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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Idealismus und Realismus

für den wünschenswerten Zustand. Man begeistert sich bei dem Gedanken, daß
über all der irdischen Notdurft und Unvollkommenheit wie ein leuchtender Stern
das hohe Vorbild der Heiligkeit stehe, und daß es vor dem, der das Herz und
nicht die äußeren Handlungen ansieht, genüge, einen Widerschein des Himmels¬
lichts in stiller Seele erglühen zu lassen.

Man wird nicht behaupten dürfen, daß die Menschheit es unter der Führung
dieses sittlichen Idealismus in der sittlichen Vervollkommnung besonders weit
gebracht habe. Und auch wenn man alles bedenkt, was unter dem direkten
Einfluß unerfüllbarer sittlicher Forderungen an menschlichen Großtaten geleistet
worden ist, was namentlich die Menschen geleistet haben, die den Blick geflissentlich
abwenden von den Bedürfnissen des Lebens und das sittliche Ideal in seiner
Reinheit erfassen, wenn man dies vergleicht mit dem, was Individuen, Klassen,
Völker von gerechtem Sinn in der aller Heiligkeit abholden Verteidigung ihrer
wohlverstandenen Interessen erstrebt und erreicht haben, so wird der Vergleich
kaum zugunsten der sittlichen Idealisten ausfallen.

Auch unter dem sittlichen Idealismus versteht man freilich nicht nur die
Richtung, die im Hinblick auf ein weltenfernes Ideal, das doch nicht realisiert
werden kann, sich für die Praxis des Lebens mit dem Bewußtsein menschlicher
Sündhaftigkeit begnügt, ohne sich in den Geschäften dieser Sündhaftigkeit nach-
haltig stören zu lassen. Einen sittlichen Idealisten nennt man vielfach auch den,
der das bei unparteiischer Wertbeurteilung der tatsächlichen Lebensverhältnisse
als verbesserungsbedürftig und vervollkommnungssähig Erkannte dem innerlich
ergriffenen Zukunftsbild entsprechend umzugestalten sich bemüht. Bei dieser
Auffassung muß man natürlich alles menschlich Große, das in der Kultur¬
entwicklung zielbewußt verarbeitet worden ist, als Errungenschaft des sittlichen
Idealismus betrachten. Dadurch wird der Titel des sittlichen Idealisten zum
Ehrennamen, was leider auch jener wenig achtbaren Sorte der Idealisten mit
dem frommen Augenaufschlag oder mit der flammenden Redebegeisterung zugute
kommt.

So zeigt uns der Idealismus als Lebensform auf den verschiedensten
Kulturgebieten das Doppelantlitz, von dem eingangs die Rede war. Er tritt
als Streben nach Realisierung des Ideals in Gegensatz zu einem Realismus,
der die Wirklichkeit mit all ihren Mängeln kritiklos oder träge als etwas
schlechthin Anzuerkennendes betrachtet. Er stellt sich aber auch als Verzicht auf
Arbeit an der Wirklichkeit und als Begeisterung für das unrealisierbare Ideal
einem Realismus gegenüber, der als Aufgabe des Menschen nicht den Bau
von Luftschlössern, sondern nur die Bearbeitung der Wirklichkeit anzuerkennen
vermag.

Die Begriffsverwirrung, die in der Betrachtung und Wertbeurteilung des
praktischen Idealismus und Realismus vielfach zutage tritt, wird noch gesteigert,
wenn diese Richtungen nicht scharf unterschieden werden von dem, was man in
der Philosophie als Idealismus und Realismus zu bezeichnen pflegt.


Idealismus und Realismus

für den wünschenswerten Zustand. Man begeistert sich bei dem Gedanken, daß
über all der irdischen Notdurft und Unvollkommenheit wie ein leuchtender Stern
das hohe Vorbild der Heiligkeit stehe, und daß es vor dem, der das Herz und
nicht die äußeren Handlungen ansieht, genüge, einen Widerschein des Himmels¬
lichts in stiller Seele erglühen zu lassen.

Man wird nicht behaupten dürfen, daß die Menschheit es unter der Führung
dieses sittlichen Idealismus in der sittlichen Vervollkommnung besonders weit
gebracht habe. Und auch wenn man alles bedenkt, was unter dem direkten
Einfluß unerfüllbarer sittlicher Forderungen an menschlichen Großtaten geleistet
worden ist, was namentlich die Menschen geleistet haben, die den Blick geflissentlich
abwenden von den Bedürfnissen des Lebens und das sittliche Ideal in seiner
Reinheit erfassen, wenn man dies vergleicht mit dem, was Individuen, Klassen,
Völker von gerechtem Sinn in der aller Heiligkeit abholden Verteidigung ihrer
wohlverstandenen Interessen erstrebt und erreicht haben, so wird der Vergleich
kaum zugunsten der sittlichen Idealisten ausfallen.

