Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Prophet oder Künstler?

bare, gefühlsmäßige Erfassen von dem Wesen einer Persönlichkeit und der
psychologischen Naturgesetze, nach denen sie "funktioniert" und sich entwickelt.
Beide Arten der Intuition tragen die schöpferische Kraft in sich, diese Ent¬
wicklung aus sich heraus neu zu wiederholen, und die intuitive Erkenntnis
beweist sich bei beiden Arten als ein kritisches Prinzip. Dieses kritische Prinzip
richtet sich gegen alles, was der intuitiver Erkenntnis nicht zugänglich ist, weil
es als außerhalb der natürlichen Entwicklung und deshalb als Auswuchs und
unberechtigt erscheint.

Nun aber scheiden sich religiöse und künstlerische Intuition. Die religiöse
Intuition, die infolge ihres religiösen Charakters von vornherein auf ethischer,
sittlicher Grundlage steht, verfolgt auch ethische und sittliche Ziele, zieht deshalb
ohne weiteres aus ihrer intuitiver Kritik die praktischen Folgerungen.

Die künstlerische Intuition dagegen richtet sich von vornherein lediglich auf
die Erfassung des rein Tatsächlichen in seinem bloßen Daseinswert. Es
interessiert sie zum Beispiel die Persönlichkeit rein als solche, sie sucht ihr Wesen
und die Gesetze ihres Werdens schöpferisch nachzugestalten, ohne auf irgend¬
welche praktische Folgerungen bei dieser nachschaffenden Darstellung irgendwie
Beziehung zu nehmen. Die kritische Aufgabe der Intuition auf künstlerischem
Gebiete besteht daher nur darin, alles Unwahre und Zufällige aus der Erscheinung
der Persönlichkeit auszuschalten oder wenigstens als solches klarzulegen. Es
fällt damit kein Urteil über ihre praktische Existenzberechtigung.

Diesen rein objektiv und nicht praktisch interessierten Charakter der künst¬
lerischen Intuition und der künstlerischen Darstellung wollte Gerhart Hauptmann
durch jenes stilistische Mittel betonen, daß er seiner Erzählung einen leicht
ironischen, aktenmäßig-chronistischen Charakter gab. Anderseits hat er aber
hierbei doch mit sicherem Gefühl die Grenze innegehalten, bis zu der nämlich
die Ironie gehen konnte, ohne den Eindruck von der Natürlichkeit und Wahr¬
haftigkeit des Dargestellten zu stören.

Wie ich oben schon einmal andeutete, beruht ja der allgemein gültige Ein¬
druck des Kunstwerkes auf der inneren Geschlossenheit und natürlichen Gesetz¬
mäßigkeit, die es als Erzeugnis der psychologisch notwendig arbeitenden künstlerischen
Intuition zur Schau trägt. Es ist das, was man gewöhnlich als die künstlerische
und ästhetische Wahrheit bezeichnet. Hauptmann hat sich nun sehr wohl gehütet,
die künstlerische Wahrheit und die damit zusammenhängende Überzeugungskraft
in der Gestalt Quirls durch jenen ironisierenden und leicht bedauernden Ton
irgendwie zu beschädigen. Im Gegenteil: jener "Narr" und seine intuitive Auf¬
fassung vom Wesen Christi und der christlichen Lehre wirkt in der geschlossenen
und intuitio wahren Darstellung des Künstlers Hauptmann so stark auf uns,
daß wir bald vor einem Zwiespalt stehen und uns fragen: "Sollen wir hier
lediglich den religiös-intuitiver Propheten Quint hören und mit ihm die praktischen
Folgerungen aus seinen Gedankengängen ziehen, oder sollen wir den leicht
ironisierenden und kühl objektiv darstellenden Künstler Hauptmann hören und


Prophet oder Künstler?

bare, gefühlsmäßige Erfassen von dem Wesen einer Persönlichkeit und der
psychologischen Naturgesetze, nach denen sie „funktioniert" und sich entwickelt.
Beide Arten der Intuition tragen die schöpferische Kraft in sich, diese Ent¬
wicklung aus sich heraus neu zu wiederholen, und die intuitive Erkenntnis
beweist sich bei beiden Arten als ein kritisches Prinzip. Dieses kritische Prinzip
richtet sich gegen alles, was der intuitiver Erkenntnis nicht zugänglich ist, weil
es als außerhalb der natürlichen Entwicklung und deshalb als Auswuchs und
unberechtigt erscheint.

