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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Idealismus und Realismus

vorgestellt, sondern auch nicht gedacht werden könnten usw.? Man muß gänzlich
unvertraut sein mit den Methoden der in ihrem innersten Lebensnerv realistischen
positiven Wissenschaft, und man muß die Augen verschließen vor den Ergebnissen
der Psychologie, die uns unterscheiden lehrt zwischen Denken und Gedachtem,
zwischen Begriff und Begriffsgegenstand und die uns zeigt, daß das Gedachte,
der Begriffsgegenstand, nicht an der Beschaffenheit des Denkens teil hat, daß
der Raum beispielsweise uicht wie der Gedanke, der ihn erfaßt, ein entstehender
und vergehender Prozeß, ein Bewußtseinsvorgang oder Bewußtseinsinhalt ist,
so wenig wie die Bewußtseinsgeschehnisse, die Akte des Vorstellens und Denkens
dreidimensionale Ausdehnung besitzen; man muß das alles aus dem Auge ver¬
lieren, sich durch die Mehrdeutigkeit von Wörtern wie Bewußtsein und Bewußt¬
semsinhalt täuschen lassen und schließlich noch das "Gedachte" mit dem "Bloß
Gedachten" verwechseln, um den Idealismus vertreten zu können, der den Kern
der Wirklichkeit als ein System von Begriffen oder Ideen betrachtet.

Eine etwas harmlosere Form des philosophischen Idealismus ist der
sogenannte psychologische Idealismus, der nicht die Unveränderlichkeit des Ab¬
strakten und Allgemeinen mit dem Prädikat des Bewußten und Geistigen
zusammenschweißt und durch dieses Kunststück eine substantielle Geistigkeit oder
eine unvergängliche Ideenwelt auf den Weltenthron erhebt. Wenn man nämlich
erkennt, daß die Vorstellungen, Gedanken, Gefühle, Begehrungen, Affekte,
Leidenschaften der Menschenseele nichts weniger als unvergängliche ewige Wesen¬
heiten, daß sie vielmehr kurzdauernde Prozesse sind, und wenn man nicht mehr
das, was in einem flüchtigen Gedanken als ewig sich gleich bleibender Gegen¬
stand gedacht wird, mit den Prädikaten des Gedankens, besonders mit dem der
Geistigkeit dekoriert, dann kann man das Geistige im Sinne des Gedanken¬
artigen oder Jdeenähnlichen nur noch in den Vorgängen des Seelenlebens finden.
Leugnet man dann die Existenz einer Substanz, eines Substrates oder Subjektes
der seelischen Geschehnisse, so ergibt sich die Lehre des psychologischen Idealismus,
daß die Welt nichts sei als ein ruhelos dahinflutender Strom von Empfindungen.
Vorstellungen, Gedanken, Gefühlen, Begehrungen usw., ein Strom, in dem sich
gewissermaßen Wirbel bilden, die den einzelnen Individuen entsprechen, der
aber alles zu flüchtigen Sonderbildungen zusammengefügte seelische Leben in
seiner Einheit befaßt und mit sich fortführt. Es kann hier auf die logische
Unmöglichkeit auch dieser Lehre, die unter anderem zu dem Satz gelangt, der
menschliche Leib sei nur die Erscheinung menschlichen Seelenlebens, nicht näher
eingegangen werden. Wer darüber zu voller Klarheit gelangen will, muß sich
in die verwickelten Gedankengänge einer realistischen Erkenntnistheorie vertiefen.
Wer sich aber nur einen flüchtigen Begriff von den Schwierigkeiten verschaffen
möchte, in die der psychologische Idealismus verstrickt, der werfe die Frage auf,
warum der menschliche Leib so gar nicht zusammenschrumpft, wenn im traum¬
losen Schlaf oder in der Narkose ein so großer Teil des Seelenlebens in Wegfall
kommt, dessen Erscheinung doch der Körper sein soll!