Auch unter dem sittlichen Idealismus versteht man freilich nicht nur die
Richtung, die im Hinblick auf ein weltenfernes Ideal, das doch nicht realisiert
werden kann, sich für die Praxis des Lebens mit dem Bewußtsein menschlicher
Sündhaftigkeit begnügt, ohne sich in den Geschäften dieser Sündhaftigkeit nach-
haltig stören zu lassen. Einen sittlichen Idealisten nennt man vielfach auch den,
der das bei unparteiischer Wertbeurteilung der tatsächlichen Lebensverhältnisse
als verbesserungsbedürftig und vervollkommnungssähig Erkannte dem innerlich
ergriffenen Zukunftsbild entsprechend umzugestalten sich bemüht. Bei dieser
Auffassung muß man natürlich alles menschlich Große, das in der Kultur¬
entwicklung zielbewußt verarbeitet worden ist, als Errungenschaft des sittlichen
Idealismus betrachten. Dadurch wird der Titel des sittlichen Idealisten zum
Ehrennamen, was leider auch jener wenig achtbaren Sorte der Idealisten mit
dem frommen Augenaufschlag oder mit der flammenden Redebegeisterung zugute
kommt.

So zeigt uns der Idealismus als Lebensform auf den verschiedensten
Kulturgebieten das Doppelantlitz, von dem eingangs die Rede war. Er tritt
als Streben nach Realisierung des Ideals in Gegensatz zu einem Realismus,
der die Wirklichkeit mit all ihren Mängeln kritiklos oder träge als etwas
schlechthin Anzuerkennendes betrachtet. Er stellt sich aber auch als Verzicht auf
Arbeit an der Wirklichkeit und als Begeisterung für das unrealisierbare Ideal
einem Realismus gegenüber, der als Aufgabe des Menschen nicht den Bau
von Luftschlössern, sondern nur die Bearbeitung der Wirklichkeit anzuerkennen
vermag.

Die Begriffsverwirrung, die in der Betrachtung und Wertbeurteilung des
praktischen Idealismus und Realismus vielfach zutage tritt, wird noch gesteigert,
wenn diese Richtungen nicht scharf unterschieden werden von dem, was man in
der Philosophie als Idealismus und Realismus zu bezeichnen pflegt.


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[0424] Idealismus und Realismus für den wünschenswerten Zustand. Man begeistert sich bei dem Gedanken, daß über all der irdischen Notdurft und Unvollkommenheit wie ein leuchtender Stern das hohe Vorbild der Heiligkeit stehe, und daß es vor dem, der das Herz und nicht die äußeren Handlungen ansieht, genüge, einen Widerschein des Himmels¬ lichts in stiller Seele erglühen zu lassen. Man wird nicht behaupten dürfen, daß die Menschheit es unter der Führung dieses sittlichen Idealismus in der sittlichen Vervollkommnung besonders weit gebracht habe. Und auch wenn man alles bedenkt, was unter dem direkten Einfluß unerfüllbarer sittlicher Forderungen an menschlichen Großtaten geleistet worden ist, was namentlich die Menschen geleistet haben, die den Blick geflissentlich abwenden von den Bedürfnissen des Lebens und das sittliche Ideal in seiner Reinheit erfassen, wenn man dies vergleicht mit dem, was Individuen, Klassen, Völker von gerechtem Sinn in der aller Heiligkeit abholden Verteidigung ihrer wohlverstandenen Interessen erstrebt und erreicht haben, so wird der Vergleich kaum zugunsten der sittlichen Idealisten ausfallen. Auch unter dem sittlichen Idealismus versteht man freilich nicht nur die Richtung, die im Hinblick auf ein weltenfernes Ideal, das doch nicht realisiert werden kann, sich für die Praxis des Lebens mit dem Bewußtsein menschlicher Sündhaftigkeit begnügt, ohne sich in den Geschäften dieser Sündhaftigkeit nach- haltig stören zu lassen. Einen sittlichen Idealisten nennt man vielfach auch den, der das bei unparteiischer Wertbeurteilung der tatsächlichen Lebensverhältnisse als verbesserungsbedürftig und vervollkommnungssähig Erkannte dem innerlich ergriffenen Zukunftsbild entsprechend umzugestalten sich bemüht. Bei dieser Auffassung muß man natürlich alles menschlich Große, das in der Kultur¬ entwicklung zielbewußt verarbeitet worden ist, als Errungenschaft des sittlichen Idealismus betrachten. Dadurch wird der Titel des sittlichen Idealisten zum Ehrennamen, was leider auch jener wenig achtbaren Sorte der Idealisten mit dem frommen Augenaufschlag oder mit der flammenden Redebegeisterung zugute kommt. So zeigt uns der Idealismus als Lebensform auf den verschiedensten Kulturgebieten das Doppelantlitz, von dem eingangs die Rede war. Er tritt als Streben nach Realisierung des Ideals in Gegensatz zu einem Realismus, der die Wirklichkeit mit all ihren Mängeln kritiklos oder träge als etwas schlechthin Anzuerkennendes betrachtet. Er stellt sich aber auch als Verzicht auf Arbeit an der Wirklichkeit und als Begeisterung für das unrealisierbare Ideal einem Realismus gegenüber, der als Aufgabe des Menschen nicht den Bau von Luftschlössern, sondern nur die Bearbeitung der Wirklichkeit anzuerkennen vermag. Die Begriffsverwirrung, die in der Betrachtung und Wertbeurteilung des praktischen Idealismus und Realismus vielfach zutage tritt, wird noch gesteigert, wenn diese Richtungen nicht scharf unterschieden werden von dem, was man in der Philosophie als Idealismus und Realismus zu bezeichnen pflegt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/424>, abgerufen am 20.10.2024.