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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Der Sozialismus in England

erkannten -- wollten sie auch nicht unmittelbar in der Bewegung der Arbeiter
selbst stehen. So war und ist ihr besonderes Propagandagebiet der gebildete
Mittelstand. Die Art der Propaganda ist dem Publikum durchaus angepaßt.
Abgesehen von der sogenannten öravinZ-room-Propaganda, der Propaganda
in der Plauderecke, die ein spezielles englisches Gewächs ist und nach dem Abend¬
essen am Kamin betrieben wird, sind IsetureZ, Vorlesungen, mit zum Teil recht
hohem Eintrittsgeld (1 bis 5 Schillinge) die Hauptwaffe. Die Fabler verfügen
über eine Liste von über zweihundert wissenschaftlich gebildeten Ieewrer3, die
ihre sozialistische Lehre mit gleichen, Geschick im Salon, vor jungen Kaufleuten,
Lehrern, Beamten und Geistlichen, aber auch in Arbeiterkreisen an den Mann
bzw. die Frau bringen. Besonders eifrig wird auch mit gedruckten Material,
mit Flugblättern und längeren "traces" gearbeitet. Man darf sich unter diesen
Drucksachen der Fabler keineswegs Elaborate vorstellen, die plump auf einen
plumpen Effekt gearbeitet sind, etwa wie Flugblätter der Sozialdemokraten in
Deutschland. Ob Flugblatt oder Traktat: was unter der Flagge der Fabler
segelt, sind sorgfältig durchgearbeitete, von einem besonderen Ausschuß jeweils
geprüfte Arbeiten, die sich auch äußerlich in Druck und Papier als etwas
besseres geben. Sie werden sür gewöhnlich auch keineswegs massenhaft ver¬
schleudert, sondern regulär verkauft. So wurden in den Jahren 1906 bis 1910
zusammen rund siebenhunderttausend derartige Flugschriften unter das Volk
gebracht, denen ohne Zweifel eine größere Lebensfähigkeit innewohnt als einem
gewöhnlichen politischen Flugblatt. Die Propagandazentren sind die Zentral¬
stelle in London und die Zweigvereine im Land. Sie haben in den letzten
Jahren an Zahl merkbar zugenommen, ebenso die Mitgliederzahl der einzelnen
Vereine. In: Jahre 1910 bestanden 37 Zweigvereine im ganzen Land. Die
Gesamtmitgliederzahl im Jahre 1907 betrug 1267. Im Jahre 1908 waren
es 2015, im Jahre 1909: 2462 und im Jahre 1910: 2627, darunter 861 Frauen.
Diese Zahlen erscheinen geringfügig. Man muß aber daran denken, daß die
Fabler nicht eigentlich werben und nur eine geistige Elite des Sozialismus sein
wollen. Immerhin ist das spontane Wachsen gerade in letzten Jahren bezeichnend.
Die Saat geht unter der jüngeren Generation auf. Wie die Fabler bemüht
sind, namentlich das intellektuelle Element in der Bevölkerung mit Sozialismus
zu "durchsetzen", zeigt auch der Umstand, daß die Gesellschaft an den Univer¬
sitäten Zweigvereine hat. In Oxford besteht außer einem Studentenverein jetzt auch
eine besondere Frauengruppe. Wie weit die Durchsetzungspolitik hier gewirkt hat,
mag etwa aus dem Bericht über eine den alten englischen Universitäten eigentümliche
Victors och-lec in Cambridge ersehen werden. Eine Versammlung von
Studierenden debattierte dort vor einiger Zeit über das Thema: "Die allmähliche
Erneuerung der Gesellschaft auf den Linien eines kollektivistischen Sozialismus
ist sowohl unvermeidlich als auch wünschenswert." Außer Studenten sprachen
dafür und dagegen die "ciigtinLuisIieä visiwl'8" Sidney Webb und Lord
R. Cecil. Als abgestimmt wurde, ergab sich, daß auf dieser alten, vornehmen


Der Sozialismus in England

erkannten — wollten sie auch nicht unmittelbar in der Bewegung der Arbeiter
selbst stehen. So war und ist ihr besonderes Propagandagebiet der gebildete
Mittelstand. Die Art der Propaganda ist dem Publikum durchaus angepaßt.
