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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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vom "Geschmack" der Völker

Ausdruck zu bringen. Daß er es nicht tut. liegt wieder daran, daß er nur
dem Geschmack der Masse Rechnung trägt, und der genügen die komische Figur
und die Situationskomik, weil sie am handgreiflichsten komisch sind.

Die eigentümliche Art der trockenen Schalkhaftigkeit, deren die angelsächsische
Rasse fähig ist, spricht sich mitunter in angenehmer und herzerfrischender Weise
in den amerikanischen Films aus, zu denen wir uns nun wenden wollen. Auch
in ihnen aber findet sich noch mancherlei, was sür den Geschmack eben jener
Rasse eigentümlich zu sein scheint. Ich habe noch wenige amerikanische Films
gesehen, in denen nicht irgendeine Parforceleistung vorgekommen wäre: der
rasende Ritt eines Verfolgten oder noch besser einer Verfolgten (alle Achtung
vor der reitenden Schauspielerin!), die Verfolger, Indianer oder Cowboys oder
sonst wer, hinterdrein; oder eine Automobilwettfahrt, möglichst mit einem Unglück
am Schluß. Charakteristisch für den amerikanischen Geschmack ist ferner die
Vorliebe für den grenzenlosen Edelmut, der sich meistens im Verzicht auf das
eigene Glück zugunsten anderer äußert. Einem Arzt wird die Verlobte vom
Freunde abspenstig gemacht. Er bekommt dann eben den Freund schwerverletzt
in seine Klinik und rettet ihm nach schwerem Seelenkämpfe das Leben. Jetzt
spinnt der Freund aus Dankbarkeit eine Intrige, um dem Arzte seine Braut
wieder zuzuführen und seinerseits zu verzichten. Der Arzt entdeckt aber alles
und vereinigt edelmütig die Liebenden. Beispiele für die patriotische Aufopferung
im Dienste des Vaterlandes liefern die Kämpfe zwischen den Nord- und Süd¬
staaten, die anscheinend im Volke noch sehr lebendig sind. Gelegentlich platzen
da auch die Gegensätze zwischen der schwarzen und weißen Rasse auseinander.
Man kann das amerikanische "Drama" in der Hauptsache also als eine national-
eigenartige Abart des "sentimentalen" Dramas ansprechen. Aus den französischen
Anregungen haben die Amerikaner sich das zum weiteren Ausbau angeeignet,
was zu ihrem Charakter, was zu ihrem Volksgeschmack am besten paßte.

Wie es kommt, daß von diesen ftanzöfischen Anregungen ein anderes ger¬
manisches Volk, die Dänen, gerade das Sittendrama übernahmen und aufbauten,
das ist mir nicht recht klar. Allerdings, die dänische Filmindustrie ist die
jüngste. Um sich in dem schweren Konkurrenzkampfe namentlich gegen Paris
behaupten zu können, mußte sie nach besonders packenden Stoffen suchen und
mit besonders raffinierter Mitteln arbeiten: ihre Films mußten den Bestimmungen
der Zensur entsprechen und doch den Instinkten des großen Publikums möglichst
starke Reizmittel bieten. Vielleicht hat die dänische Industrie aus diesem Grunde
das Sitten- und das soziale Drama aufgegriffen und nun in der Tat für ihre
Zwecke höchst geschickt ausgebaut.

Die ersten Filmserien, durch die sie sich bekannt machte, gaben sich aller-
dings den Anschein, sozialaufllärend zu wirken; sie behandelten das Schicksal
und die Befreiung eines jungen Mädchens, das Mädchenhändlcrn in die Hände
gefallen war. Das Aushängeschild war also gewissermaßen eine Warnungs-
tafel. Aber unter dieser Warnungstafel stand ein sensationeller Titel, über ihm


Grenzvoten I 1912 87
vom „Geschmack" der Völker

Ausdruck zu bringen. Daß er es nicht tut. liegt wieder daran, daß er nur
dem Geschmack der Masse Rechnung trägt, und der genügen die komische Figur
und die Situationskomik, weil sie am handgreiflichsten komisch sind.

Die eigentümliche Art der trockenen Schalkhaftigkeit, deren die angelsächsische
Rasse fähig ist, spricht sich mitunter in angenehmer und herzerfrischender Weise
in den amerikanischen Films aus, zu denen wir uns nun wenden wollen. Auch
in ihnen aber findet sich noch mancherlei, was sür den Geschmack eben jener
Rasse eigentümlich zu sein scheint. Ich habe noch wenige amerikanische Films
gesehen, in denen nicht irgendeine Parforceleistung vorgekommen wäre: der
rasende Ritt eines Verfolgten oder noch besser einer Verfolgten (alle Achtung
vor der reitenden Schauspielerin!), die Verfolger, Indianer oder Cowboys oder
sonst wer, hinterdrein; oder eine Automobilwettfahrt, möglichst mit einem Unglück
am Schluß. Charakteristisch für den amerikanischen Geschmack ist ferner die
Vorliebe für den grenzenlosen Edelmut, der sich meistens im Verzicht auf das
eigene Glück zugunsten anderer äußert. Einem Arzt wird die Verlobte vom
Freunde abspenstig gemacht. Er bekommt dann eben den Freund schwerverletzt
in seine Klinik und rettet ihm nach schwerem Seelenkämpfe das Leben. Jetzt
spinnt der Freund aus Dankbarkeit eine Intrige, um dem Arzte seine Braut
wieder zuzuführen und seinerseits zu verzichten. Der Arzt entdeckt aber alles
und vereinigt edelmütig die Liebenden. Beispiele für die patriotische Aufopferung
im Dienste des Vaterlandes liefern die Kämpfe zwischen den Nord- und Süd¬
staaten, die anscheinend im Volke noch sehr lebendig sind. Gelegentlich platzen
da auch die Gegensätze zwischen der schwarzen und weißen Rasse auseinander.
Man kann das amerikanische „Drama" in der Hauptsache also als eine national-
eigenartige Abart des „sentimentalen" Dramas ansprechen. Aus den französischen
Anregungen haben die Amerikaner sich das zum weiteren Ausbau angeeignet,
was zu ihrem Charakter, was zu ihrem Volksgeschmack am besten paßte.

