Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
vom "Geschmack" der Völker

daß die künstlerische Kultur in Frankreich noch nicht ganz von moderner Geschmack¬
losigkeit und vom Geschmack der Masse erstickt ist, daß selbst in die hohle
Theatralik und die süßliche Sentimentalität dieser Volksstücke hinübergerettet
worden ist der Sinn für das eigenartig urwüchsige Volkstum jener ländlichen
Distrikte, ein Volkstum, das in Architektur, Tracht und Wirtschaftsbetrieb seinen
Ausdruck findet. Mit voller Absicht werden die hier liegenden Reize von der
Filmindustrie ausgenutzt.

Gutes und Schlechtes zusammen hat die französische Industrie auch bei der
Bearbeitung des Komischen und Humoristischen für den Kinematographen geleistet.
Dem kinematographischen Filu sind ja von vornherein nur die niedrigsten Arten
der Komik ohne größere Mühe zugänglich, die Situationskomik und die Komik
der komischen Figur. Von der ständigen komischen Figur bis zur Charakter¬
komik ist allerdings für den Kinematographen in gewissem Sinne nur ein Schritt;
wir werden sehen, in welcher Weise dieser Schritt ausgeführt wird.

Die französische Industrie begann mit humoristischen Films, die im großen
und ganzen nur die Situationskomik ausnützten. Irgendein Ungeschickter richtet
auf der Straße irgendein Malheur an und reißt aus, die Betroffenen folgen
ihm, die Hetzjagd richtet immer mehr drastisches Unheil an, Weiber und Männer,
Kinder und Hunde schließen sich ihr an, es geht über Zäune und Hecken, durch
Gräben und Wasser, womöglich über Dächer und steile Abhänge, es setzt Stürze
und drollige Szenen genng, denn die Mitwirkenden tun ihr Möglichstes. Das
ist der einfachste und selbst heute noch häufigste humoristische Filu, sein Humor
ist wahrlich bescheiden genug. Ju Nachahmung der Franzosen pflegt ihn
namentlich noch die italienische Filmindustrie, die von den Franzosen auch die
komische Figur übernommen hat. Hier auf der leuchtenden Leinwand des
Lichtbildtheaters erlebt der Hanswurst, erlebt Polichinell eine Auferstehung in
einer Gestalt, die allerdings modern genug ist. Er ist ein Geck, die Karikatur
eines Elegants geworden und erlebt als schmachtender Seladon unmögliche
Liebesabenteuer, wird mit Wasser begossen und erhält vor allem viel Prügel:
er ist der ausgemachte Pechvogel, der sein Pech durch übertriebene Grandezza
und durch Unverwüstlichkeit komisch gestaltet. Die italienische Industrie ist über
diese niedrige Komik nicht hinausgekommen, und auch in der französischen
Industrie finden sich nur Ansätze dazu.

Nur selten geht man von dem allgemeinen Hanswursttyp dazu über,
gewisse Stäude zu karikieren und komisch zu gestalten, und man tut dabei schließlich
nichts anderes, als daß man dem Hanswurst das Kostüm des betreffenden
Standes anzieht: er wird eben Schutzmann oder Soldat oder Privatdetektiv,
und erledigt seine Aufgaben mit unglaublich frecher Dummheit und noch viel
mehr Dusel.

Einen tieferen, etwa satirischen Gehalt habe ich so gut wie nie in kinemato¬
graphischen Films gesehen. Dabei wäre der Kinematograph nach meiner Ansicht
sehr wohl imstande, sowohl die Satire als auch Charakterkomik zu starkem


vom „Geschmack" der Völker

daß die künstlerische Kultur in Frankreich noch nicht ganz von moderner Geschmack¬
losigkeit und vom Geschmack der Masse erstickt ist, daß selbst in die hohle
Theatralik und die süßliche Sentimentalität dieser Volksstücke hinübergerettet
worden ist der Sinn für das eigenartig urwüchsige Volkstum jener ländlichen
Distrikte, ein Volkstum, das in Architektur, Tracht und Wirtschaftsbetrieb seinen
Ausdruck findet. Mit voller Absicht werden die hier liegenden Reize von der
Filmindustrie ausgenutzt.

Gutes und Schlechtes zusammen hat die französische Industrie auch bei der
Bearbeitung des Komischen und Humoristischen für den Kinematographen geleistet.
Dem kinematographischen Filu sind ja von vornherein nur die niedrigsten Arten
der Komik ohne größere Mühe zugänglich, die Situationskomik und die Komik
der komischen Figur. Von der ständigen komischen Figur bis zur Charakter¬
komik ist allerdings für den Kinematographen in gewissem Sinne nur ein Schritt;
wir werden sehen, in welcher Weise dieser Schritt ausgeführt wird.