Nun aber scheiden sich religiöse und künstlerische Intuition. Die religiöse
Intuition, die infolge ihres religiösen Charakters von vornherein auf ethischer,
sittlicher Grundlage steht, verfolgt auch ethische und sittliche Ziele, zieht deshalb
ohne weiteres aus ihrer intuitiver Kritik die praktischen Folgerungen.

Die künstlerische Intuition dagegen richtet sich von vornherein lediglich auf
die Erfassung des rein Tatsächlichen in seinem bloßen Daseinswert. Es
interessiert sie zum Beispiel die Persönlichkeit rein als solche, sie sucht ihr Wesen
und die Gesetze ihres Werdens schöpferisch nachzugestalten, ohne auf irgend¬
welche praktische Folgerungen bei dieser nachschaffenden Darstellung irgendwie
Beziehung zu nehmen. Die kritische Aufgabe der Intuition auf künstlerischem
Gebiete besteht daher nur darin, alles Unwahre und Zufällige aus der Erscheinung
der Persönlichkeit auszuschalten oder wenigstens als solches klarzulegen. Es
fällt damit kein Urteil über ihre praktische Existenzberechtigung.

Diesen rein objektiv und nicht praktisch interessierten Charakter der künst¬
lerischen Intuition und der künstlerischen Darstellung wollte Gerhart Hauptmann
durch jenes stilistische Mittel betonen, daß er seiner Erzählung einen leicht
ironischen, aktenmäßig-chronistischen Charakter gab. Anderseits hat er aber
hierbei doch mit sicherem Gefühl die Grenze innegehalten, bis zu der nämlich
die Ironie gehen konnte, ohne den Eindruck von der Natürlichkeit und Wahr¬
haftigkeit des Dargestellten zu stören.

Wie ich oben schon einmal andeutete, beruht ja der allgemein gültige Ein¬
druck des Kunstwerkes auf der inneren Geschlossenheit und natürlichen Gesetz¬
mäßigkeit, die es als Erzeugnis der psychologisch notwendig arbeitenden künstlerischen
Intuition zur Schau trägt. Es ist das, was man gewöhnlich als die künstlerische
und ästhetische Wahrheit bezeichnet. Hauptmann hat sich nun sehr wohl gehütet,
die künstlerische Wahrheit und die damit zusammenhängende Überzeugungskraft
in der Gestalt Quirls durch jenen ironisierenden und leicht bedauernden Ton
irgendwie zu beschädigen. Im Gegenteil: jener „Narr" und seine intuitive Auf¬
fassung vom Wesen Christi und der christlichen Lehre wirkt in der geschlossenen
und intuitio wahren Darstellung des Künstlers Hauptmann so stark auf uns,
daß wir bald vor einem Zwiespalt stehen und uns fragen: „Sollen wir hier
lediglich den religiös-intuitiver Propheten Quint hören und mit ihm die praktischen
Folgerungen aus seinen Gedankengängen ziehen, oder sollen wir den leicht
ironisierenden und kühl objektiv darstellenden Künstler Hauptmann hören und