Wie es kommt, daß von diesen ftanzöfischen Anregungen ein anderes ger¬
manisches Volk, die Dänen, gerade das Sittendrama übernahmen und aufbauten,
das ist mir nicht recht klar. Allerdings, die dänische Filmindustrie ist die
jüngste. Um sich in dem schweren Konkurrenzkampfe namentlich gegen Paris
behaupten zu können, mußte sie nach besonders packenden Stoffen suchen und
mit besonders raffinierter Mitteln arbeiten: ihre Films mußten den Bestimmungen
der Zensur entsprechen und doch den Instinkten des großen Publikums möglichst
starke Reizmittel bieten. Vielleicht hat die dänische Industrie aus diesem Grunde
das Sitten- und das soziale Drama aufgegriffen und nun in der Tat für ihre
Zwecke höchst geschickt ausgebaut.

Die ersten Filmserien, durch die sie sich bekannt machte, gaben sich aller-
dings den Anschein, sozialaufllärend zu wirken; sie behandelten das Schicksal
und die Befreiung eines jungen Mädchens, das Mädchenhändlcrn in die Hände
gefallen war. Das Aushängeschild war also gewissermaßen eine Warnungs-
tafel. Aber unter dieser Warnungstafel stand ein sensationeller Titel, über ihm


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[0297] vom „Geschmack" der Völker Ausdruck zu bringen. Daß er es nicht tut. liegt wieder daran, daß er nur dem Geschmack der Masse Rechnung trägt, und der genügen die komische Figur und die Situationskomik, weil sie am handgreiflichsten komisch sind. Die eigentümliche Art der trockenen Schalkhaftigkeit, deren die angelsächsische Rasse fähig ist, spricht sich mitunter in angenehmer und herzerfrischender Weise in den amerikanischen Films aus, zu denen wir uns nun wenden wollen. Auch in ihnen aber findet sich noch mancherlei, was sür den Geschmack eben jener Rasse eigentümlich zu sein scheint. Ich habe noch wenige amerikanische Films gesehen, in denen nicht irgendeine Parforceleistung vorgekommen wäre: der rasende Ritt eines Verfolgten oder noch besser einer Verfolgten (alle Achtung vor der reitenden Schauspielerin!), die Verfolger, Indianer oder Cowboys oder sonst wer, hinterdrein; oder eine Automobilwettfahrt, möglichst mit einem Unglück am Schluß. Charakteristisch für den amerikanischen Geschmack ist ferner die Vorliebe für den grenzenlosen Edelmut, der sich meistens im Verzicht auf das eigene Glück zugunsten anderer äußert. Einem Arzt wird die Verlobte vom Freunde abspenstig gemacht. Er bekommt dann eben den Freund schwerverletzt in seine Klinik und rettet ihm nach schwerem Seelenkämpfe das Leben. Jetzt spinnt der Freund aus Dankbarkeit eine Intrige, um dem Arzte seine Braut wieder zuzuführen und seinerseits zu verzichten. Der Arzt entdeckt aber alles und vereinigt edelmütig die Liebenden. Beispiele für die patriotische Aufopferung im Dienste des Vaterlandes liefern die Kämpfe zwischen den Nord- und Süd¬ staaten, die anscheinend im Volke noch sehr lebendig sind. Gelegentlich platzen da auch die Gegensätze zwischen der schwarzen und weißen Rasse auseinander. Man kann das amerikanische „Drama" in der Hauptsache also als eine national- eigenartige Abart des „sentimentalen" Dramas ansprechen. Aus den französischen Anregungen haben die Amerikaner sich das zum weiteren Ausbau angeeignet, was zu ihrem Charakter, was zu ihrem Volksgeschmack am besten paßte. Wie es kommt, daß von diesen ftanzöfischen Anregungen ein anderes ger¬ manisches Volk, die Dänen, gerade das Sittendrama übernahmen und aufbauten, das ist mir nicht recht klar. Allerdings, die dänische Filmindustrie ist die jüngste. Um sich in dem schweren Konkurrenzkampfe namentlich gegen Paris behaupten zu können, mußte sie nach besonders packenden Stoffen suchen und mit besonders raffinierter Mitteln arbeiten: ihre Films mußten den Bestimmungen der Zensur entsprechen und doch den Instinkten des großen Publikums möglichst starke Reizmittel bieten. Vielleicht hat die dänische Industrie aus diesem Grunde das Sitten- und das soziale Drama aufgegriffen und nun in der Tat für ihre Zwecke höchst geschickt ausgebaut. Die ersten Filmserien, durch die sie sich bekannt machte, gaben sich aller- dings den Anschein, sozialaufllärend zu wirken; sie behandelten das Schicksal und die Befreiung eines jungen Mädchens, das Mädchenhändlcrn in die Hände gefallen war. Das Aushängeschild war also gewissermaßen eine Warnungs- tafel. Aber unter dieser Warnungstafel stand ein sensationeller Titel, über ihm Grenzvoten I 1912 87

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/297>, abgerufen am 26.06.2024.