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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Die experimentelle Ästhetik

Dazu kam endlich eine Opposition des Gemüts. Es herrscht eine allgemeine
begreifliche Abneigung dagegen, in den Wertgebieten der menschlichen Kultur
ein experimentelles Verfahren anwenden zu lassen. Wir beobachten das nicht
nur in der Ästhetik, sondern auch in der Ethik und in der Religionswissenschaft.
Wer möchte seine innerste Stellung zu den Fragen der Sittlichkeit und Tugend,
des religiösen Glaubens, der Bekehrung und Versöhnung in experimentellen
Untersuchungen darlegen? Bedeutet es nicht eine Entweihung dieser idealen
Erlebnisse, wenn sie durch geeignete Reize im Versuch erzeugt und verändert
werden? Schon allein das Bewußtsein, von einem Versnchsleiter für seine
wissenschaftlichen Zwecke benutzt zu werden, die Aussagen über Kunstobjekte ihm
zur Analyse und rechnerischem Bewertung zu überlassen und sich mit seinem
Empfinden und Urteil vor einer Allgemeinheit bloßzustellen, scheint dem ästhetischen
Verhalten seine Würde und Intimität, seine Tiefe und Ursprünglichkeit rauben
zu müssen.

Alle diese Erwägungen haben der experimentellen Ästhetik sicherlich viel mehr
schaden müssen, als der experimentellen Psychologie, die sich in ihren Anfängen
wenigstens auf einfachere Probleme beschränken, in einer Vorhalle verweilen
konnte. So ist es gekommen, daß vom Jahre 1876. wo Fechners Vorschule
der Ästhetik in zwei Bänden erschien und weiteren Kreisen die Methoden und
Resultate seiner experimentellen Forschungen nahebrachte, bis zum Jahre 1894
eine große Kluft besteht, in der kein Versuch experimenteller Ästhetik aufkam.
Erst durch die Arbeiten des Wundtscheu psychologischen Instituts ist darin ein
Wandel eingetreten, und gegenwärtig befindet sich die experimentelle Ästhetik,
wie es scheint, im Fahrwasser eines nach der Breite und nach der Tiefe
zunehmenden Stromes stetiger und fruchtbarer Entwicklung.

Wenn wir es versuchen, die charakteristischen Merkmale dieser Entwicklung
aufzuweisen, so fällt uns zunächst dabei die große Ausdehnung des Gebietes in
die Augen, welches sich der experimentellen Forschung erschlossen hat. Während
Fechner sich auf Raumformen beschränkte und nach einer einfachen Gesetzmäßigkeit
gefälliger Verhältnisse für zwei Ausdehnungen oder Entfernungen suchte, hat
sich die experimentelle Ästhetik seitdem auch den Farben und ihren Kombinationen,
dem Rhythmus, dem Raumproblem im engeren Sinne, d. h. der Anordnung
von Gegenständen im Raum, ferner der komischen Wirkung, der Musik, Poesie
und bildenden Kunst zugewandt. Freilich sind wir hier vielfach noch nicht über
bloße Anfänge hinausgekommen, aber die Mannigfaltigkeit derselben und ihre
methodische Bedeutung sind doch schon so groß, daß man ein weiteres Wachsen
experimenteller Arbeiten voraussehen kann und wünschen darf. Es ist eine alte
Wahrheit, daß der rechte Weg der erste Schritt zum Erfolge ist. Wenn man
die heutige Ausbildung der experimentellen Methoden übersieht, so wird man
sich als unvoreingenommener und verständnisvoller Beurteiler sagen müssen, daß
die Vielseitigkeit und Feinheit der bisher zur Geltung gekommenen Methoden
in der experimentellen Ästhetik die besten Hoffnungen für ihre Entwicklung erwecken.


Die experimentelle Ästhetik

Dazu kam endlich eine Opposition des Gemüts. Es herrscht eine allgemeine
begreifliche Abneigung dagegen, in den Wertgebieten der menschlichen Kultur
ein experimentelles Verfahren anwenden zu lassen. Wir beobachten das nicht
nur in der Ästhetik, sondern auch in der Ethik und in der Religionswissenschaft.
Wer möchte seine innerste Stellung zu den Fragen der Sittlichkeit und Tugend,
des religiösen Glaubens, der Bekehrung und Versöhnung in experimentellen
Untersuchungen darlegen? Bedeutet es nicht eine Entweihung dieser idealen
Erlebnisse, wenn sie durch geeignete Reize im Versuch erzeugt und verändert
werden? Schon allein das Bewußtsein, von einem Versnchsleiter für seine
wissenschaftlichen Zwecke benutzt zu werden, die Aussagen über Kunstobjekte ihm
zur Analyse und rechnerischem Bewertung zu überlassen und sich mit seinem
Empfinden und Urteil vor einer Allgemeinheit bloßzustellen, scheint dem ästhetischen
Verhalten seine Würde und Intimität, seine Tiefe und Ursprünglichkeit rauben
zu müssen.

Alle diese Erwägungen haben der experimentellen Ästhetik sicherlich viel mehr
schaden müssen, als der experimentellen Psychologie, die sich in ihren Anfängen
wenigstens auf einfachere Probleme beschränken, in einer Vorhalle verweilen
konnte. So ist es gekommen, daß vom Jahre 1876. wo Fechners Vorschule
der Ästhetik in zwei Bänden erschien und weiteren Kreisen die Methoden und
Resultate seiner experimentellen Forschungen nahebrachte, bis zum Jahre 1894
eine große Kluft besteht, in der kein Versuch experimenteller Ästhetik aufkam.
Erst durch die Arbeiten des Wundtscheu psychologischen Instituts ist darin ein
Wandel eingetreten, und gegenwärtig befindet sich die experimentelle Ästhetik,
wie es scheint, im Fahrwasser eines nach der Breite und nach der Tiefe
zunehmenden Stromes stetiger und fruchtbarer Entwicklung.