Abgesehen von der sogenannten öravinZ-room-Propaganda, der Propaganda
in der Plauderecke, die ein spezielles englisches Gewächs ist und nach dem Abend¬
essen am Kamin betrieben wird, sind IsetureZ, Vorlesungen, mit zum Teil recht
hohem Eintrittsgeld (1 bis 5 Schillinge) die Hauptwaffe. Die Fabler verfügen
über eine Liste von über zweihundert wissenschaftlich gebildeten Ieewrer3, die
ihre sozialistische Lehre mit gleichen, Geschick im Salon, vor jungen Kaufleuten,
Lehrern, Beamten und Geistlichen, aber auch in Arbeiterkreisen an den Mann
bzw. die Frau bringen. Besonders eifrig wird auch mit gedruckten Material,
mit Flugblättern und längeren „traces" gearbeitet. Man darf sich unter diesen
Drucksachen der Fabler keineswegs Elaborate vorstellen, die plump auf einen
plumpen Effekt gearbeitet sind, etwa wie Flugblätter der Sozialdemokraten in
Deutschland. Ob Flugblatt oder Traktat: was unter der Flagge der Fabler
segelt, sind sorgfältig durchgearbeitete, von einem besonderen Ausschuß jeweils
geprüfte Arbeiten, die sich auch äußerlich in Druck und Papier als etwas
besseres geben. Sie werden sür gewöhnlich auch keineswegs massenhaft ver¬
schleudert, sondern regulär verkauft. So wurden in den Jahren 1906 bis 1910
zusammen rund siebenhunderttausend derartige Flugschriften unter das Volk
gebracht, denen ohne Zweifel eine größere Lebensfähigkeit innewohnt als einem
gewöhnlichen politischen Flugblatt. Die Propagandazentren sind die Zentral¬
stelle in London und die Zweigvereine im Land. Sie haben in den letzten
Jahren an Zahl merkbar zugenommen, ebenso die Mitgliederzahl der einzelnen
Vereine. In: Jahre 1910 bestanden 37 Zweigvereine im ganzen Land. Die
Gesamtmitgliederzahl im Jahre 1907 betrug 1267. Im Jahre 1908 waren
es 2015, im Jahre 1909: 2462 und im Jahre 1910: 2627, darunter 861 Frauen.
Diese Zahlen erscheinen geringfügig. Man muß aber daran denken, daß die
Fabler nicht eigentlich werben und nur eine geistige Elite des Sozialismus sein
wollen. Immerhin ist das spontane Wachsen gerade in letzten Jahren bezeichnend.