Die französische Industrie begann mit humoristischen Films, die im großen
und ganzen nur die Situationskomik ausnützten. Irgendein Ungeschickter richtet
auf der Straße irgendein Malheur an und reißt aus, die Betroffenen folgen
ihm, die Hetzjagd richtet immer mehr drastisches Unheil an, Weiber und Männer,
Kinder und Hunde schließen sich ihr an, es geht über Zäune und Hecken, durch
Gräben und Wasser, womöglich über Dächer und steile Abhänge, es setzt Stürze
und drollige Szenen genng, denn die Mitwirkenden tun ihr Möglichstes. Das
ist der einfachste und selbst heute noch häufigste humoristische Filu, sein Humor
ist wahrlich bescheiden genug. Ju Nachahmung der Franzosen pflegt ihn
namentlich noch die italienische Filmindustrie, die von den Franzosen auch die
komische Figur übernommen hat. Hier auf der leuchtenden Leinwand des
Lichtbildtheaters erlebt der Hanswurst, erlebt Polichinell eine Auferstehung in
einer Gestalt, die allerdings modern genug ist. Er ist ein Geck, die Karikatur
eines Elegants geworden und erlebt als schmachtender Seladon unmögliche
Liebesabenteuer, wird mit Wasser begossen und erhält vor allem viel Prügel:
er ist der ausgemachte Pechvogel, der sein Pech durch übertriebene Grandezza
und durch Unverwüstlichkeit komisch gestaltet. Die italienische Industrie ist über
diese niedrige Komik nicht hinausgekommen, und auch in der französischen
Industrie finden sich nur Ansätze dazu.

Nur selten geht man von dem allgemeinen Hanswursttyp dazu über,
gewisse Stäude zu karikieren und komisch zu gestalten, und man tut dabei schließlich
nichts anderes, als daß man dem Hanswurst das Kostüm des betreffenden
Standes anzieht: er wird eben Schutzmann oder Soldat oder Privatdetektiv,
und erledigt seine Aufgaben mit unglaublich frecher Dummheit und noch viel
mehr Dusel.

Einen tieferen, etwa satirischen Gehalt habe ich so gut wie nie in kinemato¬
graphischen Films gesehen. Dabei wäre der Kinematograph nach meiner Ansicht
sehr wohl imstande, sowohl die Satire als auch Charakterkomik zu starkem


