Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Lin Später Derer van Doorn

Hieronymus van Doorn war wie in ein tiefes, abgründiges, hoffnungs¬
loses Dunkel versunken.

Er war ganz ausgeblasen. Von ferne nur schien es, als wenn er in tiefster
Hölle irgendwo begraben läge.

Die Wölbung der Finsternisse war aus schwerem Urgestein und preßte ihn.

Ein heißes Brennen wie der furchtbarste Durst trocknete seinen Gaumen.

Wer ihn gesehen hätte neben der blonden Hartje, die auch im Schlafe
lag, hätte auf einen in der Qual der Entbehrung lallender Mund und in ein
Gesicht des bleichen Entsetzens gesehen.

Der Schlaf war nicht der Tod, er war die Verdammnis.

Rings herrschte tiefe Nacht. Das kleine Gewölbe lag in tausend grauen
Schatten.

Durch die Fenster dämmerte die Graunacht.

Hartjes Atem ging gleichmäßig und hörbar.

Hieronymus' Atem schien nicht mehr zu leben.

Nur tiefste Stille drinnen und draußen. Die Stadt schlief dem Morgen zu.
Und Hieronymus fühlte nur von ferne, daß er irgendwo im Grabe läge
und nicht von den Wunden und Schwären erwachen könnte.

Und es kam ein Dröhnen.

Die Wölbung gab es kaum erst als Ton. Nur wie ein surren.

Und Hieronymus träumte, daß Männer bei ihm stünden über seinem
Grabe. Und daß einer mit der Hand auf ihn wiese und zum anderen laut
sagte: "O Herr, er stinket schon!"

Da schlug wieder ein gewaltiges Dröhnen und surren aus der Höhe in
Hieronymus' tiefste Finsternis.

Und Hieronymus träumte, daß die beiden Männer, die über sein Grab
sich beugten, Jesus Christus und Johannes selber wären.

Und er lag lange starr mit Schwären und Wunden im finsteren Grabe.

Aber das Dröhnen schwoll und quoll wie Wogen in der Finsternis. Es
gab ein Brander und hehres Erklingen. Es war, wie wenn Engelstimmen
heimlich sich mischten.

Und Hieronymus träumte, daß Jesus Christus' Gestalt sich tiefer über sein
Grab herabbeugte, die bleiche, sanfte Hand nach ihm reckend, mit der er seine
Rechte ergriff, und daß Jesus mit freundlichem Augenglanze sagte: "Lazare,
komm heraus!"

Da war ein Gewimmel von Tongewalten, die nun um Hieronymus
geschlossene Augen sich zu ergießen begonnen. Die anschwollen und ebbten und
brandeten. Und die Nachtluft erzittern machten. Und Hieronymus' Blut gleich
mit Eiskälte trafen und vollends erweckten.

Die Domglocken dröhnten ihren Frühgesang.

Hieronymus sprang aus dem Bette.

Er sah sich nicht um.


Lin Später Derer van Doorn

Hieronymus van Doorn war wie in ein tiefes, abgründiges, hoffnungs¬
loses Dunkel versunken.

Er war ganz ausgeblasen. Von ferne nur schien es, als wenn er in tiefster
Hölle irgendwo begraben läge.

Die Wölbung der Finsternisse war aus schwerem Urgestein und preßte ihn.

Ein heißes Brennen wie der furchtbarste Durst trocknete seinen Gaumen.

Wer ihn gesehen hätte neben der blonden Hartje, die auch im Schlafe
lag, hätte auf einen in der Qual der Entbehrung lallender Mund und in ein
Gesicht des bleichen Entsetzens gesehen.

Der Schlaf war nicht der Tod, er war die Verdammnis.

Rings herrschte tiefe Nacht. Das kleine Gewölbe lag in tausend grauen
Schatten.

Durch die Fenster dämmerte die Graunacht.

Hartjes Atem ging gleichmäßig und hörbar.

Hieronymus' Atem schien nicht mehr zu leben.

