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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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nur, die wir bei dem autonomen Historiker finden; also bleibt Objektivität ein
relativer Begriff. Anderseits ist auch da, wo wir Unparteilichkeit vermissen, ein
Gradunterschied möglich zwischen sympathischen Subjektivismus und verbissenem
Fanatismus, eine weite Skala von Formen der subjektiven Auffassung.

Erstrebenswert erscheint nach den: heute allgemein angenommenen Stand¬
punkte unter allen Umständen, daß eine Einwirkung ethisch-politisch-religiöser
vorgefaßter Meinungen bei der Ermittlung der historischen Tatsachen und ihrer
rein wissenschaftlichen Wiedergabe unterbleibt, daß also die Geschichtswissenschaft
auf ihrem eigenen Gebiete autonom bleibt. Es wird sich jedoch zeigen, ob nicht
trotzdem die Geschichte eine Wirkung aus ihren Grenzen heraus ausüben kann,
und zwar in der Richtung auf die Politik, wie jenes bekannte Wort Treitschkes
von der Politik als angewandter Geschichte zu besagen scheint. Enthält dieses
Schlagwort Wahrheit? Ja und nein.

Erst ganz kürzlich hat in der neuen Zeitschrift "Vergangenheit und Gegen¬
wart" (Leipzig, Teubner, 1911, Heft 1, S. 15 ff.) Erich Brandenburg die
Frage behandelt: "Kann der Politiker aus der Geschichte lernen?" Er sieht
mit Recht die Bedeutung der Geschichte für die Politik vor allem in der Er¬
kenntnis der Lage als einer gewordenen und der im Werden der Zustände
tätigen Kräfte. Unter ihnen hebt er die Macht der Vergangenheit, des Be¬
harrens hervor, eine Kraft, die zuzeiten überwunden werden muß, soll das
Staatswesen nicht der Verknöcherung anheimfallen. Wir können auch sagen:
Der Mensch lernt durch eine wahrhaft geschichtliche Bildung politisch sehen.
Historische Bildung wird dahin streben, die reine politische Theorie, die Partei¬
doktrin aus der Reihe der wirksamen politischen Kräfte auszurotten; denn sie
übt den Blick aufs größere Ganze, sie faßt die Realitäten und die Persönlich¬
keiten ins Auge und hat daher für bloße Konstruktionen keinen Sinn mehr.
Der geschichtlich unterrichtete Mensch ist nicht mehr wie der naive Betrachter
geneigt, von allem die Ursache zu suchen, sondern er sieht hinter allen Gescheh¬
nissen die Reihe der Voraussetzungen sachlicher und persönlicher Art, die not¬
wendig waren, damit dieses Geschehen eintrat; er wird diese Erkenntnis auch
praktisch verwerten.

Aber wir dürfen weitergehen: Der historisch Gebildete ist gewohnt, alle
Objekte seiner Betrachtung nicht nur als Ursachen oder Ergebnisse anzusehen,
sondern jedes Faktum als beides und gleichzeitig in all seinen Verflechtungen
und Zusammenhängen nach vorwärts, rückwärts und seitwärts. Er reiht die
Tatsache nicht allein in den Kausalnexus ein, sondern er erkennt in ihr und
vielen gleichzeitig, scheinbar außer Zusammenhang mit ihr auftretenden Er¬
scheinungen Symptome einer allgemeinen Volks- oder Kultur- oder Staats¬
entwicklung, deren Tendenz und Stärke er so beurteilen lernt. Die Übung in
dieser weitblickenden Zusammenfassung scheinbar unzusammenhängender Fakten



Wann das geschehen muß, und welche Formen veraltet und unzweckmäßig geworden
sind, lehrt die Geschichte nicht; das ist eine rein politische Frage.
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nur, die wir bei dem autonomen Historiker finden; also bleibt Objektivität ein
relativer Begriff. Anderseits ist auch da, wo wir Unparteilichkeit vermissen, ein
Gradunterschied möglich zwischen sympathischen Subjektivismus und verbissenem
Fanatismus, eine weite Skala von Formen der subjektiven Auffassung.

Erstrebenswert erscheint nach den: heute allgemein angenommenen Stand¬
punkte unter allen Umständen, daß eine Einwirkung ethisch-politisch-religiöser
vorgefaßter Meinungen bei der Ermittlung der historischen Tatsachen und ihrer
rein wissenschaftlichen Wiedergabe unterbleibt, daß also die Geschichtswissenschaft
auf ihrem eigenen Gebiete autonom bleibt. Es wird sich jedoch zeigen, ob nicht
trotzdem die Geschichte eine Wirkung aus ihren Grenzen heraus ausüben kann,
und zwar in der Richtung auf die Politik, wie jenes bekannte Wort Treitschkes
von der Politik als angewandter Geschichte zu besagen scheint. Enthält dieses
Schlagwort Wahrheit? Ja und nein.

Erst ganz kürzlich hat in der neuen Zeitschrift „Vergangenheit und Gegen¬
wart" (Leipzig, Teubner, 1911, Heft 1, S. 15 ff.) Erich Brandenburg die
Frage behandelt: „Kann der Politiker aus der Geschichte lernen?" Er sieht
mit Recht die Bedeutung der Geschichte für die Politik vor allem in der Er¬
kenntnis der Lage als einer gewordenen und der im Werden der Zustände
tätigen Kräfte. Unter ihnen hebt er die Macht der Vergangenheit, des Be¬
harrens hervor, eine Kraft, die zuzeiten überwunden werden muß, soll das
Staatswesen nicht der Verknöcherung anheimfallen. Wir können auch sagen:
Der Mensch lernt durch eine wahrhaft geschichtliche Bildung politisch sehen.
Historische Bildung wird dahin streben, die reine politische Theorie, die Partei¬
doktrin aus der Reihe der wirksamen politischen Kräfte auszurotten; denn sie
übt den Blick aufs größere Ganze, sie faßt die Realitäten und die Persönlich¬
keiten ins Auge und hat daher für bloße Konstruktionen keinen Sinn mehr.
Der geschichtlich unterrichtete Mensch ist nicht mehr wie der naive Betrachter
geneigt, von allem die Ursache zu suchen, sondern er sieht hinter allen Gescheh¬
nissen die Reihe der Voraussetzungen sachlicher und persönlicher Art, die not¬
wendig waren, damit dieses Geschehen eintrat; er wird diese Erkenntnis auch
praktisch verwerten.

Aber wir dürfen weitergehen: Der historisch Gebildete ist gewohnt, alle
Objekte seiner Betrachtung nicht nur als Ursachen oder Ergebnisse anzusehen,
sondern jedes Faktum als beides und gleichzeitig in all seinen Verflechtungen
und Zusammenhängen nach vorwärts, rückwärts und seitwärts. Er reiht die
Tatsache nicht allein in den Kausalnexus ein, sondern er erkennt in ihr und
vielen gleichzeitig, scheinbar außer Zusammenhang mit ihr auftretenden Er¬
scheinungen Symptome einer allgemeinen Volks- oder Kultur- oder Staats¬
entwicklung, deren Tendenz und Stärke er so beurteilen lernt. Die Übung in
dieser weitblickenden Zusammenfassung scheinbar unzusammenhängender Fakten



Wann das geschehen muß, und welche Formen veraltet und unzweckmäßig geworden
sind, lehrt die Geschichte nicht; das ist eine rein politische Frage.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/176>, abgerufen am 27.09.2024.