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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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wird demi Politiker sehr zugute kommen, indem er Zeittendenzen herausliest,
die er entweder bekämpfen oder benutzen wird. Er wird sie, wenn er sie ab¬
lehnen muß, doch nicht für unüberwindlich halten; auch das ist eine Folge der
Geschichtsbetrachtung, daß sie lehrt, wieviel die selbständige Persönlichkeit auch
in einer von Massenströmungen erfüllten Zeit -- und vielleicht gerade in einer
solchen, weil man des Führers bedarf -- bedeuten und erreichen kann.

Ferner: Gewiß ist es, wie auch Brandenburg hervorhebt, falsch, was
neuerdings wieder von unkundiger Seite verlangt wird, daß die Geschichte dazu
dienen soll, die Zukunft vorauszuberechnen. Aber wohl kann das Studium der
Geschichte in gewissen Füllen die seltene Fähigkeit des fruchtbaren Vergleichs
von Vergangenheit und Gegenwart dahin entwickeln, daß sie die in beiden
Fällen vorliegenden gleichartigen Momente und die vorhandenen Verschiedenheiten
in ihrer stärkeren oder schwächeren Wirkung abzuschätzen und so mit einer gewissen
Wahrscheinlichkeit die Folgen vorauszusehen weiß, die eine politische Erscheinung
oder Maßregel haben wird. So kann uns die Geschichte einen Anschauungs¬
unterricht erteilen, in dem wir Kräfte tätig finden, die nicht in gleicher, aber
doch in analoger Weise in der Gegenwart sich finden. Ich halte es für einen
Vorzug der Bücher von Heinrich Wolf, solche Analogien für weitere Kreise
fruchtbar gemacht zu haben.

Schließlich könnte man noch eine ganz äußerliche Folge der historischen
Bildung voraussehen: Sie lehrt die relative Berechtigung des gegnerischen
Standpunktes abschätzen, wird mithin die Gründe des Gegners zwar ablehnen,
der politischen Leidenschaft und Gehässigkeit jedoch Zügel anlegen und den Ton
in unseren politischen Versammlungen und Parlamenten mildern. Dies alles
aber nur, wenn sie in die Massen oder wenigstens in weite Kreise dringt.

Ob die Geschichte als reine Wissenschaft dies jemals kann, ob sie insbesondere
auch auf dem Boon unserer demokratisierten politischen Verhältnisse noch im¬
stande ist, mit Erfolg gegen die Herrschaft der Parteidoktrinen aufzutreten, darüber
möchte ich mein Urteil aussetzen.

Das Beispiel Leopold v. Rankes ist nicht gerade ermutigend. Wir sind
heute in der Lage, an der Hand eines gutgeschriebenen Buches Rankes politische
Tätigkeit zu verfolgen"). Wie ein einziges Argument gegen eine staatsbürger¬
liche Erziehung durch geschichtswissenschaftliche Belehrung stellt sich da vor allem
Rankes publizistische Tätigkeit als Leiter der "Historisch - politischen Zeitschrift"
in den Jahren 1832 bis 1836 dar. Die Zeitschrift, im preußisch-nationalen
Interesse gegründet, sollte nach Rankes Wunsch durch Belehrung und Erkenntnis,
nicht durch Überredung dem Ziele zustreben, die unhistorischen politischen Theorien
zu bekämpfen; sie sollte ein Versuch sein, der politischen Leidenschaft dadurch
entgegenzutreten, daß man streng historische, rein intellektuell gewonnene Maß-



*) Otto Diether, "Leopold v, Ranke als Politiker." Historisch-Psychologische Studie
über das Verhältnis des reinen Historikers zur Praktischen Politik. Leipzig (Duncker u.
Humblot). 1911.
Grenzboten I 1912 22
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wird demi Politiker sehr zugute kommen, indem er Zeittendenzen herausliest,
die er entweder bekämpfen oder benutzen wird. Er wird sie, wenn er sie ab¬
lehnen muß, doch nicht für unüberwindlich halten; auch das ist eine Folge der
Geschichtsbetrachtung, daß sie lehrt, wieviel die selbständige Persönlichkeit auch
in einer von Massenströmungen erfüllten Zeit — und vielleicht gerade in einer
solchen, weil man des Führers bedarf — bedeuten und erreichen kann.

Ferner: Gewiß ist es, wie auch Brandenburg hervorhebt, falsch, was
neuerdings wieder von unkundiger Seite verlangt wird, daß die Geschichte dazu
dienen soll, die Zukunft vorauszuberechnen. Aber wohl kann das Studium der
Geschichte in gewissen Füllen die seltene Fähigkeit des fruchtbaren Vergleichs
von Vergangenheit und Gegenwart dahin entwickeln, daß sie die in beiden
Fällen vorliegenden gleichartigen Momente und die vorhandenen Verschiedenheiten
in ihrer stärkeren oder schwächeren Wirkung abzuschätzen und so mit einer gewissen
Wahrscheinlichkeit die Folgen vorauszusehen weiß, die eine politische Erscheinung
oder Maßregel haben wird. So kann uns die Geschichte einen Anschauungs¬
unterricht erteilen, in dem wir Kräfte tätig finden, die nicht in gleicher, aber
doch in analoger Weise in der Gegenwart sich finden. Ich halte es für einen
Vorzug der Bücher von Heinrich Wolf, solche Analogien für weitere Kreise
fruchtbar gemacht zu haben.

