Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.vom "Geschmack" der Völker Durchschnitt bei unseren Kinematographentheatern wenig Absatz findet, es sei Das, was im Durchschnitte die Lichtbildbühne heute von auswärts bezieht, In Frankreich, in Paris, besteht die längste und mannigfaltigste Tradition vom „Geschmack" der Völker Durchschnitt bei unseren Kinematographentheatern wenig Absatz findet, es sei Das, was im Durchschnitte die Lichtbildbühne heute von auswärts bezieht, In Frankreich, in Paris, besteht die längste und mannigfaltigste Tradition <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0294" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/320711"/> <fw type="header" place="top"> vom „Geschmack" der Völker</fw><lb/> <p xml:id="ID_1208" prev="#ID_1207"> Durchschnitt bei unseren Kinematographentheatern wenig Absatz findet, es sei<lb/> denn, daß diese Films wissenschaftlicher Richtung zufällig aus Paris kommen<lb/> und als Fabrikmarke den krähenden Hahn von patdö froren tragen. Übrigens<lb/> will es mir scheinen, daß selbst diese französischen Films geographischen, wirt¬<lb/> schaftlichen, naturwissenschaftlichen Charakters, wie sie die Firma paleis in Paris<lb/> mit auf den Markt bringt, in der Frühzeit der Kinematographie häusiger in den<lb/> Kinematographentheatern zu sehen waren als heute. Nur in den „vornehmsten"<lb/> und teuersten Lichtbildtheatern kann man sich heute etwa am Anblick einer land¬<lb/> schaftlich schönen oder geographisch interessanten Gegend erfreuen, europäische<lb/> und exotische Völker bei ihrer Arbeit belauschen oder sich biologische Vorgänge<lb/> mit Hilfe der Mikrokinematographie verdeutlichen lassen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1209"> Das, was im Durchschnitte die Lichtbildbühne heute von auswärts bezieht,<lb/> das ist der humoristische Filu und das sogenannte „Drama", von dem sich<lb/> wieder verschiedene Abarten entwickelt haben. Es gibt heroisch-historische, soziale<lb/> und reine Sensationsdranren. In diesen Filmarten und -abarten spricht sich nun<lb/> am besten der Geschmack der Länder aus, die sie herstellen, die Spezialität, die<lb/> sie sich erwählt haben, spricht am besten für den psychologischen Scharfblick, mit<lb/> der dieser Geschmack der Masse von der Industrie erkannt wurde, und sür den<lb/> Spekulationsgeist der Unternehmer.</p><lb/> <p xml:id="ID_1210"> In Frankreich, in Paris, besteht die längste und mannigfaltigste Tradition<lb/> für die Herstellung kinematographischer Films. Daher ist die französische Produktion<lb/> am wenigsten einheitlich, ihre Tendenzen sind am mannigfaltigsten, weil sie sich<lb/> ini Laufe der Zeit am meisten gespalten haben, und in ihr findet man noch<lb/> am ehesten wenigstens einigermaßen Gutes neben den: Schlechten. Zu dem Guten,<lb/> das die französische Filmindustrie hervorgebracht hat, möchte ich neben den oben<lb/> erwähnten „natürlichen" und wissenschaftlichen Films die „optische Bericht¬<lb/> erstattung" rechnen, die Berichterstattung in Bildern über die neuesten Tages¬<lb/> ereignisse. Dennoch hat die unbesehene Übernahme dieser für französische Ver¬<lb/> hältnisse und von Franzosen hergestellten Filmserien für unsere deutschen Bühnen<lb/> doch einige Bedenken, die nicht so leicht übersehen werden dürfen, wie es bisher<lb/> geschieht. Wir Deutschen lassen uns da gutmütig allerlei Ereignisse vorführen,<lb/> die für einen Franzosen wohl eine gewisse Bedeutung haben mögen, zum Beispiel<lb/> den Empfang irgend eines obskuren Fürsten durch den Präsidenten der französischen<lb/> Republik. Gibt es in unserem eigenen Lande nicht in jeder Woche Ereignisse<lb/> genug, die das deutsche Publikum mehr interessieren würden? Und ließe sich<lb/> die Auswahl nicht so treffen, daß diese Bilder eine Einführung gäben in den<lb/> Mechanismus unseres wirtschaftlichen, sozialen und nationalen Lebens? Es wäre<lb/> dringend zu wünschen, daß die deutsche Filmindustrie hier energischer mit der<lb/> französischen in Wettbewerb treten möchte, daß sie die Ereignisse in der Welt<lb/> mit deutschen Augen betrachtete und auswählte, damit das deutsche Publikum<lb/> nicht länger in den Lichtbildtheatern daran gewöhnt wird, die Weltereignisse<lb/> durch die französische Brille zu sehen.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0294]