Idealismus und Realismus

vorgestellt, sondern auch nicht gedacht werden könnten usw.? Man muß gänzlich
unvertraut sein mit den Methoden der in ihrem innersten Lebensnerv realistischen
positiven Wissenschaft, und man muß die Augen verschließen vor den Ergebnissen
der Psychologie, die uns unterscheiden lehrt zwischen Denken und Gedachtem,
zwischen Begriff und Begriffsgegenstand und die uns zeigt, daß das Gedachte,
der Begriffsgegenstand, nicht an der Beschaffenheit des Denkens teil hat, daß
der Raum beispielsweise uicht wie der Gedanke, der ihn erfaßt, ein entstehender
und vergehender Prozeß, ein Bewußtseinsvorgang oder Bewußtseinsinhalt ist,
so wenig wie die Bewußtseinsgeschehnisse, die Akte des Vorstellens und Denkens
dreidimensionale Ausdehnung besitzen; man muß das alles aus dem Auge ver¬
lieren, sich durch die Mehrdeutigkeit von Wörtern wie Bewußtsein und Bewußt¬
semsinhalt täuschen lassen und schließlich noch das „Gedachte" mit dem „Bloß
Gedachten" verwechseln, um den Idealismus vertreten zu können, der den Kern
der Wirklichkeit als ein System von Begriffen oder Ideen betrachtet.

Eine etwas harmlosere Form des philosophischen Idealismus ist der
sogenannte psychologische Idealismus, der nicht die Unveränderlichkeit des Ab¬
strakten und Allgemeinen mit dem Prädikat des Bewußten und Geistigen
zusammenschweißt und durch dieses Kunststück eine substantielle Geistigkeit oder
eine unvergängliche Ideenwelt auf den Weltenthron erhebt. Wenn man nämlich
erkennt, daß die Vorstellungen, Gedanken, Gefühle, Begehrungen, Affekte,
Leidenschaften der Menschenseele nichts weniger als unvergängliche ewige Wesen¬
heiten, daß sie vielmehr kurzdauernde Prozesse sind, und wenn man nicht mehr
das, was in einem flüchtigen Gedanken als ewig sich gleich bleibender Gegen¬
stand gedacht wird, mit den Prädikaten des Gedankens, besonders mit dem der
Geistigkeit dekoriert, dann kann man das Geistige im Sinne des Gedanken¬
artigen oder Jdeenähnlichen nur noch in den Vorgängen des Seelenlebens finden.
Leugnet man dann die Existenz einer Substanz, eines Substrates oder Subjektes
der seelischen Geschehnisse, so ergibt sich die Lehre des psychologischen Idealismus,
daß die Welt nichts sei als ein ruhelos dahinflutender Strom von Empfindungen.
Vorstellungen, Gedanken, Gefühlen, Begehrungen usw., ein Strom, in dem sich
gewissermaßen Wirbel bilden, die den einzelnen Individuen entsprechen, der
aber alles zu flüchtigen Sonderbildungen zusammengefügte seelische Leben in
seiner Einheit befaßt und mit sich fortführt. Es kann hier auf die logische
Unmöglichkeit auch dieser Lehre, die unter anderem zu dem Satz gelangt, der
menschliche Leib sei nur die Erscheinung menschlichen Seelenlebens, nicht näher
eingegangen werden. Wer darüber zu voller Klarheit gelangen will, muß sich
in die verwickelten Gedankengänge einer realistischen Erkenntnistheorie vertiefen.
Wer sich aber nur einen flüchtigen Begriff von den Schwierigkeiten verschaffen
möchte, in die der psychologische Idealismus verstrickt, der werfe die Frage auf,
warum der menschliche Leib so gar nicht zusammenschrumpft, wenn im traum¬
losen Schlaf oder in der Narkose ein so großer Teil des Seelenlebens in Wegfall
kommt, dessen Erscheinung doch der Körper sein soll!


