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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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haben, je mehr der betrachtete Stoff mit dem Betrachter volklich und zeitlich
"erwachsen ist. Mag man die griechische, die römische Geschichte in die Sphäre
der bloßen Betrachtung rücken, bei der deutschen Geschichte der letzten Jahr¬
hunderte lebt, liebt und leidet der Deutsche der Gegenwart mit.

Der Wunsch, Geschichtsdarstellungen zu lesen, in denen der Standpunkt des
Vortragenden schon eine Wertung mit sich bringt, ist es ja eben, den wir als
Grund für den Erfolg der zahlreichen einseitigen Geschichtswerke erkennen. Aber
wir müssen alle die Wertmaßstäbe heute als unhistorisch verwerfen, denen eine
absolute Geltung zugeschrieben wird. Nichts im menschlichen Geschehen hat für
alle Zeit und für alle Menschen absolute Geltung. Daher kann ein solcher
Wertungsmaßstab auch nur den Anspruch machen, daß er einem Volke, unserem
Volke, in der Gegenwart Genüge tut. Dies kann er nur, wenn er sich frei¬
hält von den spekulativ gewonnenen Elementen unserer Parteidoktrinen und
wenn er mit rein geschichtlichen Möglichkeiten rechnet. Wir wollen keine parteiisch
stilisierte Geschichte, aber wir wollen auch nicht aus unserer Haut heraus, in
der wir nun einmal als Deutsche stecken.

Wie der politische Geschichtschreiber zu einem solchen Maßstab gelangt,
dafür ist Treitschkes Beispiel lehrreich. Er hat sich über die Frage des deutschen
nationalen Staates durch historische Prüfung der Tatsachen einen unzweifelhaften
Wertmaßstab in seiner persönlichen Überzeugung erworben") und ihn in seiner
Geschichtsschreibung angewendet. "Man wird schwerlich irgendwo in seinen
Schriften die aufdringliche Ruhe und Selbstgewißheit nachzuweisen vermögen,
als habe er (wie Schlosser) Dcmtesche Gelüste, feine Leute geradenwegs in den
Himmel und in die Hölle zu senden. Er macht doch überall bei aller schneidenden
Schärfe den Eindruck, als wäre er sich des menschlich relativen Wertes seiner
Beurteilungen wohl bewußt. Aber man erfährt doch überall klar und deutlich,
was vom Standpunkt seines -- zugegebenerweise -- ganz relativen Maßstabes
gut und schlecht, nützlich und unnütz, wert und unwert war."

Die historische Betrachtung selber gibt uns also den Maßstab zur Wertung
an die Hand. Aber wir tragen doch die Wertung des letzten Entwicklungszieles
aus unserer Überzeugung hinein; insofern bleibt auch diese Art, das Geschehene
anzuschauen und darzustellen, von einem außcrgeschichtlichen Punkt aus orientiert.

Der Gesichtspunkt nun, von dem ein Historiker der Gegenwart die geschicht¬
liche Betrachtung der Neuzeit für unsere politische Bildung fruchtbar machen
könnte, liegt ähnlich wie bei Treitschke in den Entwicklungsmöglichkeiten unseres
Volkes, nur daß wir heute unsere Blicke noch weiter in die Zukunft senden
müssen, um ein Ziel zu finden, auf das wir unseren Kurs richten. Wir brauchen
deshalb nicht in Fanatismus und Chauvinismus zu versallen; wir werden es
nicht, da wir in der Geschichte unser Volk mit all feinen Schwächen und



") Ich benutze gern die Gelegenheit, um auf die treffenden Äußerungen von Ottokar
Lorenz hinzuweisen; sie stehen etwas versteckt in seinem Aufsatz über F. C. Schlosser in dem
Buche "Die Geschichtswissenschaft in ihren Hnuptrichtungen und Aufgaben" (1886) S. 81 bis 82.
l'iistoi'la miiitsus

haben, je mehr der betrachtete Stoff mit dem Betrachter volklich und zeitlich
»erwachsen ist. Mag man die griechische, die römische Geschichte in die Sphäre
der bloßen Betrachtung rücken, bei der deutschen Geschichte der letzten Jahr¬
hunderte lebt, liebt und leidet der Deutsche der Gegenwart mit.

