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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Idealismus und Realismus

Der philosophische Idealist behauptet, daß Ideen die einzige oder die
höchste Wirklichkeit seien. Dabei versteht man unter Ideen zunächst Abstrakta
wie Wahrheit, Schönheit, Tugend oder Gegenstände von Allgemeinbegriffen, in
denen das gedacht wird, was einer ganzen Klasse von Objekten gemeinsam ist.
Da dieses Abstrakte oder Allgemeine, z. B. das, worin alle Menschen überein¬
stimmen, das Wesentliche des Menschen oder das Wesen des Menschen, nicht
geboren wird und nicht stirbt, überhaupt niemals sich verändert, sondern sich
immer gleich bleibt, weil es eben das ist, was in allen vergangenen, gegen¬
wärtig lebenden und künftig erstehenden Generationen, Arten und Individuen
der Gattung Mensch übereinstimmt, so erscheint es dem Philosophen, der seinen
Blick vom Vergänglichen auf das Ewige richtet, als das Dauernde und des¬
halb wahrhaft Seiende gegenüber den Einzelwesen, die da kommen und gehen
wie Wellen im Meer. So ergibt sich eine erste Art des prinzipiellen Idealismus
der theoretischen Philosophie durch Verdinglichung, Hypostasierung des Abstrakten.
Von Platons Jdeenlehre bis zu den Theorien moderner Philosophen, die in
Naturgesetzen oder in einer sittlichen Weltordnung die Substanz der Welt zu
finden glauben, ist dieser Idealismus immer wieder hervorgetreten, und er wird
wohl niemals aussterben, so lange Menschen sich vom Klang ungewohnter Wort¬
verbindungen bezaubern lassen.

Aber so lange wie die Lebensdauer derartiger idealistischer Begriffsdichtungen
wird auch der Kampf währen, den die nach Klarheit strebenden Philosophen
gegen die Vertreter dieses spekulativen Tiefsinns führen. Gewiß gehört zu den
Merkmalen dessen, was man unter der Substanz versteht, die Dauer. Aber
nicht alles Dauernde ist substantiell. Substanz nennen wir das dauernde
Wirkliche, und das Wirkliche ist das in Wechselwirkung oder das in
Kausalzusammenhängen Stehende. Was nicht wirkt, d. h. nicht wirklich ist,
das mag als noch so unveränderlich gedacht werden, es bleibt ein Blo߬
gedachtes und besitzt niemals die Eigentümlichkeiten der Substanz. Abstrakt"
treten nicht in Wechselwirkung und bringen keine Wirkungen hervor. Es
sind bildliche Redensarten, wenn wir von der Macht der Schönheit oder
vom Sieg der Wahrheit sprechen. Der schöne Mensch übt unter Umständen
persönlichen Einfluß aus, das schöne Kunstwerk macht Eindruck auf den Beschauer,
wahrheitsuchende Männer triumphieren schließlich über die Feinde des Lichts.
Wer die elementare Tatsache der Unwirklichkeit oder NichtWirksamkeit des Ab¬
strakten nicht einzusehen oder nicht festzuhalten vermag, der bleibt schließlich in
einem Gespensterglauben stecken, auch wenn er es an spitzfindigen Argumenten
für seine angebliche wissenschaftliche Weltanschauung nicht fehlen läßt. Wer
kennt sie nicht, die berühmten Sophismen, daß wir nichts zu denken vermöchten,
was nicht durch unser Denken zu einem Gedachten, zu einem Begriff oder zu
einer Idee würde, daß Dinge, sowie sie unabhängig von uns und unähnlich
unseren Bewußtseinsinhalten nach der Ansicht des Realisten wie nach der
Meinung des philosophisch unbeeinflußten Menschen existieren, nicht nur nicht


Idealismus und Realismus

Der philosophische Idealist behauptet, daß Ideen die einzige oder die
höchste Wirklichkeit seien. Dabei versteht man unter Ideen zunächst Abstrakta
wie Wahrheit, Schönheit, Tugend oder Gegenstände von Allgemeinbegriffen, in
denen das gedacht wird, was einer ganzen Klasse von Objekten gemeinsam ist.
Da dieses Abstrakte oder Allgemeine, z. B. das, worin alle Menschen überein¬
stimmen, das Wesentliche des Menschen oder das Wesen des Menschen, nicht
geboren wird und nicht stirbt, überhaupt niemals sich verändert, sondern sich
immer gleich bleibt, weil es eben das ist, was in allen vergangenen, gegen¬
wärtig lebenden und künftig erstehenden Generationen, Arten und Individuen
der Gattung Mensch übereinstimmt, so erscheint es dem Philosophen, der seinen
Blick vom Vergänglichen auf das Ewige richtet, als das Dauernde und des¬
halb wahrhaft Seiende gegenüber den Einzelwesen, die da kommen und gehen
wie Wellen im Meer. So ergibt sich eine erste Art des prinzipiellen Idealismus
der theoretischen Philosophie durch Verdinglichung, Hypostasierung des Abstrakten.
Von Platons Jdeenlehre bis zu den Theorien moderner Philosophen, die in
Naturgesetzen oder in einer sittlichen Weltordnung die Substanz der Welt zu
finden glauben, ist dieser Idealismus immer wieder hervorgetreten, und er wird
wohl niemals aussterben, so lange Menschen sich vom Klang ungewohnter Wort¬
verbindungen bezaubern lassen.

