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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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vom "Geschmack" der Völker

Damit, daß die französische Filmindustrie die älteste, am meisten entwickelte
und auch finanziell am reichsten ausgestattete ist, hängt es zusammen, daß sie
das kostspielige heroisch-historische Kostümdrama vorzugsweise pflegen kann. Man
muß es bewundern, was sür ein Aufwand an reichen Kostümen und an Personal
für die Herstellung solcher Films ins Werk gesetzt wird. Dabei kann ohne
weiteres zugegeben werden, daß geschickt angeordnete Massenauftritte, Feste und
Umzüge, vor allem aber die öfter benutzte natürliche Szenerie, prachtvolle Schlösser
mit breiten Freitreppen und üppigen Gärten, mit weiten Sälen und düsteren
Bogengängen, gar oft dem Auge des Beschauers eine reine ästhetische Freude
erwecken. Die Renaissance in Italien ist ein beliebtes Stoffgebiet für diese
"historischen Dramen", und man erhält von ihrer Sinnenfreude häufig einen
recht guten Begriff. Dazu kommt, daß die Komposition der Bilder häufig sehr
geschickt, um nicht zu sagen künstlerisch ist. Manche Kinematographen wissen
durch geeignete Wahl des Standortes den Eindruck des Bildes zu einem durchaus
geschlossenen und gefühlsmäßig eigenartigen zu gestalten.

Darum ist es aufs stärkste zu bedauern, daß auch hier das Gute gänzlich
untergeht unter der Masse des Schlimmen. Der Inhalt dieser Bilderreihen ist,
sachlich betrachtet, ein außerordentlich minderwertiger. Hier stehen sich schwärzestes
Verbrechertum und fleckenlose Unschuld in absolutem Kontraste gegenüber. Die
psychologische Verlogenheit der Handlung, die absichtliche und grobe Häufung
des Krassen nach der guten und bösen Seite, die faustdicke Naturalistik kennzeichnen
diese "Dramen" als Erzeugnisse desselben Geschmackes, der in der Schundliteratur
tätig ist: manschreckt hier vor der naturalistischen Wiedergabe einer Hinrichtungs¬
szene im Notfall nicht zurück und ist sehr geneigt, nicht nur dem Gewaltverbrecher,
sondern auch dem sittlichen Verbrecher das Mäntelchen der Romantik als Ausputz
umzuhängen.

Man kann die Nebeneinanderstellung und Vergleichung von Schundliteratur und
kinematographischer Schunddramatik noch ein ganzes Stück fortsetzen. Wie dort, so
kommt auch hier der Trieb zum sensationellen, verbunden mit der Lüsternheit,
die gerne erotische und sexuelle Probleme umschnüffelt, auf seine Rechnung. Die
französische Industrie hat den zweifelhaften Ruhm, auch hier die ersten Schritte
zur Befriedigung des Mafsengeschmackes getan und die ersten Anfänge des
"Sittenstückes" geschaffen zu haben; allerdings ist dieser Zweig der kinemato¬
graphischen Dramatik in der neuesten Zeit durch die dänische Industrie über¬
nommen und zu nie geahnter "Vollendung" geführt worden.

In der Masse lebt aber auch ein Trieb zum Sentimentalen und süßlichen.
Das französische "sentimentale Drama" der Lichtbildbühne spielt meistens in
den malerischen Bauern- und Fischerdörfern der Normandie und Bretagne;
namentlich das Leben der seemännischen Bevölkerung gibt reichlich Gelegenheit
zu rührenden Trennungs- und noch rührenderen Wiedersehensszenen, eventuell
zur Bewährung großen Edelmutes; das Enoch Arten - Schicksal habe ich schon
mehrfach variiert gefunden. Es ist übrigens wieder ein gutes Zeichen dafür,


vom „Geschmack" der Völker

Damit, daß die französische Filmindustrie die älteste, am meisten entwickelte
und auch finanziell am reichsten ausgestattete ist, hängt es zusammen, daß sie
das kostspielige heroisch-historische Kostümdrama vorzugsweise pflegen kann. Man
muß es bewundern, was sür ein Aufwand an reichen Kostümen und an Personal
für die Herstellung solcher Films ins Werk gesetzt wird. Dabei kann ohne
weiteres zugegeben werden, daß geschickt angeordnete Massenauftritte, Feste und
Umzüge, vor allem aber die öfter benutzte natürliche Szenerie, prachtvolle Schlösser
mit breiten Freitreppen und üppigen Gärten, mit weiten Sälen und düsteren
Bogengängen, gar oft dem Auge des Beschauers eine reine ästhetische Freude
erwecken. Die Renaissance in Italien ist ein beliebtes Stoffgebiet für diese
„historischen Dramen", und man erhält von ihrer Sinnenfreude häufig einen
recht guten Begriff. Dazu kommt, daß die Komposition der Bilder häufig sehr
geschickt, um nicht zu sagen künstlerisch ist. Manche Kinematographen wissen
durch geeignete Wahl des Standortes den Eindruck des Bildes zu einem durchaus
geschlossenen und gefühlsmäßig eigenartigen zu gestalten.

