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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Prophet oder MMler?

diesem Falle der Künstler Gerhart Hauptmann -- verwirft aus dem Leben
Christi und dem Bericht der Evangelien alles, was seiner in den Bahnen des
psychologischen Natur- und Entwicklungsgesetzes schreitenden Intuition nicht
zugänglich ist, z. B. eine Anzahl Wunder Christi, wie die Totenerweckungen.
Diese naiv-gläubig berichteten Tatsachen sind dem psychologischen Gesetze nicht
zugänglich, daher muß die Intuition vor ihnen Halt machen. Das Resultat ist:
Der Prophet Quint und hinter ihm der Dichter Hauptmann scheiden sie kritisch
aus und verwerfen sie als objektive Tatsachen; sie verwerfen sie aber damit
nicht ganz. Denn von der anderen Seite her finden diese Wunder doch aus
gewissen grob-naiven, abergläubischen und wundersüchtigen Tendenzen der
Volksseele ihre psychologische Erklärung. Als ein Produkt dieser Tendenzen
sind sie auch der Intuition psychologisch zugänglich und so finden sie immerhin
eine Erklärung, allerdings eben eine kritische in ganz anderem als dem theolo¬
gischen Sinne.

Es ist nun zu beachten, wie der Künstler Hauptmann sich überall strenge
davor hütet, die praktischen Konsequenzen aus der intuitiver Kritik etwa selber
zu ziehen, sich selbst, seine eigene Persönlichkeit kritisierend hervortreten zu lassen.
Er läßt nur seinen Helden, den Propheten Emanuel Quint, die praktischen
Folgerungen aus seiner Kritik ziehen, er allein wird in den realen Gegensatz
zur Welt gestellt und geht im kritischen Kampfe gegen das Bestehende zugrunde.

Der Dichter bemüht sich auf jede mögliche Weise, seine völlige Objektivität
gegenüber den von ihm geschilderten Geschehnissen und psychologischen Ent¬
wicklungsgängen dem Leser zum Bewußtsein zu bringen. Schon die Wahl des
Romantitels "Der Narr in Christo" dient diesem Zwecke. Er wirft auf den
Helden den Schein von etwas Anormalem, Krankhaften, das man nur unter
gewissen Voraussetzungen ernst zu nehmen habe. Diesen eigentümlichen Gesichts¬
winkel sucht Hauptmann beim Leser ständig auch weiterhin aufrecht zu erhalten,
indem er seinem Bericht die leichte kühl-sachliche Färbung gibt, die einer
Krankheitsgeschichte oder der aktenmäßigen Darstellung eines außergewöhnlichen
Gerichtsfalles eigen sind, oder den leicht bedauernden Tonfall des "leider", mit
dem ein Chronist von Irrtümern und Verkehrtheiten vergangener Zeiten spricht.
Das alles aber tut er wohl nicht aus dem Grunde, weil er sich scheute, die
Konsequenzen aus seinen künstlerischen Gedankengängen zu ziehen oder für sie
einzutreten. Er tut vielmehr damit etwas durchaus Künstlerisches.

Während es im Wesen der religiösen Intuition liegt, praktische Folgerungen
aus ihrer intuitiver Erkenntnis zu ziehen, während sie bemüht ist, ihre Erkenntnis
auf die praktischen Werte des Lebens anzuwenden, fehlt dieses Bedürfnis voll¬
ständig der künstlerischen Intuition.

Wir stehen hier an dem Punkte, wo religiöse und künstlerische Intuition
sich wesentlich voneinander scheiden. Es sei daher wiederholt, wie weit ihr
Wesen uns bisher aus Gerhart Hauptmanns Werk klargeworden ist. Beide
Arten der Intuition sind insofern eins, als sie sich darstellen als das nanntet-


Prophet oder MMler?

diesem Falle der Künstler Gerhart Hauptmann — verwirft aus dem Leben
Christi und dem Bericht der Evangelien alles, was seiner in den Bahnen des
psychologischen Natur- und Entwicklungsgesetzes schreitenden Intuition nicht
zugänglich ist, z. B. eine Anzahl Wunder Christi, wie die Totenerweckungen.
Diese naiv-gläubig berichteten Tatsachen sind dem psychologischen Gesetze nicht
zugänglich, daher muß die Intuition vor ihnen Halt machen. Das Resultat ist:
Der Prophet Quint und hinter ihm der Dichter Hauptmann scheiden sie kritisch
aus und verwerfen sie als objektive Tatsachen; sie verwerfen sie aber damit
nicht ganz. Denn von der anderen Seite her finden diese Wunder doch aus
gewissen grob-naiven, abergläubischen und wundersüchtigen Tendenzen der
Volksseele ihre psychologische Erklärung. Als ein Produkt dieser Tendenzen
sind sie auch der Intuition psychologisch zugänglich und so finden sie immerhin
eine Erklärung, allerdings eben eine kritische in ganz anderem als dem theolo¬
gischen Sinne.

Es ist nun zu beachten, wie der Künstler Hauptmann sich überall strenge
davor hütet, die praktischen Konsequenzen aus der intuitiver Kritik etwa selber
zu ziehen, sich selbst, seine eigene Persönlichkeit kritisierend hervortreten zu lassen.
Er läßt nur seinen Helden, den Propheten Emanuel Quint, die praktischen
Folgerungen aus seiner Kritik ziehen, er allein wird in den realen Gegensatz
zur Welt gestellt und geht im kritischen Kampfe gegen das Bestehende zugrunde.