Aber so lange wie die Lebensdauer derartiger idealistischer Begriffsdichtungen
wird auch der Kampf währen, den die nach Klarheit strebenden Philosophen
gegen die Vertreter dieses spekulativen Tiefsinns führen. Gewiß gehört zu den
Merkmalen dessen, was man unter der Substanz versteht, die Dauer. Aber
nicht alles Dauernde ist substantiell. Substanz nennen wir das dauernde
Wirkliche, und das Wirkliche ist das in Wechselwirkung oder das in
Kausalzusammenhängen Stehende. Was nicht wirkt, d. h. nicht wirklich ist,
das mag als noch so unveränderlich gedacht werden, es bleibt ein Blo߬
gedachtes und besitzt niemals die Eigentümlichkeiten der Substanz. Abstrakt«
treten nicht in Wechselwirkung und bringen keine Wirkungen hervor. Es
sind bildliche Redensarten, wenn wir von der Macht der Schönheit oder
vom Sieg der Wahrheit sprechen. Der schöne Mensch übt unter Umständen
persönlichen Einfluß aus, das schöne Kunstwerk macht Eindruck auf den Beschauer,
wahrheitsuchende Männer triumphieren schließlich über die Feinde des Lichts.
Wer die elementare Tatsache der Unwirklichkeit oder NichtWirksamkeit des Ab¬
strakten nicht einzusehen oder nicht festzuhalten vermag, der bleibt schließlich in
einem Gespensterglauben stecken, auch wenn er es an spitzfindigen Argumenten
für seine angebliche wissenschaftliche Weltanschauung nicht fehlen läßt. Wer
kennt sie nicht, die berühmten Sophismen, daß wir nichts zu denken vermöchten,
was nicht durch unser Denken zu einem Gedachten, zu einem Begriff oder zu
einer Idee würde, daß Dinge, sowie sie unabhängig von uns und unähnlich
unseren Bewußtseinsinhalten nach der Ansicht des Realisten wie nach der
Meinung des philosophisch unbeeinflußten Menschen existieren, nicht nur nicht


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[0425] Idealismus und Realismus Der philosophische Idealist behauptet, daß Ideen die einzige oder die höchste Wirklichkeit seien. Dabei versteht man unter Ideen zunächst Abstrakta wie Wahrheit, Schönheit, Tugend oder Gegenstände von Allgemeinbegriffen, in denen das gedacht wird, was einer ganzen Klasse von Objekten gemeinsam ist. Da dieses Abstrakte oder Allgemeine, z. B. das, worin alle Menschen überein¬ stimmen, das Wesentliche des Menschen oder das Wesen des Menschen, nicht geboren wird und nicht stirbt, überhaupt niemals sich verändert, sondern sich immer gleich bleibt, weil es eben das ist, was in allen vergangenen, gegen¬ wärtig lebenden und künftig erstehenden Generationen, Arten und Individuen der Gattung Mensch übereinstimmt, so erscheint es dem Philosophen, der seinen Blick vom Vergänglichen auf das Ewige richtet, als das Dauernde und des¬ halb wahrhaft Seiende gegenüber den Einzelwesen, die da kommen und gehen wie Wellen im Meer. So ergibt sich eine erste Art des prinzipiellen Idealismus der theoretischen Philosophie durch Verdinglichung, Hypostasierung des Abstrakten. Von Platons Jdeenlehre bis zu den Theorien moderner Philosophen, die in Naturgesetzen oder in einer sittlichen Weltordnung die Substanz der Welt zu finden glauben, ist dieser Idealismus immer wieder hervorgetreten, und er wird wohl niemals aussterben, so lange Menschen sich vom Klang ungewohnter Wort¬ verbindungen bezaubern lassen. Aber so lange wie die Lebensdauer derartiger idealistischer Begriffsdichtungen wird auch der Kampf währen, den die nach Klarheit strebenden Philosophen gegen die Vertreter dieses spekulativen Tiefsinns führen. Gewiß gehört zu den Merkmalen dessen, was man unter der Substanz versteht, die Dauer. Aber nicht alles Dauernde ist substantiell. Substanz nennen wir das dauernde Wirkliche, und das Wirkliche ist das in Wechselwirkung oder das in Kausalzusammenhängen Stehende. Was nicht wirkt, d. h. nicht wirklich ist, das mag als noch so unveränderlich gedacht werden, es bleibt ein Blo߬ gedachtes und besitzt niemals die Eigentümlichkeiten der Substanz. Abstrakt« treten nicht in Wechselwirkung und bringen keine Wirkungen hervor. Es sind bildliche Redensarten, wenn wir von der Macht der Schönheit oder vom Sieg der Wahrheit sprechen. Der schöne Mensch übt unter Umständen persönlichen Einfluß aus, das schöne Kunstwerk macht Eindruck auf den Beschauer, wahrheitsuchende Männer triumphieren schließlich über die Feinde des Lichts. Wer die elementare Tatsache der Unwirklichkeit oder NichtWirksamkeit des Ab¬ strakten nicht einzusehen oder nicht festzuhalten vermag, der bleibt schließlich in einem Gespensterglauben stecken, auch wenn er es an spitzfindigen Argumenten für seine angebliche wissenschaftliche Weltanschauung nicht fehlen läßt. Wer kennt sie nicht, die berühmten Sophismen, daß wir nichts zu denken vermöchten, was nicht durch unser Denken zu einem Gedachten, zu einem Begriff oder zu einer Idee würde, daß Dinge, sowie sie unabhängig von uns und unähnlich unseren Bewußtseinsinhalten nach der Ansicht des Realisten wie nach der Meinung des philosophisch unbeeinflußten Menschen existieren, nicht nur nicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/425>, abgerufen am 20.10.2024.