen, in einer Versuchsperson eine Verfassung anregen würden, die der¬<lb/> jenigen gliche, in welche man Kunstwerken gegenüber ohne weiteres zu geraten<lb/> pflegt! Unwillkürlich konnte sicherlich niemand ästhetisch gestimmt werden, wenn<lb/> er so elementare, primitive Aufgaben vorgelegt erhielt. Sobald aber an der<lb/> grundlegenden Voraussetzung für die ästhetische Bedeutung der genannten<lb/> Experimente gezweifelt werden konnte, mußte selbstverständlich auch ein allgemeines<lb/> Bedenken gegenüber dem ganzen Verfahren und seinen Ergebnissen Platz greifen.<lb/> Experimentiert werden konnte, wie es schien, nur mit einfachen Gegenständen,<lb/> und diese waren viel zu reizlos, um einen ästhetischen Zustand anzuregen. So<lb/> wenig Handlungen der Barmherzigkeit an Steinen, Stimmungen der Verehrung<lb/> an Kleinigkeiten des alltäglichen Lebens ausgelöst werden, so wenig ist eine<lb/> ästhetische Ergriffenheit angesichts von Visitenkarten denkbar.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0470]
Die experimentelle Ästhetik
Anzahl von Versuchspersonen vorlegt und sie bloß darüber urteilen läßt, welche
von diesen Figuren unter einer Reihe einander ähnlicher Gestalten den gefälligsten
Eindruck gemacht habe, so ist weder eine ästhetische Beurteilung bei jeder dieser
Personen ohne weiteres vorauszusetzen, noch auch dem Ergebnis irgendeine tiefere
gesetzmäßige Bedeutung beizulegen. Fechner hat die Urteile der verschiedenen
Versuchspersonen auf die einzelnen Figuren verteilt und diejenige sür die
ästhetisch bevorzugte erklärt, die den meisten Personen am besten gefiel. So
bekam er zugleich eine Kurve, welche die Grade der Wohlgefälligkeit der einzelnen
von den Versuchspersonen beurteilten Raumgestalten durch die Zahl der abgegebenen
Urteile ausdrückte. Eine solche Kurve mußte, da sie einer Wahrscheinlichkeits¬
betrachtung unterworfen wurde, auf voller Gleichwertigkeit der in sie auf¬
genommenen ästhetischen Beurteilungen beruhen. Diese war jedoch in keiner
Weise sichergestellt worden. Die Auswahl der Versuchspersonen, die Schulung
derselben, die besondere Aufgabe, der sie sich zu unterziehen hatten, all das war
bei den Fechnerschen Versuchen ohne Kontrolle oder Berücksichtigung geblieben.
So konnte denn das Resultat keine größere ästhetische Bedeutung beanspruchen,
die Methode der Untersuchung keine Aussichten auf neue Leistungen eröffnen.
Und so mußten die Anfänge der experimentellen Ästhetik jene Würdigung zu
verdienen scheinen und ertragen, die ihr allenthalben aus den Kreisen der Fach¬
leute entgegenschallte: ein nutzloses Spiel zu sein, das die Mühe nicht lohnte,
die darauf verwendet wurde. Weder psychologisch, noch ästhetisch war auf diesem
Wege eine Erkenntnis zu gewinnen. Insbesondere waren auch die Motive, von
denen die einzelnen Urteile abgehangen hatten, nicht festgestellt worden, und so
wußte man nicht, inwiefern die Verschiedenheit der Urteile mehr zufällig oder
durch konstante Neigungen oder Abneigungen begründet gewesen war.
Der Grund für die Geringschätzung, welche die zünftigen Ästhetiker dem
Fechnerschen Verfahren entgegenbrachten, lag aber auch in der Natur der Sache.
Notwendige Bedingung für die ästhetische Verwertbarkeit derartiger Experimente
mußte ja ein ästhetisches Verhalten der herangezogenen Versuchspersonen sein.
Wie konnte nun aber erwartet werden, daß einfache Figuren, wie Rechtecke oder
Ellipsen, in einer Versuchsperson eine Verfassung anregen würden, die der¬
jenigen gliche, in welche man Kunstwerken gegenüber ohne weiteres zu geraten
pflegt! Unwillkürlich konnte sicherlich niemand ästhetisch gestimmt werden, wenn
er so elementare, primitive Aufgaben vorgelegt erhielt. Sobald aber an der
grundlegenden Voraussetzung für die ästhetische Bedeutung der genannten
Experimente gezweifelt werden konnte, mußte selbstverständlich auch ein allgemeines
Bedenken gegenüber dem ganzen Verfahren und seinen Ergebnissen Platz greifen.
Experimentiert werden konnte, wie es schien, nur mit einfachen Gegenständen,
und diese waren viel zu reizlos, um einen ästhetischen Zustand anzuregen. So
wenig Handlungen der Barmherzigkeit an Steinen, Stimmungen der Verehrung
an Kleinigkeiten des alltäglichen Lebens ausgelöst werden, so wenig ist eine
ästhetische Ergriffenheit angesichts von Visitenkarten denkbar.
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |