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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Auf Lonrcid Ferdinand Meyers Spuren

gradlinig wiederaufgebaut wurde, finden wir nichts mehr, was an die dort sich
abspielenden Vorgänge der Meyerschen Dichtung erinnerte, aber in dem abwärts
von Thusis sich ausbreitenden fruchtbaren Rheintal, dem Domleschg, bieten sich
uns auf Schritt und Tritt solche Erinnerungen. Drüben, am Fuße jäher grauer
Felsen, liegt, von Bäumen halb versteckt, das malerische Dorf Scharons, wo
Jürg als Pfarrerssohn geboren ward; das bescheidene Kirchlein, dessen schlanker
Turm einen Glockenstuhl von altersgeschwärztem Holz und darüber ein spitzes
Schindeldach trägt, hat in seinem Schatten gewiß schon die Spiele des Knaben
gesehen. Und eine Wegstunde weiter abwärts stoßen wir auf Schloß Riedberg,
das Vaterhaus Lucretias, wo die Herzen der beiden Kinder sich unbewußt
zusammenschlossen und wo später Herr Pompejus Planta von der Hand des
durch unseligen politischen Haß aufgestachelter Jürg fiel. Leider war es uns
nicht vergönnt, den Hof, geschweige denn das Innere des stattlichen, noch heute
bewohnten Baues zu betreten, da ein riesiger Bernhardiner uns mit dumpf¬
grollenden Bellen in respektvoller Entfernung hielt. Lange aber betrachteten
wir, auf einer nahen blumigen Wiese gelagert, das hohe, auf steil abfallendem
Felsen errichtete Wohnhaus und mit besonderem Anteil den dahinter auf¬
ragenden massigen Turm; saß doch nach des Herrn Pompejus widerwillig
rühmendem Bericht einst der Knabe Jürg Jenatsch dort "rittlings auf dem
äußersten Ende eines weit aus der Dachluke ragenden und sich auf- und nieder¬
wiegenden Brettes", während Lucretias tückischer Vetter Rudolf Planta drinnen
auf dem sicheren Ende der improvisierten Schaukel hockte. Schloß Riedberg ist
wohlerhalten, während auf den Höhen rings umher von den Burgen der den
Planta nahestehenden edlen Familien der Travers, Salis und Juvalta nur
spärliche Trümmer ragen. Unversehrt auch wie zu Lucretias Zeiten grüßen
nach Riedberg hinüber die "Mäuerlein und anspruchslosen Gebäude" des Frauen¬
klosters Cazis, dessen älteste Ordensschwester, die schlau berechnende unendlich
neugierige Nonne Perpetua uns von Meyer mit so unvergleichlichen Humor
geschildert wird.5 "




Noch eine andere Schöpfung Meyers hat ihren Schauplatz in dieser Gegend,
"die Richterin". Durch das gewaltige Werk weht die Hochgebirgsluft Rhätiens,
bedeutsam wird immer wieder Name und Einfluß des bischöflichen Hofes von
Chur erwähnt und unverkennbar, in grandiosen Bildern, beschreibt der Dichter
die bei Thusis ausmündende, vom schäumenden Hinterrhein durchtobte Schlucht
der Via Maia:

"Über den rasenden Fluten drehten und krümmten sich ungeheure Ge¬
stalten, die der flammende Himmel auseinanderriß und die sich in der
Finsternis wieder umarmten. Da war nichts mehr von den lichten Gesetzen
der Erde. Das war eine Welt der Willkür, des Trotzes, der Auflehnung.
Gestreckte Arme schleuderten Felsstücke gen Himmel. Hier wuchs ein drohendes


Auf Lonrcid Ferdinand Meyers Spuren

gradlinig wiederaufgebaut wurde, finden wir nichts mehr, was an die dort sich
abspielenden Vorgänge der Meyerschen Dichtung erinnerte, aber in dem abwärts
von Thusis sich ausbreitenden fruchtbaren Rheintal, dem Domleschg, bieten sich
uns auf Schritt und Tritt solche Erinnerungen. Drüben, am Fuße jäher grauer
Felsen, liegt, von Bäumen halb versteckt, das malerische Dorf Scharons, wo
Jürg als Pfarrerssohn geboren ward; das bescheidene Kirchlein, dessen schlanker
Turm einen Glockenstuhl von altersgeschwärztem Holz und darüber ein spitzes
Schindeldach trägt, hat in seinem Schatten gewiß schon die Spiele des Knaben
gesehen. Und eine Wegstunde weiter abwärts stoßen wir auf Schloß Riedberg,
das Vaterhaus Lucretias, wo die Herzen der beiden Kinder sich unbewußt
zusammenschlossen und wo später Herr Pompejus Planta von der Hand des
durch unseligen politischen Haß aufgestachelter Jürg fiel. Leider war es uns
nicht vergönnt, den Hof, geschweige denn das Innere des stattlichen, noch heute
bewohnten Baues zu betreten, da ein riesiger Bernhardiner uns mit dumpf¬
grollenden Bellen in respektvoller Entfernung hielt. Lange aber betrachteten
wir, auf einer nahen blumigen Wiese gelagert, das hohe, auf steil abfallendem
Felsen errichtete Wohnhaus und mit besonderem Anteil den dahinter auf¬
ragenden massigen Turm; saß doch nach des Herrn Pompejus widerwillig
rühmendem Bericht einst der Knabe Jürg Jenatsch dort „rittlings auf dem
äußersten Ende eines weit aus der Dachluke ragenden und sich auf- und nieder¬
wiegenden Brettes", während Lucretias tückischer Vetter Rudolf Planta drinnen
auf dem sicheren Ende der improvisierten Schaukel hockte. Schloß Riedberg ist
wohlerhalten, während auf den Höhen rings umher von den Burgen der den
Planta nahestehenden edlen Familien der Travers, Salis und Juvalta nur
spärliche Trümmer ragen. Unversehrt auch wie zu Lucretias Zeiten grüßen
nach Riedberg hinüber die „Mäuerlein und anspruchslosen Gebäude" des Frauen¬
klosters Cazis, dessen älteste Ordensschwester, die schlau berechnende unendlich
neugierige Nonne Perpetua uns von Meyer mit so unvergleichlichen Humor
geschildert wird.5 »