Der Dichter bemüht sich auf jede mögliche Weise, seine völlige Objektivität
gegenüber den von ihm geschilderten Geschehnissen und psychologischen Ent¬
wicklungsgängen dem Leser zum Bewußtsein zu bringen. Schon die Wahl des
Romantitels „Der Narr in Christo" dient diesem Zwecke. Er wirft auf den
Helden den Schein von etwas Anormalem, Krankhaften, das man nur unter
gewissen Voraussetzungen ernst zu nehmen habe. Diesen eigentümlichen Gesichts¬
winkel sucht Hauptmann beim Leser ständig auch weiterhin aufrecht zu erhalten,
indem er seinem Bericht die leichte kühl-sachliche Färbung gibt, die einer
Krankheitsgeschichte oder der aktenmäßigen Darstellung eines außergewöhnlichen
Gerichtsfalles eigen sind, oder den leicht bedauernden Tonfall des „leider", mit
dem ein Chronist von Irrtümern und Verkehrtheiten vergangener Zeiten spricht.
Das alles aber tut er wohl nicht aus dem Grunde, weil er sich scheute, die
Konsequenzen aus seinen künstlerischen Gedankengängen zu ziehen oder für sie
einzutreten. Er tut vielmehr damit etwas durchaus Künstlerisches.

Während es im Wesen der religiösen Intuition liegt, praktische Folgerungen
aus ihrer intuitiver Erkenntnis zu ziehen, während sie bemüht ist, ihre Erkenntnis
auf die praktischen Werte des Lebens anzuwenden, fehlt dieses Bedürfnis voll¬
ständig der künstlerischen Intuition.

Wir stehen hier an dem Punkte, wo religiöse und künstlerische Intuition
sich wesentlich voneinander scheiden. Es sei daher wiederholt, wie weit ihr
Wesen uns bisher aus Gerhart Hauptmanns Werk klargeworden ist. Beide
Arten der Intuition sind insofern eins, als sie sich darstellen als das nanntet-


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[0386] Prophet oder MMler? diesem Falle der Künstler Gerhart Hauptmann — verwirft aus dem Leben Christi und dem Bericht der Evangelien alles, was seiner in den Bahnen des psychologischen Natur- und Entwicklungsgesetzes schreitenden Intuition nicht zugänglich ist, z. B. eine Anzahl Wunder Christi, wie die Totenerweckungen. Diese naiv-gläubig berichteten Tatsachen sind dem psychologischen Gesetze nicht zugänglich, daher muß die Intuition vor ihnen Halt machen. Das Resultat ist: Der Prophet Quint und hinter ihm der Dichter Hauptmann scheiden sie kritisch aus und verwerfen sie als objektive Tatsachen; sie verwerfen sie aber damit nicht ganz. Denn von der anderen Seite her finden diese Wunder doch aus gewissen grob-naiven, abergläubischen und wundersüchtigen Tendenzen der Volksseele ihre psychologische Erklärung. Als ein Produkt dieser Tendenzen sind sie auch der Intuition psychologisch zugänglich und so finden sie immerhin eine Erklärung, allerdings eben eine kritische in ganz anderem als dem theolo¬ gischen Sinne. Es ist nun zu beachten, wie der Künstler Hauptmann sich überall strenge davor hütet, die praktischen Konsequenzen aus der intuitiver Kritik etwa selber zu ziehen, sich selbst, seine eigene Persönlichkeit kritisierend hervortreten zu lassen. Er läßt nur seinen Helden, den Propheten Emanuel Quint, die praktischen Folgerungen aus seiner Kritik ziehen, er allein wird in den realen Gegensatz zur Welt gestellt und geht im kritischen Kampfe gegen das Bestehende zugrunde. Der Dichter bemüht sich auf jede mögliche Weise, seine völlige Objektivität gegenüber den von ihm geschilderten Geschehnissen und psychologischen Ent¬ wicklungsgängen dem Leser zum Bewußtsein zu bringen. Schon die Wahl des Romantitels „Der Narr in Christo" dient diesem Zwecke. Er wirft auf den Helden den Schein von etwas Anormalem, Krankhaften, das man nur unter gewissen Voraussetzungen ernst zu nehmen habe. Diesen eigentümlichen Gesichts¬ winkel sucht Hauptmann beim Leser ständig auch weiterhin aufrecht zu erhalten, indem er seinem Bericht die leichte kühl-sachliche Färbung gibt, die einer Krankheitsgeschichte oder der aktenmäßigen Darstellung eines außergewöhnlichen Gerichtsfalles eigen sind, oder den leicht bedauernden Tonfall des „leider", mit dem ein Chronist von Irrtümern und Verkehrtheiten vergangener Zeiten spricht. Das alles aber tut er wohl nicht aus dem Grunde, weil er sich scheute, die Konsequenzen aus seinen künstlerischen Gedankengängen zu ziehen oder für sie einzutreten. Er tut vielmehr damit etwas durchaus Künstlerisches. Während es im Wesen der religiösen Intuition liegt, praktische Folgerungen aus ihrer intuitiver Erkenntnis zu ziehen, während sie bemüht ist, ihre Erkenntnis auf die praktischen Werte des Lebens anzuwenden, fehlt dieses Bedürfnis voll¬ ständig der künstlerischen Intuition. Wir stehen hier an dem Punkte, wo religiöse und künstlerische Intuition sich wesentlich voneinander scheiden. Es sei daher wiederholt, wie weit ihr Wesen uns bisher aus Gerhart Hauptmanns Werk klargeworden ist. Beide Arten der Intuition sind insofern eins, als sie sich darstellen als das nanntet-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/386>, abgerufen am 27.09.2024.