vom „Geschmack" der Völker
Durchschnitt bei unseren Kinematographentheatern wenig Absatz findet, es sei
denn, daß diese Films wissenschaftlicher Richtung zufällig aus Paris kommen
und als Fabrikmarke den krähenden Hahn von patdö froren tragen. Übrigens
will es mir scheinen, daß selbst diese französischen Films geographischen, wirt¬
schaftlichen, naturwissenschaftlichen Charakters, wie sie die Firma paleis in Paris
mit auf den Markt bringt, in der Frühzeit der Kinematographie häusiger in den
Kinematographentheatern zu sehen waren als heute. Nur in den „vornehmsten"
und teuersten Lichtbildtheatern kann man sich heute etwa am Anblick einer land¬
schaftlich schönen oder geographisch interessanten Gegend erfreuen, europäische
und exotische Völker bei ihrer Arbeit belauschen oder sich biologische Vorgänge
mit Hilfe der Mikrokinematographie verdeutlichen lassen.
Das, was im Durchschnitte die Lichtbildbühne heute von auswärts bezieht,
das ist der humoristische Filu und das sogenannte „Drama", von dem sich
wieder verschiedene Abarten entwickelt haben. Es gibt heroisch-historische, soziale
und reine Sensationsdranren. In diesen Filmarten und -abarten spricht sich nun
am besten der Geschmack der Länder aus, die sie herstellen, die Spezialität, die
sie sich erwählt haben, spricht am besten für den psychologischen Scharfblick, mit
der dieser Geschmack der Masse von der Industrie erkannt wurde, und sür den
Spekulationsgeist der Unternehmer.
In Frankreich, in Paris, besteht die längste und mannigfaltigste Tradition
für die Herstellung kinematographischer Films. Daher ist die französische Produktion
am wenigsten einheitlich, ihre Tendenzen sind am mannigfaltigsten, weil sie sich
ini Laufe der Zeit am meisten gespalten haben, und in ihr findet man noch
am ehesten wenigstens einigermaßen Gutes neben den: Schlechten. Zu dem Guten,
das die französische Filmindustrie hervorgebracht hat, möchte ich neben den oben
erwähnten „natürlichen" und wissenschaftlichen Films die „optische Bericht¬
erstattung" rechnen, die Berichterstattung in Bildern über die neuesten Tages¬
ereignisse. Dennoch hat die unbesehene Übernahme dieser für französische Ver¬
hältnisse und von Franzosen hergestellten Filmserien für unsere deutschen Bühnen
doch einige Bedenken, die nicht so leicht übersehen werden dürfen, wie es bisher
geschieht. Wir Deutschen lassen uns da gutmütig allerlei Ereignisse vorführen,
die für einen Franzosen wohl eine gewisse Bedeutung haben mögen, zum Beispiel
den Empfang irgend eines obskuren Fürsten durch den Präsidenten der französischen
Republik. Gibt es in unserem eigenen Lande nicht in jeder Woche Ereignisse
genug, die das deutsche Publikum mehr interessieren würden? Und ließe sich
die Auswahl nicht so treffen, daß diese Bilder eine Einführung gäben in den
Mechanismus unseres wirtschaftlichen, sozialen und nationalen Lebens? Es wäre
dringend zu wünschen, daß die deutsche Filmindustrie hier energischer mit der
französischen in Wettbewerb treten möchte, daß sie die Ereignisse in der Welt
mit deutschen Augen betrachtete und auswählte, damit das deutsche Publikum
nicht länger in den Lichtbildtheatern daran gewöhnt wird, die Weltereignisse
durch die französische Brille zu sehen.
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