Darum ist es aufs stärkste zu bedauern, daß auch hier das Gute gänzlich
untergeht unter der Masse des Schlimmen. Der Inhalt dieser Bilderreihen ist,
sachlich betrachtet, ein außerordentlich minderwertiger. Hier stehen sich schwärzestes
Verbrechertum und fleckenlose Unschuld in absolutem Kontraste gegenüber. Die
psychologische Verlogenheit der Handlung, die absichtliche und grobe Häufung
des Krassen nach der guten und bösen Seite, die faustdicke Naturalistik kennzeichnen
diese „Dramen" als Erzeugnisse desselben Geschmackes, der in der Schundliteratur
tätig ist: manschreckt hier vor der naturalistischen Wiedergabe einer Hinrichtungs¬
szene im Notfall nicht zurück und ist sehr geneigt, nicht nur dem Gewaltverbrecher,
sondern auch dem sittlichen Verbrecher das Mäntelchen der Romantik als Ausputz
umzuhängen.

Man kann die Nebeneinanderstellung und Vergleichung von Schundliteratur und
kinematographischer Schunddramatik noch ein ganzes Stück fortsetzen. Wie dort, so
kommt auch hier der Trieb zum sensationellen, verbunden mit der Lüsternheit,
die gerne erotische und sexuelle Probleme umschnüffelt, auf seine Rechnung. Die
französische Industrie hat den zweifelhaften Ruhm, auch hier die ersten Schritte
zur Befriedigung des Mafsengeschmackes getan und die ersten Anfänge des
„Sittenstückes" geschaffen zu haben; allerdings ist dieser Zweig der kinemato¬
graphischen Dramatik in der neuesten Zeit durch die dänische Industrie über¬
nommen und zu nie geahnter „Vollendung" geführt worden.

In der Masse lebt aber auch ein Trieb zum Sentimentalen und süßlichen.
Das französische „sentimentale Drama" der Lichtbildbühne spielt meistens in
den malerischen Bauern- und Fischerdörfern der Normandie und Bretagne;
namentlich das Leben der seemännischen Bevölkerung gibt reichlich Gelegenheit
zu rührenden Trennungs- und noch rührenderen Wiedersehensszenen, eventuell
zur Bewährung großen Edelmutes; das Enoch Arten - Schicksal habe ich schon
mehrfach variiert gefunden. Es ist übrigens wieder ein gutes Zeichen dafür,


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[0295] vom „Geschmack" der Völker Damit, daß die französische Filmindustrie die älteste, am meisten entwickelte und auch finanziell am reichsten ausgestattete ist, hängt es zusammen, daß sie das kostspielige heroisch-historische Kostümdrama vorzugsweise pflegen kann. Man muß es bewundern, was sür ein Aufwand an reichen Kostümen und an Personal für die Herstellung solcher Films ins Werk gesetzt wird. Dabei kann ohne weiteres zugegeben werden, daß geschickt angeordnete Massenauftritte, Feste und Umzüge, vor allem aber die öfter benutzte natürliche Szenerie, prachtvolle Schlösser mit breiten Freitreppen und üppigen Gärten, mit weiten Sälen und düsteren Bogengängen, gar oft dem Auge des Beschauers eine reine ästhetische Freude erwecken. Die Renaissance in Italien ist ein beliebtes Stoffgebiet für diese „historischen Dramen", und man erhält von ihrer Sinnenfreude häufig einen recht guten Begriff. Dazu kommt, daß die Komposition der Bilder häufig sehr geschickt, um nicht zu sagen künstlerisch ist. Manche Kinematographen wissen durch geeignete Wahl des Standortes den Eindruck des Bildes zu einem durchaus geschlossenen und gefühlsmäßig eigenartigen zu gestalten. Darum ist es aufs stärkste zu bedauern, daß auch hier das Gute gänzlich untergeht unter der Masse des Schlimmen. Der Inhalt dieser Bilderreihen ist, sachlich betrachtet, ein außerordentlich minderwertiger. Hier stehen sich schwärzestes Verbrechertum und fleckenlose Unschuld in absolutem Kontraste gegenüber. Die psychologische Verlogenheit der Handlung, die absichtliche und grobe Häufung des Krassen nach der guten und bösen Seite, die faustdicke Naturalistik kennzeichnen diese „Dramen" als Erzeugnisse desselben Geschmackes, der in der Schundliteratur tätig ist: manschreckt hier vor der naturalistischen Wiedergabe einer Hinrichtungs¬ szene im Notfall nicht zurück und ist sehr geneigt, nicht nur dem Gewaltverbrecher, sondern auch dem sittlichen Verbrecher das Mäntelchen der Romantik als Ausputz umzuhängen. Man kann die Nebeneinanderstellung und Vergleichung von Schundliteratur und kinematographischer Schunddramatik noch ein ganzes Stück fortsetzen. Wie dort, so kommt auch hier der Trieb zum sensationellen, verbunden mit der Lüsternheit, die gerne erotische und sexuelle Probleme umschnüffelt, auf seine Rechnung. Die französische Industrie hat den zweifelhaften Ruhm, auch hier die ersten Schritte zur Befriedigung des Mafsengeschmackes getan und die ersten Anfänge des „Sittenstückes" geschaffen zu haben; allerdings ist dieser Zweig der kinemato¬ graphischen Dramatik in der neuesten Zeit durch die dänische Industrie über¬ nommen und zu nie geahnter „Vollendung" geführt worden. In der Masse lebt aber auch ein Trieb zum Sentimentalen und süßlichen. Das französische „sentimentale Drama" der Lichtbildbühne spielt meistens in den malerischen Bauern- und Fischerdörfern der Normandie und Bretagne; namentlich das Leben der seemännischen Bevölkerung gibt reichlich Gelegenheit zu rührenden Trennungs- und noch rührenderen Wiedersehensszenen, eventuell zur Bewährung großen Edelmutes; das Enoch Arten - Schicksal habe ich schon mehrfach variiert gefunden. Es ist übrigens wieder ein gutes Zeichen dafür,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/295>, abgerufen am 27.09.2024.