Nur tiefste Stille drinnen und draußen. Die Stadt schlief dem Morgen zu.
Und Hieronymus fühlte nur von ferne, daß er irgendwo im Grabe läge
und nicht von den Wunden und Schwären erwachen könnte.

Und es kam ein Dröhnen.

Die Wölbung gab es kaum erst als Ton. Nur wie ein surren.

Und Hieronymus träumte, daß Männer bei ihm stünden über seinem
Grabe. Und daß einer mit der Hand auf ihn wiese und zum anderen laut
sagte: „O Herr, er stinket schon!"

Da schlug wieder ein gewaltiges Dröhnen und surren aus der Höhe in
Hieronymus' tiefste Finsternis.

Und Hieronymus träumte, daß die beiden Männer, die über sein Grab
sich beugten, Jesus Christus und Johannes selber wären.

Und er lag lange starr mit Schwären und Wunden im finsteren Grabe.

Aber das Dröhnen schwoll und quoll wie Wogen in der Finsternis. Es
gab ein Brander und hehres Erklingen. Es war, wie wenn Engelstimmen
heimlich sich mischten.

Und Hieronymus träumte, daß Jesus Christus' Gestalt sich tiefer über sein
Grab herabbeugte, die bleiche, sanfte Hand nach ihm reckend, mit der er seine
Rechte ergriff, und daß Jesus mit freundlichem Augenglanze sagte: „Lazare,
komm heraus!"

Da war ein Gewimmel von Tongewalten, die nun um Hieronymus
geschlossene Augen sich zu ergießen begonnen. Die anschwollen und ebbten und
brandeten. Und die Nachtluft erzittern machten. Und Hieronymus' Blut gleich
mit Eiskälte trafen und vollends erweckten.

Die Domglocken dröhnten ihren Frühgesang.

Hieronymus sprang aus dem Bette.