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0387" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/320804"/>
          <fw type="header" place="top"> Prophet oder Künstler?</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1639" prev="#ID_1638"> bare, gefühlsmäßige Erfassen von dem Wesen einer Persönlichkeit und der<lb/>
psychologischen Naturgesetze, nach denen sie &#x201E;funktioniert" und sich entwickelt.<lb/>
Beide Arten der Intuition tragen die schöpferische Kraft in sich, diese Ent¬<lb/>
wicklung aus sich heraus neu zu wiederholen, und die intuitive Erkenntnis<lb/>
beweist sich bei beiden Arten als ein kritisches Prinzip. Dieses kritische Prinzip<lb/>
richtet sich gegen alles, was der intuitiver Erkenntnis nicht zugänglich ist, weil<lb/>
es als außerhalb der natürlichen Entwicklung und deshalb als Auswuchs und<lb/>
unberechtigt erscheint.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1640"> Nun aber scheiden sich religiöse und künstlerische Intuition. Die religiöse<lb/>
Intuition, die infolge ihres religiösen Charakters von vornherein auf ethischer,<lb/>
sittlicher Grundlage steht, verfolgt auch ethische und sittliche Ziele, zieht deshalb<lb/>
ohne weiteres aus ihrer intuitiver Kritik die praktischen Folgerungen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1641"> Die künstlerische Intuition dagegen richtet sich von vornherein lediglich auf<lb/>
die Erfassung des rein Tatsächlichen in seinem bloßen Daseinswert. Es<lb/>
interessiert sie zum Beispiel die Persönlichkeit rein als solche, sie sucht ihr Wesen<lb/>
und die Gesetze ihres Werdens schöpferisch nachzugestalten, ohne auf irgend¬<lb/>
welche praktische Folgerungen bei dieser nachschaffenden Darstellung irgendwie<lb/>
Beziehung zu nehmen. Die kritische Aufgabe der Intuition auf künstlerischem<lb/>
Gebiete besteht daher nur darin, alles Unwahre und Zufällige aus der Erscheinung<lb/>
der Persönlichkeit auszuschalten oder wenigstens als solches klarzulegen. Es<lb/>
fällt damit kein Urteil über ihre praktische Existenzberechtigung.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1642"> Diesen rein objektiv und nicht praktisch interessierten Charakter der künst¬<lb/>
lerischen Intuition und der künstlerischen Darstellung wollte Gerhart Hauptmann<lb/>
durch jenes stilistische Mittel betonen, daß er seiner Erzählung einen leicht<lb/>
ironischen, aktenmäßig-chronistischen Charakter gab. Anderseits hat er aber<lb/>
hierbei doch mit sicherem Gefühl die Grenze innegehalten, bis zu der nämlich<lb/>
die Ironie gehen konnte, ohne den Eindruck von der Natürlichkeit und Wahr¬<lb/>
haftigkeit des Dargestellten zu stören.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1643" next="#ID_1644"> Wie ich oben schon einmal andeutete, beruht ja der allgemein gültige Ein¬<lb/>
druck des Kunstwerkes auf der inneren Geschlossenheit und natürlichen Gesetz¬<lb/>
mäßigkeit, die es als Erzeugnis der psychologisch notwendig arbeitenden künstlerischen<lb/>
Intuition zur Schau trägt. Es ist das, was man gewöhnlich als die künstlerische<lb/>
und ästhetische Wahrheit bezeichnet. Hauptmann hat sich nun sehr wohl gehütet,<lb/>
die künstlerische Wahrheit und die damit zusammenhängende Überzeugungskraft<lb/>
in der Gestalt Quirls durch jenen ironisierenden und leicht bedauernden Ton<lb/>
irgendwie zu beschädigen. Im Gegenteil: jener &#x201E;Narr" und seine intuitive Auf¬<lb/>
fassung vom Wesen Christi und der christlichen Lehre wirkt in der geschlossenen<lb/>
und intuitio wahren Darstellung des Künstlers Hauptmann so stark auf uns,<lb/>
daß wir bald vor einem Zwiespalt stehen und uns fragen: &#x201E;Sollen wir hier<lb/>
