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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Idealismus und Realismus

langen Weges oft ebensowenig gelangen läßt, wie an ein Ziel, zu dem kein
Weg führt.

Der pädagogische Idealismus und Optimismus ist nicht selten gepriesen
worden als eine Kraftquelle, ohne deren belebenden Einfluß in Wirklichkeit viel
weniger erreicht würde, als von hoffnungsfrohen, glaubensstarken Erziehern
geleistet wird. Diese Ansicht hat eine gewisse Berechtigung. Es gibt offenbar
Menschen, die der Illusion bedürfen, um das Alltagsleben erträglich zu finden.
Aber ob man aus dieser Not eine Tugend machen soll, das ist doch eine Frage
für sich. Mit Recht weist man darauf hin, daß vieles von Kleinmut und Un¬
verstand für unerreichbar gehalten worden sei, was der himmelstürmende Idealismus
zum Segen der Menschheit vom Traum zur Wirklichkeit erhoben habe. Aber in
diesem Fall handelt es sich ja nicht um den Idealismus, der sich täuschen und
getäuscht sein will. Wir stoßen eben immer wieder auf den Gegensatz der Ver¬
haltungsweisen, die trotz ihrer völligen Verschiedenheit beide idealistisch genannt
werden. Dem utopistischen oder Traum-Idealismus, der sich in Illusionen wiegt
und sich Rechenschaft zu geben scheut von den Zugeständnissen, die er der
Wirklichkeit macht und machen muß, steht auch auf dem Gebiet der Erziehung die
tatkräftige Bearbeitung von Lebensaufgaben, deren Lösung natürlich zuerst in
der Idee erfaßt sein muß, als eine ganz andere Art von leider ebenfalls
sogenanntem Idealismus gegenüber. Wenn diese unglückselige Verquickung von
so gar nicht Zusammengehörigen erst einmal aufgehoben ist, dann werden
Männer wie Pestalozzi, von denen das Wort gilt: "Sie sammeln still und
unerschlafft im kleinsten Punkt die größte Kraft", nicht mehr in eine Linie gestellt
werden mit Schwärmern wie Rousseau, deren Leben ihre Theorie Lügen straft.
Auch in der Gegenwart wird dann vielleicht nicht mehr die ernste Reformarbeit
mit prahlerischer Reformprogrammen verwechselt und mancher rechte Mann nicht
mehr den allzu nüchtern Denkenden als unpraktischer Idealist verdächtigt, während
Schwätzer sich von einem begeisterungssähigen Publikum als weltüberwindende,
himmelstürmende Idealisten bewundern lassen.

Ganz besonders gefährlich wird diese Nichtunterscheidung des idealistischen
Schönredners und des nach Übereinstimmung von Ideal und Leben strebenden
Willensmenschen auf sittlichem Gebiet. Moral predigen ist leicht. Aber schwer
ist es, das praktische Leben mit der sittlichen Beurteilung in Einklang zu bringen.
Ja bei gewissen sittlichen Idealen ist die Kluft zwischen Ideal und Leben
unüberbrückbar. Wer es für seine Pflicht hält, nur für andere zu leben, aus
Kosten seines eigenen Besitzes den Besitz von anderen zu vermehren, erlittenes
Unrecht zu verzeihen, auch wenn keine Genugtuung erfolgt, kurz wer die Grund¬
sätze eines Heiligen als höchste sittliche Norm anerkennt, der sieht sich außer¬
stande, seine Pflicht wirklich zu erfüllen. Dieser Sachlage gegenüber betrachtet
es der realistisch Denkende als nächste Aufgabe, das sittliche Ideal so zu gestalten,
daß es wenigstens gutem Willen und glücklicher Veranlagung erreichbar wird.
Eine Richtung des Idealismus dagegen hält gerade die Weltenferne des Ideals


Idealismus und Realismus

langen Weges oft ebensowenig gelangen läßt, wie an ein Ziel, zu dem kein
Weg führt.

Der pädagogische Idealismus und Optimismus ist nicht selten gepriesen
worden als eine Kraftquelle, ohne deren belebenden Einfluß in Wirklichkeit viel
weniger erreicht würde, als von hoffnungsfrohen, glaubensstarken Erziehern
geleistet wird. Diese Ansicht hat eine gewisse Berechtigung. Es gibt offenbar
Menschen, die der Illusion bedürfen, um das Alltagsleben erträglich zu finden.
Aber ob man aus dieser Not eine Tugend machen soll, das ist doch eine Frage
für sich. Mit Recht weist man darauf hin, daß vieles von Kleinmut und Un¬
verstand für unerreichbar gehalten worden sei, was der himmelstürmende Idealismus
zum Segen der Menschheit vom Traum zur Wirklichkeit erhoben habe. Aber in
diesem Fall handelt es sich ja nicht um den Idealismus, der sich täuschen und
getäuscht sein will. Wir stoßen eben immer wieder auf den Gegensatz der Ver¬
haltungsweisen, die trotz ihrer völligen Verschiedenheit beide idealistisch genannt
werden. Dem utopistischen oder Traum-Idealismus, der sich in Illusionen wiegt
und sich Rechenschaft zu geben scheut von den Zugeständnissen, die er der
Wirklichkeit macht und machen muß, steht auch auf dem Gebiet der Erziehung die
tatkräftige Bearbeitung von Lebensaufgaben, deren Lösung natürlich zuerst in
der Idee erfaßt sein muß, als eine ganz andere Art von leider ebenfalls
sogenanntem Idealismus gegenüber. Wenn diese unglückselige Verquickung von
so gar nicht Zusammengehörigen erst einmal aufgehoben ist, dann werden
Männer wie Pestalozzi, von denen das Wort gilt: „Sie sammeln still und
unerschlafft im kleinsten Punkt die größte Kraft", nicht mehr in eine Linie gestellt
werden mit Schwärmern wie Rousseau, deren Leben ihre Theorie Lügen straft.
Auch in der Gegenwart wird dann vielleicht nicht mehr die ernste Reformarbeit
mit prahlerischer Reformprogrammen verwechselt und mancher rechte Mann nicht
mehr den allzu nüchtern Denkenden als unpraktischer Idealist verdächtigt, während
Schwätzer sich von einem begeisterungssähigen Publikum als weltüberwindende,
himmelstürmende Idealisten bewundern lassen.