Der Wunsch, Geschichtsdarstellungen zu lesen, in denen der Standpunkt des
Vortragenden schon eine Wertung mit sich bringt, ist es ja eben, den wir als
Grund für den Erfolg der zahlreichen einseitigen Geschichtswerke erkennen. Aber
wir müssen alle die Wertmaßstäbe heute als unhistorisch verwerfen, denen eine
absolute Geltung zugeschrieben wird. Nichts im menschlichen Geschehen hat für
alle Zeit und für alle Menschen absolute Geltung. Daher kann ein solcher
Wertungsmaßstab auch nur den Anspruch machen, daß er einem Volke, unserem
Volke, in der Gegenwart Genüge tut. Dies kann er nur, wenn er sich frei¬
hält von den spekulativ gewonnenen Elementen unserer Parteidoktrinen und
wenn er mit rein geschichtlichen Möglichkeiten rechnet. Wir wollen keine parteiisch
stilisierte Geschichte, aber wir wollen auch nicht aus unserer Haut heraus, in
der wir nun einmal als Deutsche stecken.

Wie der politische Geschichtschreiber zu einem solchen Maßstab gelangt,
dafür ist Treitschkes Beispiel lehrreich. Er hat sich über die Frage des deutschen
nationalen Staates durch historische Prüfung der Tatsachen einen unzweifelhaften
Wertmaßstab in seiner persönlichen Überzeugung erworben") und ihn in seiner
Geschichtsschreibung angewendet. „Man wird schwerlich irgendwo in seinen
Schriften die aufdringliche Ruhe und Selbstgewißheit nachzuweisen vermögen,
als habe er (wie Schlosser) Dcmtesche Gelüste, feine Leute geradenwegs in den
Himmel und in die Hölle zu senden. Er macht doch überall bei aller schneidenden
Schärfe den Eindruck, als wäre er sich des menschlich relativen Wertes seiner
Beurteilungen wohl bewußt. Aber man erfährt doch überall klar und deutlich,
was vom Standpunkt seines — zugegebenerweise — ganz relativen Maßstabes
gut und schlecht, nützlich und unnütz, wert und unwert war."

Die historische Betrachtung selber gibt uns also den Maßstab zur Wertung
an die Hand. Aber wir tragen doch die Wertung des letzten Entwicklungszieles
aus unserer Überzeugung hinein; insofern bleibt auch diese Art, das Geschehene
anzuschauen und darzustellen, von einem außcrgeschichtlichen Punkt aus orientiert.

Der Gesichtspunkt nun, von dem ein Historiker der Gegenwart die geschicht¬
liche Betrachtung der Neuzeit für unsere politische Bildung fruchtbar machen
könnte, liegt ähnlich wie bei Treitschke in den Entwicklungsmöglichkeiten unseres
Volkes, nur daß wir heute unsere Blicke noch weiter in die Zukunft senden
müssen, um ein Ziel zu finden, auf das wir unseren Kurs richten. Wir brauchen
deshalb nicht in Fanatismus und Chauvinismus zu versallen; wir werden es
nicht, da wir in der Geschichte unser Volk mit all feinen Schwächen und



") Ich benutze gern die Gelegenheit, um auf die treffenden Äußerungen von Ottokar
Lorenz hinzuweisen; sie stehen etwas versteckt in seinem Aufsatz über F. C. Schlosser in dem
Buche „Die Geschichtswissenschaft in ihren Hnuptrichtungen und Aufgaben" (1886) S. 81 bis 82.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/179>, abgerufen am 20.10.2024.