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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Die experimentelle Ästhetik

Neigung zum Experimentieren, zu einer induktiven Untersuchung aller Gegenstände,
wie sie ihm als Naturforscher vertraut und geläufig war -- alles das befähigte
ihn, eine Wissenschaft ins Leben zu rufen, die eine eigentümliche Vereinigung
naturwissenschaftlicher Methodik und ästhetischer Aufgaben in sich schloß.

Freilich ist es Fechner mit diesen: Gebiete schlechter gegangen, als mit der
experimentellen Psychologie. Hier erlebte er selbst noch die Freude, seine Saat
aufgehen zu sehen. Männer, wie Wilhelm Wundt und Georg Elias Müller, wie
Carl Stumpf und Hermann Ebbinghaus traten das wissenschaftliche Erbe an, das er
mit genialen Forscherblick und hingebender Arbeit geschaffen und gefördert hatte.
In der experimentellen Ästhetik dagegen blieb er ganz ohne Nachfolge. Den
Eindruck, den er von dem Schicksal seiner Untersuchungen auf diesem Gebiete
hatte, hat er anschaulich in folgenden Worten geschildert: "Jemand sieht ein
bisher unbebautes Feld und meint, es könne etwas tragen. Er gräbt ein Stück
davon mühsam um, sät guten Samen darein und bietet von dem Ertrage den
Landsleuten ein Körbchen voll zur Probe dar. Der eine, der dazu kommt,
wirft den Inhalt aus dem Körbchen heraus und sagt: seht, es ist nichts darin;
ein anderer kehrt das Körbchen gar um. Vorher hatte man ihn schon wegen
seiner Bemühungen ausgelacht, und man beweist hiernach mit dieser Behandlung
des Ertrages, daß man recht hatte." Aber auch noch wesentlich später ist die
kritische Haltung der Zeitgenossen keine günstigere geworden. So erklärte Eduard
v. Hartmann, daß die Ergebnisse der experimentellen Untersuchungen und der
umständlichen mathematischen Berechnungen derselben ästhetisch so gut wie wertlos
seien und an die von kreißenden Bergen geborene Maus erinnern. Selbst die
heutige Ästhetik verhält sich noch zumeist ablehnend oder gleichgültig gegen
Fechners Methoden und Ergebnisse.

Dieses Verhalten hat verschiedene Gründe. Zunächst ist bei Fechner
unverkennbar eine gewisse Unfruchtbarkeit seiner experimentellen Befunde für die
eigentliche Ästhetik bestehen geblieben. Bei der Aufstellung seiner Prinzipien
dienen sie nicht als empirische Grundlage. Die ästhetischen Versuche werden
wehr nebenbei erwähnt. Sie scheinen nur dazu beigetragen zu haben, die
Scheidung eines direkten und eines assoziativem Faktors stützen zu helfen, d. h.
die Trennung der Einflüsse sinnlicher Natur, der Farben und Töne, Formen
und Rhythmen, von denjenigen der Erinnerung und des Wissens um die Be¬
deutung dieser Tatbestände. Aber diese Scheidung war schon englischen Ästhetikern
des achtzehnten Jahrhunderts bekannt gewesen, und Fechner selbst ist nicht erst
durch seine Versuche auf sie gekommen. So erscheint die experimentelle Ästhetik
bei ihm fast wie ein Nebenergebnis, das aus anderer Quelle geflossen, mit
anderer Absicht gewonnen, zur Begründung und Durchführung der Ästhetik selbst
nichts beizutragen vermag.

Ferner waren die Versuche von Fechner nicht recht geeignet, zu einem
ästhetischen Verhalten höheren Grades in Beziehung gesetzt zu werden. Wenn
man Rechtecke, Ellipsen und andere einfache räumliche Formen einer größeren


Grenzboten I 191S S9
Die experimentelle Ästhetik

Neigung zum Experimentieren, zu einer induktiven Untersuchung aller Gegenstände,
wie sie ihm als Naturforscher vertraut und geläufig war — alles das befähigte
ihn, eine Wissenschaft ins Leben zu rufen, die eine eigentümliche Vereinigung
naturwissenschaftlicher Methodik und ästhetischer Aufgaben in sich schloß.

Freilich ist es Fechner mit diesen: Gebiete schlechter gegangen, als mit der
experimentellen Psychologie. Hier erlebte er selbst noch die Freude, seine Saat
aufgehen zu sehen. Männer, wie Wilhelm Wundt und Georg Elias Müller, wie
Carl Stumpf und Hermann Ebbinghaus traten das wissenschaftliche Erbe an, das er
mit genialen Forscherblick und hingebender Arbeit geschaffen und gefördert hatte.
In der experimentellen Ästhetik dagegen blieb er ganz ohne Nachfolge. Den
Eindruck, den er von dem Schicksal seiner Untersuchungen auf diesem Gebiete
hatte, hat er anschaulich in folgenden Worten geschildert: „Jemand sieht ein
bisher unbebautes Feld und meint, es könne etwas tragen. Er gräbt ein Stück
davon mühsam um, sät guten Samen darein und bietet von dem Ertrage den
Landsleuten ein Körbchen voll zur Probe dar. Der eine, der dazu kommt,
wirft den Inhalt aus dem Körbchen heraus und sagt: seht, es ist nichts darin;
ein anderer kehrt das Körbchen gar um. Vorher hatte man ihn schon wegen
seiner Bemühungen ausgelacht, und man beweist hiernach mit dieser Behandlung
des Ertrages, daß man recht hatte." Aber auch noch wesentlich später ist die
kritische Haltung der Zeitgenossen keine günstigere geworden. So erklärte Eduard
v. Hartmann, daß die Ergebnisse der experimentellen Untersuchungen und der
umständlichen mathematischen Berechnungen derselben ästhetisch so gut wie wertlos
seien und an die von kreißenden Bergen geborene Maus erinnern. Selbst die
heutige Ästhetik verhält sich noch zumeist ablehnend oder gleichgültig gegen
Fechners Methoden und Ergebnisse.