Schließlich könnte man noch eine ganz äußerliche Folge der historischen
Bildung voraussehen: Sie lehrt die relative Berechtigung des gegnerischen
Standpunktes abschätzen, wird mithin die Gründe des Gegners zwar ablehnen,
der politischen Leidenschaft und Gehässigkeit jedoch Zügel anlegen und den Ton
in unseren politischen Versammlungen und Parlamenten mildern. Dies alles
aber nur, wenn sie in die Massen oder wenigstens in weite Kreise dringt.

Ob die Geschichte als reine Wissenschaft dies jemals kann, ob sie insbesondere
auch auf dem Boon unserer demokratisierten politischen Verhältnisse noch im¬
stande ist, mit Erfolg gegen die Herrschaft der Parteidoktrinen aufzutreten, darüber
möchte ich mein Urteil aussetzen.

Das Beispiel Leopold v. Rankes ist nicht gerade ermutigend. Wir sind
heute in der Lage, an der Hand eines gutgeschriebenen Buches Rankes politische
Tätigkeit zu verfolgen"). Wie ein einziges Argument gegen eine staatsbürger¬
liche Erziehung durch geschichtswissenschaftliche Belehrung stellt sich da vor allem
Rankes publizistische Tätigkeit als Leiter der „Historisch - politischen Zeitschrift"
in den Jahren 1832 bis 1836 dar. Die Zeitschrift, im preußisch-nationalen
Interesse gegründet, sollte nach Rankes Wunsch durch Belehrung und Erkenntnis,
nicht durch Überredung dem Ziele zustreben, die unhistorischen politischen Theorien
zu bekämpfen; sie sollte ein Versuch sein, der politischen Leidenschaft dadurch
entgegenzutreten, daß man streng historische, rein intellektuell gewonnene Maß-



*) Otto Diether, „Leopold v, Ranke als Politiker." Historisch-Psychologische Studie
über das Verhältnis des reinen Historikers zur Praktischen Politik. Leipzig (Duncker u.
Humblot). 1911.
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[0177] rtisloria militans wird demi Politiker sehr zugute kommen, indem er Zeittendenzen herausliest, die er entweder bekämpfen oder benutzen wird. Er wird sie, wenn er sie ab¬ lehnen muß, doch nicht für unüberwindlich halten; auch das ist eine Folge der Geschichtsbetrachtung, daß sie lehrt, wieviel die selbständige Persönlichkeit auch in einer von Massenströmungen erfüllten Zeit — und vielleicht gerade in einer solchen, weil man des Führers bedarf — bedeuten und erreichen kann. Ferner: Gewiß ist es, wie auch Brandenburg hervorhebt, falsch, was neuerdings wieder von unkundiger Seite verlangt wird, daß die Geschichte dazu dienen soll, die Zukunft vorauszuberechnen. Aber wohl kann das Studium der Geschichte in gewissen Füllen die seltene Fähigkeit des fruchtbaren Vergleichs von Vergangenheit und Gegenwart dahin entwickeln, daß sie die in beiden Fällen vorliegenden gleichartigen Momente und die vorhandenen Verschiedenheiten in ihrer stärkeren oder schwächeren Wirkung abzuschätzen und so mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit die Folgen vorauszusehen weiß, die eine politische Erscheinung oder Maßregel haben wird. So kann uns die Geschichte einen Anschauungs¬ unterricht erteilen, in dem wir Kräfte tätig finden, die nicht in gleicher, aber doch in analoger Weise in der Gegenwart sich finden. Ich halte es für einen Vorzug der Bücher von Heinrich Wolf, solche Analogien für weitere Kreise fruchtbar gemacht zu haben. Schließlich könnte man noch eine ganz äußerliche Folge der historischen Bildung voraussehen: Sie lehrt die relative Berechtigung des gegnerischen Standpunktes abschätzen, wird mithin die Gründe des Gegners zwar ablehnen, der politischen Leidenschaft und Gehässigkeit jedoch Zügel anlegen und den Ton in unseren politischen Versammlungen und Parlamenten mildern. Dies alles aber nur, wenn sie in die Massen oder wenigstens in weite Kreise dringt. Ob die Geschichte als reine Wissenschaft dies jemals kann, ob sie insbesondere auch auf dem Boon unserer demokratisierten politischen Verhältnisse noch im¬ stande ist, mit Erfolg gegen die Herrschaft der Parteidoktrinen aufzutreten, darüber möchte ich mein Urteil aussetzen. Das Beispiel Leopold v. Rankes ist nicht gerade ermutigend. Wir sind heute in der Lage, an der Hand eines gutgeschriebenen Buches Rankes politische Tätigkeit zu verfolgen"). Wie ein einziges Argument gegen eine staatsbürger¬ liche Erziehung durch geschichtswissenschaftliche Belehrung stellt sich da vor allem Rankes publizistische Tätigkeit als Leiter der „Historisch - politischen Zeitschrift" in den Jahren 1832 bis 1836 dar. Die Zeitschrift, im preußisch-nationalen Interesse gegründet, sollte nach Rankes Wunsch durch Belehrung und Erkenntnis, nicht durch Überredung dem Ziele zustreben, die unhistorischen politischen Theorien zu bekämpfen; sie sollte ein Versuch sein, der politischen Leidenschaft dadurch entgegenzutreten, daß man streng historische, rein intellektuell gewonnene Maß- *) Otto Diether, „Leopold v, Ranke als Politiker." Historisch-Psychologische Studie über das Verhältnis des reinen Historikers zur Praktischen Politik. Leipzig (Duncker u. Humblot). 1911. Grenzboten I 1912 22

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/177>, abgerufen am 27.09.2024.