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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Prophet oder Künstler?

und durch bewußte Herausforderung der staatlichen und kirchlichen Mächte
diesen Untergang zu sichern und zu beschleunigen, indem er auf Grund seiner
intuitiver Erkenntnis vom Wesen Gottes und vom Verhältnis des Menschen
zu ihm an allen bestehenden staatlichen und kirchlichen Verhältnissen Kritik übt.
Er macht sich als intuitiver Mensch nicht klar, daß ein Gottesbegriff, völlig auf
religiöse Intuition aufgebaut, wie der seine, eben deshalb eine rein persönliche,
individuelle Sache, weiter nichts als ein persönliches Erlebnis ist und ein solches
auch nur bleiben kann, daß er nicht als Grundlage irgendeiner Gemeinschafts¬
form, sei sie staatlicher oder kirchlicher Art, dienen kann, daß sein Träger daher
in Gegensatz zu jeder solchen Gemeinschaftsform treten muß. Quint sieht daher
auch nicht, daß selbst die christliche Kirche als solche, das heißt als Gemeinschafts¬
form, auf diesen intuitio-persönlichen Gottesbegriff nicht aufgebaut sein kann,
daß sie die Schaffung dieses intuitio-persönlichen Gottesbegriffes dem Indivi¬
duum überlassen muß. Er sieht nur, daß die Kirche nicht auf seinem intuitio
erfaßten Begriff vom Wesen Christi und seiner Lehre aufgebaut ist, obgleich sie
sich "christlich" nennt, und übt daher aus diesem Gesichtspunkt seine Kritik an
ihr -- keine Verstandeskritik, sondern eine Gefühlskritik.

Ich zeichne hier den Entwicklungsgang Quirls nach dem Romane Haupt¬
manns. Die Analogieschlüsse auf Christus überläßt der Dichter dem Leser.

Jedenfalls ist es klar, daß unter der Beleuchtung eines solchen Analogie¬
schlusses der Opfertod Christi weniger als eine "Erlösungstat" zum Wohle der
sündigen Menschheit erscheinen würde, sondern als eine tragische Tat, als eine
bewußte und tragisch-resignierte Hinopferung für den Wahn der Durchschnitts¬
menschheit.

Die religiöse Intuition vom Wesen Christi und seiner Lehre führt also
Quint zu einer rücksichtslosen Kritik gesellschaftlicher, staatlicher und kirchlicher
Gemeinschaftsformen, sie wird zu einem kritischen Prinzip, das allerdings zunächst
nur persönliche, individuale Kraft und Gewißheit besitzt und das auf die
Allgemeinheit nur soweit einleuchtend wirken kann, als es der intuitiver Per¬
sönlichkeit gelingt, die Allgemeinheit auf der Bahn der Intuition fortzureißen.
Diese fortreißende Kraft der intuitiver Erkenntnis und Persönlichkeit, die ihr
ein gewisses Maß von Allgemeingültigkeit verleihen kann, ist der Grund für die
gewaltige Wirkung der Persönlichkeit Christi, auf sie weist uns Hauptmann
überall da hin, wo er den überwältigenden Eindruck der Persönlichkeit Quirls
schildert, auf ihr beruht mindestens zum Teil die Möglichkeit des allgemein-
gleichen Eindruckes eines Kunstwerkes, als eines Erzeugnisses künstlerischer
Intuition. Wenn aber auch die Überzeugungskraft der intuitiver Kritik aus
einer so persönlichen und individuellen Wurzel entspringt, so ist sie deshalb doch
nicht weniger stark.

Die religiöse -- und man muß hier hinzufügen die künstlerische Intuition
beweisen aber ihre Brauchbarkeit als kritisches Prinzip noch an einer zweiten
Stelle. Der religiöse Schwärmer Emanuel Quint -- und hinter ihm steht in


Prophet oder Künstler?

und durch bewußte Herausforderung der staatlichen und kirchlichen Mächte
diesen Untergang zu sichern und zu beschleunigen, indem er auf Grund seiner
intuitiver Erkenntnis vom Wesen Gottes und vom Verhältnis des Menschen
zu ihm an allen bestehenden staatlichen und kirchlichen Verhältnissen Kritik übt.
Er macht sich als intuitiver Mensch nicht klar, daß ein Gottesbegriff, völlig auf
religiöse Intuition aufgebaut, wie der seine, eben deshalb eine rein persönliche,
individuelle Sache, weiter nichts als ein persönliches Erlebnis ist und ein solches
auch nur bleiben kann, daß er nicht als Grundlage irgendeiner Gemeinschafts¬
form, sei sie staatlicher oder kirchlicher Art, dienen kann, daß sein Träger daher
in Gegensatz zu jeder solchen Gemeinschaftsform treten muß. Quint sieht daher
auch nicht, daß selbst die christliche Kirche als solche, das heißt als Gemeinschafts¬
form, auf diesen intuitio-persönlichen Gottesbegriff nicht aufgebaut sein kann,
daß sie die Schaffung dieses intuitio-persönlichen Gottesbegriffes dem Indivi¬
duum überlassen muß. Er sieht nur, daß die Kirche nicht auf seinem intuitio
erfaßten Begriff vom Wesen Christi und seiner Lehre aufgebaut ist, obgleich sie
sich „christlich" nennt, und übt daher aus diesem Gesichtspunkt seine Kritik an
ihr — keine Verstandeskritik, sondern eine Gefühlskritik.

Ich zeichne hier den Entwicklungsgang Quirls nach dem Romane Haupt¬
manns. Die Analogieschlüsse auf Christus überläßt der Dichter dem Leser.