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0296" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/320713"/>
          <fw type="header" place="top"> vom &#x201E;Geschmack" der Völker</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1215" prev="#ID_1214"> daß die künstlerische Kultur in Frankreich noch nicht ganz von moderner Geschmack¬<lb/>
losigkeit und vom Geschmack der Masse erstickt ist, daß selbst in die hohle<lb/>
Theatralik und die süßliche Sentimentalität dieser Volksstücke hinübergerettet<lb/>
worden ist der Sinn für das eigenartig urwüchsige Volkstum jener ländlichen<lb/>
Distrikte, ein Volkstum, das in Architektur, Tracht und Wirtschaftsbetrieb seinen<lb/>
Ausdruck findet. Mit voller Absicht werden die hier liegenden Reize von der<lb/>
Filmindustrie ausgenutzt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1216"> Gutes und Schlechtes zusammen hat die französische Industrie auch bei der<lb/>
Bearbeitung des Komischen und Humoristischen für den Kinematographen geleistet.<lb/>
Dem kinematographischen Filu sind ja von vornherein nur die niedrigsten Arten<lb/>
der Komik ohne größere Mühe zugänglich, die Situationskomik und die Komik<lb/>
der komischen Figur. Von der ständigen komischen Figur bis zur Charakter¬<lb/>
komik ist allerdings für den Kinematographen in gewissem Sinne nur ein Schritt;<lb/>
wir werden sehen, in welcher Weise dieser Schritt ausgeführt wird.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1217"> Die französische Industrie begann mit humoristischen Films, die im großen<lb/>
und ganzen nur die Situationskomik ausnützten. Irgendein Ungeschickter richtet<lb/>
auf der Straße irgendein Malheur an und reißt aus, die Betroffenen folgen<lb/>
ihm, die Hetzjagd richtet immer mehr drastisches Unheil an, Weiber und Männer,<lb/>
Kinder und Hunde schließen sich ihr an, es geht über Zäune und Hecken, durch<lb/>
Gräben und Wasser, womöglich über Dächer und steile Abhänge, es setzt Stürze<lb/>
und drollige Szenen genng, denn die Mitwirkenden tun ihr Möglichstes. Das<lb/>
ist der einfachste und selbst heute noch häufigste humoristische Filu, sein Humor<lb/>
ist wahrlich bescheiden genug. Ju Nachahmung der Franzosen pflegt ihn<lb/>
namentlich noch die italienische Filmindustrie, die von den Franzosen auch die<lb/>
komische Figur übernommen hat. Hier auf der leuchtenden Leinwand des<lb/>
Lichtbildtheaters erlebt der Hanswurst, erlebt Polichinell eine Auferstehung in<lb/>
einer Gestalt, die allerdings modern genug ist. Er ist ein Geck, die Karikatur<lb/>
eines Elegants geworden und erlebt als schmachtender Seladon unmögliche<lb/>
Liebesabenteuer, wird mit Wasser begossen und erhält vor allem viel Prügel:<lb/>
er ist der ausgemachte Pechvogel, der sein Pech durch übertriebene Grandezza<lb/>
und durch Unverwüstlichkeit komisch gestaltet. Die italienische Industrie ist über<lb/>
diese niedrige Komik nicht hinausgekommen, und auch in der französischen<lb/>
Industrie finden sich nur Ansätze dazu.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1218"> Nur selten geht man von dem allgemeinen Hanswursttyp dazu über,<lb/>
gewisse Stäude zu karikieren und komisch zu gestalten, und man tut dabei schließlich<lb/>
nichts anderes, als daß man dem Hanswurst das Kostüm des betreffenden<lb/>
Standes anzieht: er wird eben Schutzmann oder Soldat oder Privatdetektiv,<lb/>
und erledigt seine Aufgaben mit unglaublich frecher Dummheit und noch viel<lb/>
mehr Dusel.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1219" next="#ID_1220"> Einen tieferen, etwa satirischen Gehalt habe ich so gut wie nie in kinemato¬<lb/>
graphischen Films gesehen. Dabei wäre der Kinematograph nach meiner Ansicht<lb/>
sehr wohl imstande, sowohl die Satire als auch Charakterkomik zu starkem</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0296] vom „Geschmack" der Völker daß die künstlerische Kultur in Frankreich noch nicht ganz von moderner Geschmack¬ losigkeit und vom Geschmack der Masse erstickt ist, daß selbst in die hohle Theatralik und die süßliche Sentimentalität dieser Volksstücke hinübergerettet worden ist der Sinn für das eigenartig urwüchsige Volkstum jener ländlichen Distrikte, ein Volkstum, das in Architektur, Tracht und Wirtschaftsbetrieb seinen Ausdruck findet. Mit voller Absicht werden die hier liegenden Reize von der Filmindustrie ausgenutzt. Gutes und Schlechtes zusammen hat die französische Industrie auch bei der Bearbeitung des Komischen und Humoristischen für den Kinematographen geleistet. Dem kinematographischen Filu sind ja von vornherein nur die niedrigsten Arten der Komik ohne größere Mühe zugänglich, die Situationskomik und die Komik der komischen Figur. Von der ständigen komischen Figur bis zur Charakter¬ komik ist allerdings für den Kinematographen in gewissem Sinne nur ein Schritt; wir werden sehen, in welcher Weise dieser Schritt ausgeführt wird. Die französische Industrie begann mit humoristischen Films, die im großen und ganzen nur die Situationskomik ausnützten. Irgendein Ungeschickter richtet auf der Straße irgendein Malheur an und reißt aus, die Betroffenen folgen ihm, die Hetzjagd richtet immer mehr drastisches Unheil an, Weiber und Männer, Kinder und Hunde schließen sich ihr an, es geht über Zäune und Hecken, durch Gräben und Wasser, womöglich über Dächer und steile Abhänge, es setzt Stürze und drollige Szenen genng, denn die Mitwirkenden tun ihr Möglichstes. Das ist der einfachste und selbst heute noch häufigste humoristische Filu, sein Humor ist wahrlich bescheiden genug. Ju Nachahmung der Franzosen pflegt ihn namentlich noch die italienische Filmindustrie, die von den Franzosen auch die komische Figur übernommen hat. Hier auf der leuchtenden Leinwand des Lichtbildtheaters erlebt der Hanswurst, erlebt Polichinell eine Auferstehung in einer Gestalt, die allerdings modern genug ist. Er ist ein Geck, die Karikatur eines Elegants geworden und erlebt als schmachtender Seladon unmögliche Liebesabenteuer, wird mit Wasser begossen und erhält vor allem viel Prügel: er ist der ausgemachte Pechvogel, der sein Pech durch übertriebene Grandezza und durch Unverwüstlichkeit komisch gestaltet. Die italienische Industrie ist über diese niedrige Komik nicht hinausgekommen, und auch in der französischen Industrie finden sich nur Ansätze dazu. Nur selten geht man von dem allgemeinen Hanswursttyp dazu über, gewisse Stäude zu karikieren und komisch zu gestalten, und man tut dabei schließlich nichts anderes, als daß man dem Hanswurst das Kostüm des betreffenden Standes anzieht: er wird eben Schutzmann oder Soldat oder Privatdetektiv, und erledigt seine Aufgaben mit unglaublich frecher Dummheit und noch viel mehr Dusel. Einen tieferen, etwa satirischen Gehalt habe ich so gut wie nie in kinemato¬ graphischen Films gesehen. Dabei wäre der Kinematograph nach meiner Ansicht sehr wohl imstande, sowohl die Satire als auch Charakterkomik zu starkem

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/296
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/296>, abgerufen am 28.09.2024.