Noch eine andere Schöpfung Meyers hat ihren Schauplatz in dieser Gegend,
„die Richterin". Durch das gewaltige Werk weht die Hochgebirgsluft Rhätiens,
bedeutsam wird immer wieder Name und Einfluß des bischöflichen Hofes von
Chur erwähnt und unverkennbar, in grandiosen Bildern, beschreibt der Dichter
die bei Thusis ausmündende, vom schäumenden Hinterrhein durchtobte Schlucht
der Via Maia:

„Über den rasenden Fluten drehten und krümmten sich ungeheure Ge¬
stalten, die der flammende Himmel auseinanderriß und die sich in der
Finsternis wieder umarmten. Da war nichts mehr von den lichten Gesetzen
der Erde. Das war eine Welt der Willkür, des Trotzes, der Auflehnung.
Gestreckte Arme schleuderten Felsstücke gen Himmel. Hier wuchs ein drohendes


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[0351] Auf Lonrcid Ferdinand Meyers Spuren gradlinig wiederaufgebaut wurde, finden wir nichts mehr, was an die dort sich abspielenden Vorgänge der Meyerschen Dichtung erinnerte, aber in dem abwärts von Thusis sich ausbreitenden fruchtbaren Rheintal, dem Domleschg, bieten sich uns auf Schritt und Tritt solche Erinnerungen. Drüben, am Fuße jäher grauer Felsen, liegt, von Bäumen halb versteckt, das malerische Dorf Scharons, wo Jürg als Pfarrerssohn geboren ward; das bescheidene Kirchlein, dessen schlanker Turm einen Glockenstuhl von altersgeschwärztem Holz und darüber ein spitzes Schindeldach trägt, hat in seinem Schatten gewiß schon die Spiele des Knaben gesehen. Und eine Wegstunde weiter abwärts stoßen wir auf Schloß Riedberg, das Vaterhaus Lucretias, wo die Herzen der beiden Kinder sich unbewußt zusammenschlossen und wo später Herr Pompejus Planta von der Hand des durch unseligen politischen Haß aufgestachelter Jürg fiel. Leider war es uns nicht vergönnt, den Hof, geschweige denn das Innere des stattlichen, noch heute bewohnten Baues zu betreten, da ein riesiger Bernhardiner uns mit dumpf¬ grollenden Bellen in respektvoller Entfernung hielt. Lange aber betrachteten wir, auf einer nahen blumigen Wiese gelagert, das hohe, auf steil abfallendem Felsen errichtete Wohnhaus und mit besonderem Anteil den dahinter auf¬ ragenden massigen Turm; saß doch nach des Herrn Pompejus widerwillig rühmendem Bericht einst der Knabe Jürg Jenatsch dort „rittlings auf dem äußersten Ende eines weit aus der Dachluke ragenden und sich auf- und nieder¬ wiegenden Brettes", während Lucretias tückischer Vetter Rudolf Planta drinnen auf dem sicheren Ende der improvisierten Schaukel hockte. Schloß Riedberg ist wohlerhalten, während auf den Höhen rings umher von den Burgen der den Planta nahestehenden edlen Familien der Travers, Salis und Juvalta nur spärliche Trümmer ragen. Unversehrt auch wie zu Lucretias Zeiten grüßen nach Riedberg hinüber die „Mäuerlein und anspruchslosen Gebäude" des Frauen¬ klosters Cazis, dessen älteste Ordensschwester, die schlau berechnende unendlich neugierige Nonne Perpetua uns von Meyer mit so unvergleichlichen Humor geschildert wird.5 » Noch eine andere Schöpfung Meyers hat ihren Schauplatz in dieser Gegend, „die Richterin". Durch das gewaltige Werk weht die Hochgebirgsluft Rhätiens, bedeutsam wird immer wieder Name und Einfluß des bischöflichen Hofes von Chur erwähnt und unverkennbar, in grandiosen Bildern, beschreibt der Dichter die bei Thusis ausmündende, vom schäumenden Hinterrhein durchtobte Schlucht der Via Maia: „Über den rasenden Fluten drehten und krümmten sich ungeheure Ge¬ stalten, die der flammende Himmel auseinanderriß und die sich in der Finsternis wieder umarmten. Da war nichts mehr von den lichten Gesetzen der Erde. Das war eine Welt der Willkür, des Trotzes, der Auflehnung. Gestreckte Arme schleuderten Felsstücke gen Himmel. Hier wuchs ein drohendes

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/351>, abgerufen am 04.01.2025.