Jedenfalls ist es klar, daß unter der Beleuchtung eines solchen Analogie¬
schlusses der Opfertod Christi weniger als eine „Erlösungstat" zum Wohle der
sündigen Menschheit erscheinen würde, sondern als eine tragische Tat, als eine
bewußte und tragisch-resignierte Hinopferung für den Wahn der Durchschnitts¬
menschheit.

Die religiöse Intuition vom Wesen Christi und seiner Lehre führt also
Quint zu einer rücksichtslosen Kritik gesellschaftlicher, staatlicher und kirchlicher
Gemeinschaftsformen, sie wird zu einem kritischen Prinzip, das allerdings zunächst
nur persönliche, individuale Kraft und Gewißheit besitzt und das auf die
Allgemeinheit nur soweit einleuchtend wirken kann, als es der intuitiver Per¬
sönlichkeit gelingt, die Allgemeinheit auf der Bahn der Intuition fortzureißen.
Diese fortreißende Kraft der intuitiver Erkenntnis und Persönlichkeit, die ihr
ein gewisses Maß von Allgemeingültigkeit verleihen kann, ist der Grund für die
gewaltige Wirkung der Persönlichkeit Christi, auf sie weist uns Hauptmann
überall da hin, wo er den überwältigenden Eindruck der Persönlichkeit Quirls
schildert, auf ihr beruht mindestens zum Teil die Möglichkeit des allgemein-
gleichen Eindruckes eines Kunstwerkes, als eines Erzeugnisses künstlerischer
Intuition. Wenn aber auch die Überzeugungskraft der intuitiver Kritik aus
einer so persönlichen und individuellen Wurzel entspringt, so ist sie deshalb doch
nicht weniger stark.

Die religiöse — und man muß hier hinzufügen die künstlerische Intuition
beweisen aber ihre Brauchbarkeit als kritisches Prinzip noch an einer zweiten
Stelle. Der religiöse Schwärmer Emanuel Quint — und hinter ihm steht in


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[0385] Prophet oder Künstler? und durch bewußte Herausforderung der staatlichen und kirchlichen Mächte diesen Untergang zu sichern und zu beschleunigen, indem er auf Grund seiner intuitiver Erkenntnis vom Wesen Gottes und vom Verhältnis des Menschen zu ihm an allen bestehenden staatlichen und kirchlichen Verhältnissen Kritik übt. Er macht sich als intuitiver Mensch nicht klar, daß ein Gottesbegriff, völlig auf religiöse Intuition aufgebaut, wie der seine, eben deshalb eine rein persönliche, individuelle Sache, weiter nichts als ein persönliches Erlebnis ist und ein solches auch nur bleiben kann, daß er nicht als Grundlage irgendeiner Gemeinschafts¬ form, sei sie staatlicher oder kirchlicher Art, dienen kann, daß sein Träger daher in Gegensatz zu jeder solchen Gemeinschaftsform treten muß. Quint sieht daher auch nicht, daß selbst die christliche Kirche als solche, das heißt als Gemeinschafts¬ form, auf diesen intuitio-persönlichen Gottesbegriff nicht aufgebaut sein kann, daß sie die Schaffung dieses intuitio-persönlichen Gottesbegriffes dem Indivi¬ duum überlassen muß. Er sieht nur, daß die Kirche nicht auf seinem intuitio erfaßten Begriff vom Wesen Christi und seiner Lehre aufgebaut ist, obgleich sie sich „christlich" nennt, und übt daher aus diesem Gesichtspunkt seine Kritik an ihr — keine Verstandeskritik, sondern eine Gefühlskritik. Ich zeichne hier den Entwicklungsgang Quirls nach dem Romane Haupt¬ manns. Die Analogieschlüsse auf Christus überläßt der Dichter dem Leser. Jedenfalls ist es klar, daß unter der Beleuchtung eines solchen Analogie¬ schlusses der Opfertod Christi weniger als eine „Erlösungstat" zum Wohle der sündigen Menschheit erscheinen würde, sondern als eine tragische Tat, als eine bewußte und tragisch-resignierte Hinopferung für den Wahn der Durchschnitts¬ menschheit. Die religiöse Intuition vom Wesen Christi und seiner Lehre führt also Quint zu einer rücksichtslosen Kritik gesellschaftlicher, staatlicher und kirchlicher Gemeinschaftsformen, sie wird zu einem kritischen Prinzip, das allerdings zunächst nur persönliche, individuale Kraft und Gewißheit besitzt und das auf die Allgemeinheit nur soweit einleuchtend wirken kann, als es der intuitiver Per¬ sönlichkeit gelingt, die Allgemeinheit auf der Bahn der Intuition fortzureißen. Diese fortreißende Kraft der intuitiver Erkenntnis und Persönlichkeit, die ihr ein gewisses Maß von Allgemeingültigkeit verleihen kann, ist der Grund für die gewaltige Wirkung der Persönlichkeit Christi, auf sie weist uns Hauptmann überall da hin, wo er den überwältigenden Eindruck der Persönlichkeit Quirls schildert, auf ihr beruht mindestens zum Teil die Möglichkeit des allgemein- gleichen Eindruckes eines Kunstwerkes, als eines Erzeugnisses künstlerischer Intuition. Wenn aber auch die Überzeugungskraft der intuitiver Kritik aus einer so persönlichen und individuellen Wurzel entspringt, so ist sie deshalb doch nicht weniger stark. Die religiöse — und man muß hier hinzufügen die künstlerische Intuition beweisen aber ihre Brauchbarkeit als kritisches Prinzip noch an einer zweiten Stelle. Der religiöse Schwärmer Emanuel Quint — und hinter ihm steht in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/385>, abgerufen am 27.09.2024.