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[0426] Idealismus und Realismus vorgestellt, sondern auch nicht gedacht werden könnten usw.? Man muß gänzlich unvertraut sein mit den Methoden der in ihrem innersten Lebensnerv realistischen positiven Wissenschaft, und man muß die Augen verschließen vor den Ergebnissen der Psychologie, die uns unterscheiden lehrt zwischen Denken und Gedachtem, zwischen Begriff und Begriffsgegenstand und die uns zeigt, daß das Gedachte, der Begriffsgegenstand, nicht an der Beschaffenheit des Denkens teil hat, daß der Raum beispielsweise uicht wie der Gedanke, der ihn erfaßt, ein entstehender und vergehender Prozeß, ein Bewußtseinsvorgang oder Bewußtseinsinhalt ist, so wenig wie die Bewußtseinsgeschehnisse, die Akte des Vorstellens und Denkens dreidimensionale Ausdehnung besitzen; man muß das alles aus dem Auge ver¬ lieren, sich durch die Mehrdeutigkeit von Wörtern wie Bewußtsein und Bewußt¬ semsinhalt täuschen lassen und schließlich noch das „Gedachte" mit dem „Bloß Gedachten" verwechseln, um den Idealismus vertreten zu können, der den Kern der Wirklichkeit als ein System von Begriffen oder Ideen betrachtet. Eine etwas harmlosere Form des philosophischen Idealismus ist der sogenannte psychologische Idealismus, der nicht die Unveränderlichkeit des Ab¬ strakten und Allgemeinen mit dem Prädikat des Bewußten und Geistigen zusammenschweißt und durch dieses Kunststück eine substantielle Geistigkeit oder eine unvergängliche Ideenwelt auf den Weltenthron erhebt. Wenn man nämlich erkennt, daß die Vorstellungen, Gedanken, Gefühle, Begehrungen, Affekte, Leidenschaften der Menschenseele nichts weniger als unvergängliche ewige Wesen¬ heiten, daß sie vielmehr kurzdauernde Prozesse sind, und wenn man nicht mehr das, was in einem flüchtigen Gedanken als ewig sich gleich bleibender Gegen¬ stand gedacht wird, mit den Prädikaten des Gedankens, besonders mit dem der Geistigkeit dekoriert, dann kann man das Geistige im Sinne des Gedanken¬ artigen oder Jdeenähnlichen nur noch in den Vorgängen des Seelenlebens finden. Leugnet man dann die Existenz einer Substanz, eines Substrates oder Subjektes der seelischen Geschehnisse, so ergibt sich die Lehre des psychologischen Idealismus, daß die Welt nichts sei als ein ruhelos dahinflutender Strom von Empfindungen. Vorstellungen, Gedanken, Gefühlen, Begehrungen usw., ein Strom, in dem sich gewissermaßen Wirbel bilden, die den einzelnen Individuen entsprechen, der aber alles zu flüchtigen Sonderbildungen zusammengefügte seelische Leben in seiner Einheit befaßt und mit sich fortführt. Es kann hier auf die logische Unmöglichkeit auch dieser Lehre, die unter anderem zu dem Satz gelangt, der menschliche Leib sei nur die Erscheinung menschlichen Seelenlebens, nicht näher eingegangen werden. Wer darüber zu voller Klarheit gelangen will, muß sich in die verwickelten Gedankengänge einer realistischen Erkenntnistheorie vertiefen. Wer sich aber nur einen flüchtigen Begriff von den Schwierigkeiten verschaffen möchte, in die der psychologische Idealismus verstrickt, der werfe die Frage auf, warum der menschliche Leib so gar nicht zusammenschrumpft, wenn im traum¬ losen Schlaf oder in der Narkose ein so großer Teil des Seelenlebens in Wegfall kommt, dessen Erscheinung doch der Körper sein soll!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/426>, abgerufen am 27.09.2024.