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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Histona miliwlis

Gegensätze und selbst die Schlagworte des Tages übertrugen sie auf den Hader
längstvergangener Geschlechter, bis hinauf zu den fernsten Zeiten; selbst den
Parteiungen in dem alten Rom und Hellas liehen sie Farben, die sie der
Gegenwart entnahmen" (Max Lenz). Und diese Farben, oder sagen wir lieber
die Wertmaßstäbe, die die Rotteck, Schlosser, Dahlmann, Drovsen aus der Gegen¬
wart entnahmen und an die Vergangenheit anlegten, was konnten sie in jenem
Zeitalter anderes sein, als die -- wenn auch individuell verschieden gefärbten --
liberalen Theorien, in denen die Aufklärungsphilosophie und die Naturrechts¬
lehre ihre letzten Auswirkungen fanden? Mithin durch Spekulation gewonnene
Doktrinen, die nun als allgemein gültige Wertprinzipien auf die Ereignisse aller
Zeiten angewendet wurden.

Anderseits hat man, wie Rotteck in der anfangs zitierten Stelle andeutet,
praktischen Nutzen aus der Geschichtsbetrachtung zu gewinnen gestrebt. Als
"Lehre der Geschichte" konnte aber in einer einseitig bestimmten Weltanschauung
natürlich nur das angesehen werden, was sie zu befestigen geeignet war. Und
so war man geneigt, mit Hilfe der Geschichte überredend auf diejenigen zu
wirken, die politisch in anderen Lagern standen.

Solche Verbindungen zwischen Geschichte und Politik sind nun nicht nur
von den Liberalen der vormärzlichen Zeit, sondern auch von ihren Nachfolgern,
nicht minder auch von ihren Gegnern versucht worden. Wir finden so liberale,
klerikale, sozialdemokratische "Geschichtswerke", bei denen die Wertungsprinzipien
ihren Ursprung im Parteiprogramm haben. Das politisch-rechtgläubige Volk
erbaut sich an diesen Büchern und findet in ihnen -- den Zirkelschluß über¬
sehend -- mehr, als man glauben möchte, Stützen für seine politische Über¬
zeugung.

Das alles dauert heute und wird sobald nicht aufhören; obgleich schon
wenige Jahre nach dem Hervortreten Rottecks der Gymnasiallehrer Leopold
Ranke in Frankfurt an der Oder der Geschichtsschreibung das ganz entgegen¬
gesetzte Ziel gesteckt hatte: "zu zeigen, wie es eigentlich gewesen."

Damit haben wir den Grundgegensatz bezeichnet, der durch alle Geschichts¬
auffassung und Darstellung sich zieht: dort Abhängigkeit von vorgefaßten
Meinungen, von moralisch-politischen Theorien -- hier bewußt angestrebte
Boraussetzungslosigkeit; dort Anwendung der Geschichte zur Erzielung politischer
Wirkungen (angewandte Geschichte, Ki8toria militan3) -- hier autonome, nur
auf das Erkennen gerichtete Forschung (reine Geschichte, til8tora intuens). Ich
gebrauche absichtlich nicht die Worte subjektive und objektive Geschichtsschreibung.
Denn auch der voraussetzungslose Historiker bleibt ein Mensch und darum auch
in aller Objektivität subjektiv; er bleibt ein Kind seiner Zeit, seines Volkes,
Standes, Kulturkreises, in gewissem Sinne ihr Produkt und das der erzieherischen
Einflüsse in und außerhalb von Haus und Schule. Alles das hat sich in ihm
niedergeschlagen, und nicht alles läßt sich durch das Streben nach Objektivität
ausschalten. Nicht Objektivität überhaupt, sondern möglichste Objektivität ist es


Histona miliwlis

Gegensätze und selbst die Schlagworte des Tages übertrugen sie auf den Hader
längstvergangener Geschlechter, bis hinauf zu den fernsten Zeiten; selbst den
Parteiungen in dem alten Rom und Hellas liehen sie Farben, die sie der
Gegenwart entnahmen" (Max Lenz). Und diese Farben, oder sagen wir lieber
die Wertmaßstäbe, die die Rotteck, Schlosser, Dahlmann, Drovsen aus der Gegen¬
wart entnahmen und an die Vergangenheit anlegten, was konnten sie in jenem
Zeitalter anderes sein, als die — wenn auch individuell verschieden gefärbten —
liberalen Theorien, in denen die Aufklärungsphilosophie und die Naturrechts¬
lehre ihre letzten Auswirkungen fanden? Mithin durch Spekulation gewonnene
Doktrinen, die nun als allgemein gültige Wertprinzipien auf die Ereignisse aller
Zeiten angewendet wurden.

Anderseits hat man, wie Rotteck in der anfangs zitierten Stelle andeutet,
praktischen Nutzen aus der Geschichtsbetrachtung zu gewinnen gestrebt. Als
„Lehre der Geschichte" konnte aber in einer einseitig bestimmten Weltanschauung
natürlich nur das angesehen werden, was sie zu befestigen geeignet war. Und
so war man geneigt, mit Hilfe der Geschichte überredend auf diejenigen zu
wirken, die politisch in anderen Lagern standen.

Solche Verbindungen zwischen Geschichte und Politik sind nun nicht nur
von den Liberalen der vormärzlichen Zeit, sondern auch von ihren Nachfolgern,
nicht minder auch von ihren Gegnern versucht worden. Wir finden so liberale,
klerikale, sozialdemokratische „Geschichtswerke", bei denen die Wertungsprinzipien
ihren Ursprung im Parteiprogramm haben. Das politisch-rechtgläubige Volk
erbaut sich an diesen Büchern und findet in ihnen — den Zirkelschluß über¬
sehend — mehr, als man glauben möchte, Stützen für seine politische Über¬
zeugung.

Das alles dauert heute und wird sobald nicht aufhören; obgleich schon
wenige Jahre nach dem Hervortreten Rottecks der Gymnasiallehrer Leopold
Ranke in Frankfurt an der Oder der Geschichtsschreibung das ganz entgegen¬
gesetzte Ziel gesteckt hatte: „zu zeigen, wie es eigentlich gewesen."

Damit haben wir den Grundgegensatz bezeichnet, der durch alle Geschichts¬
auffassung und Darstellung sich zieht: dort Abhängigkeit von vorgefaßten
Meinungen, von moralisch-politischen Theorien — hier bewußt angestrebte
Boraussetzungslosigkeit; dort Anwendung der Geschichte zur Erzielung politischer
Wirkungen (angewandte Geschichte, Ki8toria militan3) — hier autonome, nur
auf das Erkennen gerichtete Forschung (reine Geschichte, til8tora intuens). Ich
gebrauche absichtlich nicht die Worte subjektive und objektive Geschichtsschreibung.
Denn auch der voraussetzungslose Historiker bleibt ein Mensch und darum auch
in aller Objektivität subjektiv; er bleibt ein Kind seiner Zeit, seines Volkes,
Standes, Kulturkreises, in gewissem Sinne ihr Produkt und das der erzieherischen
Einflüsse in und außerhalb von Haus und Schule. Alles das hat sich in ihm
niedergeschlagen, und nicht alles läßt sich durch das Streben nach Objektivität
ausschalten. Nicht Objektivität überhaupt, sondern möglichste Objektivität ist es


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/175>, abgerufen am 27.09.2024.