Ganz besonders gefährlich wird diese Nichtunterscheidung des idealistischen
Schönredners und des nach Übereinstimmung von Ideal und Leben strebenden
Willensmenschen auf sittlichem Gebiet. Moral predigen ist leicht. Aber schwer
ist es, das praktische Leben mit der sittlichen Beurteilung in Einklang zu bringen.
Ja bei gewissen sittlichen Idealen ist die Kluft zwischen Ideal und Leben
unüberbrückbar. Wer es für seine Pflicht hält, nur für andere zu leben, aus
Kosten seines eigenen Besitzes den Besitz von anderen zu vermehren, erlittenes
Unrecht zu verzeihen, auch wenn keine Genugtuung erfolgt, kurz wer die Grund¬
sätze eines Heiligen als höchste sittliche Norm anerkennt, der sieht sich außer¬
stande, seine Pflicht wirklich zu erfüllen. Dieser Sachlage gegenüber betrachtet
es der realistisch Denkende als nächste Aufgabe, das sittliche Ideal so zu gestalten,
daß es wenigstens gutem Willen und glücklicher Veranlagung erreichbar wird.
Eine Richtung des Idealismus dagegen hält gerade die Weltenferne des Ideals


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[0423] Idealismus und Realismus langen Weges oft ebensowenig gelangen läßt, wie an ein Ziel, zu dem kein Weg führt. Der pädagogische Idealismus und Optimismus ist nicht selten gepriesen worden als eine Kraftquelle, ohne deren belebenden Einfluß in Wirklichkeit viel weniger erreicht würde, als von hoffnungsfrohen, glaubensstarken Erziehern geleistet wird. Diese Ansicht hat eine gewisse Berechtigung. Es gibt offenbar Menschen, die der Illusion bedürfen, um das Alltagsleben erträglich zu finden. Aber ob man aus dieser Not eine Tugend machen soll, das ist doch eine Frage für sich. Mit Recht weist man darauf hin, daß vieles von Kleinmut und Un¬ verstand für unerreichbar gehalten worden sei, was der himmelstürmende Idealismus zum Segen der Menschheit vom Traum zur Wirklichkeit erhoben habe. Aber in diesem Fall handelt es sich ja nicht um den Idealismus, der sich täuschen und getäuscht sein will. Wir stoßen eben immer wieder auf den Gegensatz der Ver¬ haltungsweisen, die trotz ihrer völligen Verschiedenheit beide idealistisch genannt werden. Dem utopistischen oder Traum-Idealismus, der sich in Illusionen wiegt und sich Rechenschaft zu geben scheut von den Zugeständnissen, die er der Wirklichkeit macht und machen muß, steht auch auf dem Gebiet der Erziehung die tatkräftige Bearbeitung von Lebensaufgaben, deren Lösung natürlich zuerst in der Idee erfaßt sein muß, als eine ganz andere Art von leider ebenfalls sogenanntem Idealismus gegenüber. Wenn diese unglückselige Verquickung von so gar nicht Zusammengehörigen erst einmal aufgehoben ist, dann werden Männer wie Pestalozzi, von denen das Wort gilt: „Sie sammeln still und unerschlafft im kleinsten Punkt die größte Kraft", nicht mehr in eine Linie gestellt werden mit Schwärmern wie Rousseau, deren Leben ihre Theorie Lügen straft. Auch in der Gegenwart wird dann vielleicht nicht mehr die ernste Reformarbeit mit prahlerischer Reformprogrammen verwechselt und mancher rechte Mann nicht mehr den allzu nüchtern Denkenden als unpraktischer Idealist verdächtigt, während Schwätzer sich von einem begeisterungssähigen Publikum als weltüberwindende, himmelstürmende Idealisten bewundern lassen. Ganz besonders gefährlich wird diese Nichtunterscheidung des idealistischen Schönredners und des nach Übereinstimmung von Ideal und Leben strebenden Willensmenschen auf sittlichem Gebiet. Moral predigen ist leicht. Aber schwer ist es, das praktische Leben mit der sittlichen Beurteilung in Einklang zu bringen. Ja bei gewissen sittlichen Idealen ist die Kluft zwischen Ideal und Leben unüberbrückbar. Wer es für seine Pflicht hält, nur für andere zu leben, aus Kosten seines eigenen Besitzes den Besitz von anderen zu vermehren, erlittenes Unrecht zu verzeihen, auch wenn keine Genugtuung erfolgt, kurz wer die Grund¬ sätze eines Heiligen als höchste sittliche Norm anerkennt, der sieht sich außer¬ stande, seine Pflicht wirklich zu erfüllen. Dieser Sachlage gegenüber betrachtet es der realistisch Denkende als nächste Aufgabe, das sittliche Ideal so zu gestalten, daß es wenigstens gutem Willen und glücklicher Veranlagung erreichbar wird. Eine Richtung des Idealismus dagegen hält gerade die Weltenferne des Ideals

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/423>, abgerufen am 27.09.2024.