lediglich den religiös-intuitiver Propheten Quint hören und mit ihm die praktischen<lb/>
Folgerungen aus seinen Gedankengängen ziehen, oder sollen wir den leicht<lb/>
ironisierenden und kühl objektiv darstellenden Künstler Hauptmann hören und</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0387] Prophet oder Künstler? bare, gefühlsmäßige Erfassen von dem Wesen einer Persönlichkeit und der psychologischen Naturgesetze, nach denen sie „funktioniert" und sich entwickelt. Beide Arten der Intuition tragen die schöpferische Kraft in sich, diese Ent¬ wicklung aus sich heraus neu zu wiederholen, und die intuitive Erkenntnis beweist sich bei beiden Arten als ein kritisches Prinzip. Dieses kritische Prinzip richtet sich gegen alles, was der intuitiver Erkenntnis nicht zugänglich ist, weil es als außerhalb der natürlichen Entwicklung und deshalb als Auswuchs und unberechtigt erscheint. Nun aber scheiden sich religiöse und künstlerische Intuition. Die religiöse Intuition, die infolge ihres religiösen Charakters von vornherein auf ethischer, sittlicher Grundlage steht, verfolgt auch ethische und sittliche Ziele, zieht deshalb ohne weiteres aus ihrer intuitiver Kritik die praktischen Folgerungen. Die künstlerische Intuition dagegen richtet sich von vornherein lediglich auf die Erfassung des rein Tatsächlichen in seinem bloßen Daseinswert. Es interessiert sie zum Beispiel die Persönlichkeit rein als solche, sie sucht ihr Wesen und die Gesetze ihres Werdens schöpferisch nachzugestalten, ohne auf irgend¬ welche praktische Folgerungen bei dieser nachschaffenden Darstellung irgendwie Beziehung zu nehmen. Die kritische Aufgabe der Intuition auf künstlerischem Gebiete besteht daher nur darin, alles Unwahre und Zufällige aus der Erscheinung der Persönlichkeit auszuschalten oder wenigstens als solches klarzulegen. Es fällt damit kein Urteil über ihre praktische Existenzberechtigung. Diesen rein objektiv und nicht praktisch interessierten Charakter der künst¬ lerischen Intuition und der künstlerischen Darstellung wollte Gerhart Hauptmann durch jenes stilistische Mittel betonen, daß er seiner Erzählung einen leicht ironischen, aktenmäßig-chronistischen Charakter gab. Anderseits hat er aber hierbei doch mit sicherem Gefühl die Grenze innegehalten, bis zu der nämlich die Ironie gehen konnte, ohne den Eindruck von der Natürlichkeit und Wahr¬ haftigkeit des Dargestellten zu stören. Wie ich oben schon einmal andeutete, beruht ja der allgemein gültige Ein¬ druck des Kunstwerkes auf der inneren Geschlossenheit und natürlichen Gesetz¬ mäßigkeit, die es als Erzeugnis der psychologisch notwendig arbeitenden künstlerischen Intuition zur Schau trägt. Es ist das, was man gewöhnlich als die künstlerische und ästhetische Wahrheit bezeichnet. Hauptmann hat sich nun sehr wohl gehütet, die künstlerische Wahrheit und die damit zusammenhängende Überzeugungskraft in der Gestalt Quirls durch jenen ironisierenden und leicht bedauernden Ton irgendwie zu beschädigen. Im Gegenteil: jener „Narr" und seine intuitive Auf¬ fassung vom Wesen Christi und der christlichen Lehre wirkt in der geschlossenen und intuitio wahren Darstellung des Künstlers Hauptmann so stark auf uns, daß wir bald vor einem Zwiespalt stehen und uns fragen: „Sollen wir hier lediglich den religiös-intuitiver Propheten Quint hören und mit ihm die praktischen Folgerungen aus seinen Gedankengängen ziehen, oder sollen wir den leicht ironisierenden und kühl objektiv darstellenden Künstler Hauptmann hören und

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/387
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/387>, abgerufen am 20.10.2024.