Er sah sich nicht um.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0344" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/320761"/>
            <fw type="header" place="top"> Lin Später Derer van Doorn</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_1431"> Hieronymus van Doorn war wie in ein tiefes, abgründiges, hoffnungs¬<lb/>
loses Dunkel versunken.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1432"> Er war ganz ausgeblasen. Von ferne nur schien es, als wenn er in tiefster<lb/>
Hölle irgendwo begraben läge.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1433"> Die Wölbung der Finsternisse war aus schwerem Urgestein und preßte ihn.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1434"> Ein heißes Brennen wie der furchtbarste Durst trocknete seinen Gaumen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1435"> Wer ihn gesehen hätte neben der blonden Hartje, die auch im Schlafe<lb/>
lag, hätte auf einen in der Qual der Entbehrung lallender Mund und in ein<lb/>
Gesicht des bleichen Entsetzens gesehen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1436"> Der Schlaf war nicht der Tod, er war die Verdammnis.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1437"> Rings herrschte tiefe Nacht. Das kleine Gewölbe lag in tausend grauen<lb/>
Schatten.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1438"> Durch die Fenster dämmerte die Graunacht.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1439"> Hartjes Atem ging gleichmäßig und hörbar.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1440"> Hieronymus' Atem schien nicht mehr zu leben.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1441"> Nur tiefste Stille drinnen und draußen.  Die Stadt schlief dem Morgen zu.<lb/>
Und Hieronymus fühlte nur von ferne, daß er irgendwo im Grabe läge<lb/>
und nicht von den Wunden und Schwären erwachen könnte.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1442"> Und es kam ein Dröhnen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1443"> Die Wölbung gab es kaum erst als Ton.  Nur wie ein surren.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1444"> Und Hieronymus träumte, daß Männer bei ihm stünden über seinem<lb/>
Grabe. Und daß einer mit der Hand auf ihn wiese und zum anderen laut<lb/>
sagte: &#x201E;O Herr, er stinket schon!"</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1445"> Da schlug wieder ein gewaltiges Dröhnen und surren aus der Höhe in<lb/>
Hieronymus' tiefste Finsternis.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1446"> Und Hieronymus träumte, daß die beiden Männer, die über sein Grab<lb/>
sich beugten, Jesus Christus und Johannes selber wären.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1447"> Und er lag lange starr mit Schwären und Wunden im finsteren Grabe.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1448"> Aber das Dröhnen schwoll und quoll wie Wogen in der Finsternis. Es<lb/>
gab ein Brander und hehres Erklingen. Es war, wie wenn Engelstimmen<lb/>
heimlich sich mischten.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1449"> Und Hieronymus träumte, daß Jesus Christus' Gestalt sich tiefer über sein<lb/>
Grab herabbeugte, die bleiche, sanfte Hand nach ihm reckend, mit der er seine<lb/>
Rechte ergriff, und daß Jesus mit freundlichem Augenglanze sagte: &#x201E;Lazare,<lb/>
komm heraus!"</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1450"> Da war ein Gewimmel von Tongewalten, die nun um Hieronymus<lb/>
geschlossene Augen sich zu ergießen begonnen. Die anschwollen und ebbten und<lb/>
brandeten. Und die Nachtluft erzittern machten. Und Hieronymus' Blut gleich<lb/>
mit Eiskälte trafen und vollends erweckten.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1451"> Die Domglocken dröhnten ihren Frühgesang.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1452"> Hieronymus sprang aus dem Bette.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1453"> Er sah sich nicht um.</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0344] Lin Später Derer van Doorn Hieronymus van Doorn war wie in ein tiefes, abgründiges, hoffnungs¬ loses Dunkel versunken. Er war ganz ausgeblasen. Von ferne nur schien es, als wenn er in tiefster Hölle irgendwo begraben läge. Die Wölbung der Finsternisse war aus schwerem Urgestein und preßte ihn. Ein heißes Brennen wie der furchtbarste Durst trocknete seinen Gaumen. Wer ihn gesehen hätte neben der blonden Hartje, die auch im Schlafe lag, hätte auf einen in der Qual der Entbehrung lallender Mund und in ein Gesicht des bleichen Entsetzens gesehen. Der Schlaf war nicht der Tod, er war die Verdammnis. Rings herrschte tiefe Nacht. Das kleine Gewölbe lag in tausend grauen Schatten. Durch die Fenster dämmerte die Graunacht. Hartjes Atem ging gleichmäßig und hörbar. Hieronymus' Atem schien nicht mehr zu leben. Nur tiefste Stille drinnen und draußen. Die Stadt schlief dem Morgen zu. Und Hieronymus fühlte nur von ferne, daß er irgendwo im Grabe läge und nicht von den Wunden und Schwären erwachen könnte. Und es kam ein Dröhnen. Die Wölbung gab es kaum erst als Ton. Nur wie ein surren. Und Hieronymus träumte, daß Männer bei ihm stünden über seinem Grabe. Und daß einer mit der Hand auf ihn wiese und zum anderen laut sagte: „O Herr, er stinket schon!" Da schlug wieder ein gewaltiges Dröhnen und surren aus der Höhe in Hieronymus' tiefste Finsternis. Und Hieronymus träumte, daß die beiden Männer, die über sein Grab sich beugten, Jesus Christus und Johannes selber wären. Und er lag lange starr mit Schwären und Wunden im finsteren Grabe. Aber das Dröhnen schwoll und quoll wie Wogen in der Finsternis. Es gab ein Brander und hehres Erklingen. Es war, wie wenn Engelstimmen heimlich sich mischten. Und Hieronymus träumte, daß Jesus Christus' Gestalt sich tiefer über sein Grab herabbeugte, die bleiche, sanfte Hand nach ihm reckend, mit der er seine Rechte ergriff, und daß Jesus mit freundlichem Augenglanze sagte: „Lazare, komm heraus!" Da war ein Gewimmel von Tongewalten, die nun um Hieronymus geschlossene Augen sich zu ergießen begonnen. Die anschwollen und ebbten und brandeten. Und die Nachtluft erzittern machten. Und Hieronymus' Blut gleich mit Eiskälte trafen und vollends erweckten. Die Domglocken dröhnten ihren Frühgesang. Hieronymus sprang aus dem Bette. Er sah sich nicht um.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/344
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/344>, abgerufen am 27.09.2024.