Wenn wir es versuchen, die charakteristischen Merkmale dieser Entwicklung
aufzuweisen, so fällt uns zunächst dabei die große Ausdehnung des Gebietes in
die Augen, welches sich der experimentellen Forschung erschlossen hat. Während
Fechner sich auf Raumformen beschränkte und nach einer einfachen Gesetzmäßigkeit
gefälliger Verhältnisse für zwei Ausdehnungen oder Entfernungen suchte, hat
sich die experimentelle Ästhetik seitdem auch den Farben und ihren Kombinationen,
dem Rhythmus, dem Raumproblem im engeren Sinne, d. h. der Anordnung
von Gegenständen im Raum, ferner der komischen Wirkung, der Musik, Poesie
und bildenden Kunst zugewandt. Freilich sind wir hier vielfach noch nicht über
bloße Anfänge hinausgekommen, aber die Mannigfaltigkeit derselben und ihre
methodische Bedeutung sind doch schon so groß, daß man ein weiteres Wachsen
experimenteller Arbeiten voraussehen kann und wünschen darf. Es ist eine alte
Wahrheit, daß der rechte Weg der erste Schritt zum Erfolge ist. Wenn man
die heutige Ausbildung der experimentellen Methoden übersieht, so wird man
sich als unvoreingenommener und verständnisvoller Beurteiler sagen müssen, daß
die Vielseitigkeit und Feinheit der bisher zur Geltung gekommenen Methoden
in der experimentellen Ästhetik die besten Hoffnungen für ihre Entwicklung erwecken.


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[0471] Die experimentelle Ästhetik Dazu kam endlich eine Opposition des Gemüts. Es herrscht eine allgemeine begreifliche Abneigung dagegen, in den Wertgebieten der menschlichen Kultur ein experimentelles Verfahren anwenden zu lassen. Wir beobachten das nicht nur in der Ästhetik, sondern auch in der Ethik und in der Religionswissenschaft. Wer möchte seine innerste Stellung zu den Fragen der Sittlichkeit und Tugend, des religiösen Glaubens, der Bekehrung und Versöhnung in experimentellen Untersuchungen darlegen? Bedeutet es nicht eine Entweihung dieser idealen Erlebnisse, wenn sie durch geeignete Reize im Versuch erzeugt und verändert werden? Schon allein das Bewußtsein, von einem Versnchsleiter für seine wissenschaftlichen Zwecke benutzt zu werden, die Aussagen über Kunstobjekte ihm zur Analyse und rechnerischem Bewertung zu überlassen und sich mit seinem Empfinden und Urteil vor einer Allgemeinheit bloßzustellen, scheint dem ästhetischen Verhalten seine Würde und Intimität, seine Tiefe und Ursprünglichkeit rauben zu müssen. Alle diese Erwägungen haben der experimentellen Ästhetik sicherlich viel mehr schaden müssen, als der experimentellen Psychologie, die sich in ihren Anfängen wenigstens auf einfachere Probleme beschränken, in einer Vorhalle verweilen konnte. So ist es gekommen, daß vom Jahre 1876. wo Fechners Vorschule der Ästhetik in zwei Bänden erschien und weiteren Kreisen die Methoden und Resultate seiner experimentellen Forschungen nahebrachte, bis zum Jahre 1894 eine große Kluft besteht, in der kein Versuch experimenteller Ästhetik aufkam. Erst durch die Arbeiten des Wundtscheu psychologischen Instituts ist darin ein Wandel eingetreten, und gegenwärtig befindet sich die experimentelle Ästhetik, wie es scheint, im Fahrwasser eines nach der Breite und nach der Tiefe zunehmenden Stromes stetiger und fruchtbarer Entwicklung. Wenn wir es versuchen, die charakteristischen Merkmale dieser Entwicklung aufzuweisen, so fällt uns zunächst dabei die große Ausdehnung des Gebietes in die Augen, welches sich der experimentellen Forschung erschlossen hat. Während Fechner sich auf Raumformen beschränkte und nach einer einfachen Gesetzmäßigkeit gefälliger Verhältnisse für zwei Ausdehnungen oder Entfernungen suchte, hat sich die experimentelle Ästhetik seitdem auch den Farben und ihren Kombinationen, dem Rhythmus, dem Raumproblem im engeren Sinne, d. h. der Anordnung von Gegenständen im Raum, ferner der komischen Wirkung, der Musik, Poesie und bildenden Kunst zugewandt. Freilich sind wir hier vielfach noch nicht über bloße Anfänge hinausgekommen, aber die Mannigfaltigkeit derselben und ihre methodische Bedeutung sind doch schon so groß, daß man ein weiteres Wachsen experimenteller Arbeiten voraussehen kann und wünschen darf. Es ist eine alte Wahrheit, daß der rechte Weg der erste Schritt zum Erfolge ist. Wenn man die heutige Ausbildung der experimentellen Methoden übersieht, so wird man sich als unvoreingenommener und verständnisvoller Beurteiler sagen müssen, daß die Vielseitigkeit und Feinheit der bisher zur Geltung gekommenen Methoden in der experimentellen Ästhetik die besten Hoffnungen für ihre Entwicklung erwecken.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/471>, abgerufen am 27.09.2024.