Dieses Verhalten hat verschiedene Gründe. Zunächst ist bei Fechner
unverkennbar eine gewisse Unfruchtbarkeit seiner experimentellen Befunde für die
eigentliche Ästhetik bestehen geblieben. Bei der Aufstellung seiner Prinzipien
dienen sie nicht als empirische Grundlage. Die ästhetischen Versuche werden
wehr nebenbei erwähnt. Sie scheinen nur dazu beigetragen zu haben, die
Scheidung eines direkten und eines assoziativem Faktors stützen zu helfen, d. h.
die Trennung der Einflüsse sinnlicher Natur, der Farben und Töne, Formen
und Rhythmen, von denjenigen der Erinnerung und des Wissens um die Be¬
deutung dieser Tatbestände. Aber diese Scheidung war schon englischen Ästhetikern
des achtzehnten Jahrhunderts bekannt gewesen, und Fechner selbst ist nicht erst
durch seine Versuche auf sie gekommen. So erscheint die experimentelle Ästhetik
bei ihm fast wie ein Nebenergebnis, das aus anderer Quelle geflossen, mit
anderer Absicht gewonnen, zur Begründung und Durchführung der Ästhetik selbst
nichts beizutragen vermag.

Ferner waren die Versuche von Fechner nicht recht geeignet, zu einem
ästhetischen Verhalten höheren Grades in Beziehung gesetzt zu werden. Wenn
man Rechtecke, Ellipsen und andere einfache räumliche Formen einer größeren


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[0469] Die experimentelle Ästhetik Neigung zum Experimentieren, zu einer induktiven Untersuchung aller Gegenstände, wie sie ihm als Naturforscher vertraut und geläufig war — alles das befähigte ihn, eine Wissenschaft ins Leben zu rufen, die eine eigentümliche Vereinigung naturwissenschaftlicher Methodik und ästhetischer Aufgaben in sich schloß. Freilich ist es Fechner mit diesen: Gebiete schlechter gegangen, als mit der experimentellen Psychologie. Hier erlebte er selbst noch die Freude, seine Saat aufgehen zu sehen. Männer, wie Wilhelm Wundt und Georg Elias Müller, wie Carl Stumpf und Hermann Ebbinghaus traten das wissenschaftliche Erbe an, das er mit genialen Forscherblick und hingebender Arbeit geschaffen und gefördert hatte. In der experimentellen Ästhetik dagegen blieb er ganz ohne Nachfolge. Den Eindruck, den er von dem Schicksal seiner Untersuchungen auf diesem Gebiete hatte, hat er anschaulich in folgenden Worten geschildert: „Jemand sieht ein bisher unbebautes Feld und meint, es könne etwas tragen. Er gräbt ein Stück davon mühsam um, sät guten Samen darein und bietet von dem Ertrage den Landsleuten ein Körbchen voll zur Probe dar. Der eine, der dazu kommt, wirft den Inhalt aus dem Körbchen heraus und sagt: seht, es ist nichts darin; ein anderer kehrt das Körbchen gar um. Vorher hatte man ihn schon wegen seiner Bemühungen ausgelacht, und man beweist hiernach mit dieser Behandlung des Ertrages, daß man recht hatte." Aber auch noch wesentlich später ist die kritische Haltung der Zeitgenossen keine günstigere geworden. So erklärte Eduard v. Hartmann, daß die Ergebnisse der experimentellen Untersuchungen und der umständlichen mathematischen Berechnungen derselben ästhetisch so gut wie wertlos seien und an die von kreißenden Bergen geborene Maus erinnern. Selbst die heutige Ästhetik verhält sich noch zumeist ablehnend oder gleichgültig gegen Fechners Methoden und Ergebnisse. Dieses Verhalten hat verschiedene Gründe. Zunächst ist bei Fechner unverkennbar eine gewisse Unfruchtbarkeit seiner experimentellen Befunde für die eigentliche Ästhetik bestehen geblieben. Bei der Aufstellung seiner Prinzipien dienen sie nicht als empirische Grundlage. Die ästhetischen Versuche werden wehr nebenbei erwähnt. Sie scheinen nur dazu beigetragen zu haben, die Scheidung eines direkten und eines assoziativem Faktors stützen zu helfen, d. h. die Trennung der Einflüsse sinnlicher Natur, der Farben und Töne, Formen und Rhythmen, von denjenigen der Erinnerung und des Wissens um die Be¬ deutung dieser Tatbestände. Aber diese Scheidung war schon englischen Ästhetikern des achtzehnten Jahrhunderts bekannt gewesen, und Fechner selbst ist nicht erst durch seine Versuche auf sie gekommen. So erscheint die experimentelle Ästhetik bei ihm fast wie ein Nebenergebnis, das aus anderer Quelle geflossen, mit anderer Absicht gewonnen, zur Begründung und Durchführung der Ästhetik selbst nichts beizutragen vermag. Ferner waren die Versuche von Fechner nicht recht geeignet, zu einem ästhetischen Verhalten höheren Grades in Beziehung gesetzt zu werden. Wenn man Rechtecke, Ellipsen und andere einfache räumliche Formen einer größeren Grenzboten I 191S S9

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/469>, abgerufen am 19.10.2024.