Die Saat geht unter der jüngeren Generation auf. Wie die Fabler bemüht
sind, namentlich das intellektuelle Element in der Bevölkerung mit Sozialismus
zu „durchsetzen", zeigt auch der Umstand, daß die Gesellschaft an den Univer¬
sitäten Zweigvereine hat. In Oxford besteht außer einem Studentenverein jetzt auch
eine besondere Frauengruppe. Wie weit die Durchsetzungspolitik hier gewirkt hat,
mag etwa aus dem Bericht über eine den alten englischen Universitäten eigentümliche
Victors och-lec in Cambridge ersehen werden. Eine Versammlung von
Studierenden debattierte dort vor einiger Zeit über das Thema: „Die allmähliche
Erneuerung der Gesellschaft auf den Linien eines kollektivistischen Sozialismus
ist sowohl unvermeidlich als auch wünschenswert." Außer Studenten sprachen
dafür und dagegen die „ciigtinLuisIieä visiwl'8" Sidney Webb und Lord
R. Cecil. Als abgestimmt wurde, ergab sich, daß auf dieser alten, vornehmen


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[0168] Der Sozialismus in England erkannten — wollten sie auch nicht unmittelbar in der Bewegung der Arbeiter selbst stehen. So war und ist ihr besonderes Propagandagebiet der gebildete Mittelstand. Die Art der Propaganda ist dem Publikum durchaus angepaßt. Abgesehen von der sogenannten öravinZ-room-Propaganda, der Propaganda in der Plauderecke, die ein spezielles englisches Gewächs ist und nach dem Abend¬ essen am Kamin betrieben wird, sind IsetureZ, Vorlesungen, mit zum Teil recht hohem Eintrittsgeld (1 bis 5 Schillinge) die Hauptwaffe. Die Fabler verfügen über eine Liste von über zweihundert wissenschaftlich gebildeten Ieewrer3, die ihre sozialistische Lehre mit gleichen, Geschick im Salon, vor jungen Kaufleuten, Lehrern, Beamten und Geistlichen, aber auch in Arbeiterkreisen an den Mann bzw. die Frau bringen. Besonders eifrig wird auch mit gedruckten Material, mit Flugblättern und längeren „traces" gearbeitet. Man darf sich unter diesen Drucksachen der Fabler keineswegs Elaborate vorstellen, die plump auf einen plumpen Effekt gearbeitet sind, etwa wie Flugblätter der Sozialdemokraten in Deutschland. Ob Flugblatt oder Traktat: was unter der Flagge der Fabler segelt, sind sorgfältig durchgearbeitete, von einem besonderen Ausschuß jeweils geprüfte Arbeiten, die sich auch äußerlich in Druck und Papier als etwas besseres geben. Sie werden sür gewöhnlich auch keineswegs massenhaft ver¬ schleudert, sondern regulär verkauft. So wurden in den Jahren 1906 bis 1910 zusammen rund siebenhunderttausend derartige Flugschriften unter das Volk gebracht, denen ohne Zweifel eine größere Lebensfähigkeit innewohnt als einem gewöhnlichen politischen Flugblatt. Die Propagandazentren sind die Zentral¬ stelle in London und die Zweigvereine im Land. Sie haben in den letzten Jahren an Zahl merkbar zugenommen, ebenso die Mitgliederzahl der einzelnen Vereine. In: Jahre 1910 bestanden 37 Zweigvereine im ganzen Land. Die Gesamtmitgliederzahl im Jahre 1907 betrug 1267. Im Jahre 1908 waren es 2015, im Jahre 1909: 2462 und im Jahre 1910: 2627, darunter 861 Frauen. Diese Zahlen erscheinen geringfügig. Man muß aber daran denken, daß die Fabler nicht eigentlich werben und nur eine geistige Elite des Sozialismus sein wollen. Immerhin ist das spontane Wachsen gerade in letzten Jahren bezeichnend. Die Saat geht unter der jüngeren Generation auf. Wie die Fabler bemüht sind, namentlich das intellektuelle Element in der Bevölkerung mit Sozialismus zu „durchsetzen", zeigt auch der Umstand, daß die Gesellschaft an den Univer¬ sitäten Zweigvereine hat. In Oxford besteht außer einem Studentenverein jetzt auch eine besondere Frauengruppe. Wie weit die Durchsetzungspolitik hier gewirkt hat, mag etwa aus dem Bericht über eine den alten englischen Universitäten eigentümliche Victors och-lec in Cambridge ersehen werden. Eine Versammlung von Studierenden debattierte dort vor einiger Zeit über das Thema: „Die allmähliche Erneuerung der Gesellschaft auf den Linien eines kollektivistischen Sozialismus ist sowohl unvermeidlich als auch wünschenswert." Außer Studenten sprachen dafür und dagegen die „ciigtinLuisIieä visiwl'8" Sidney Webb und Lord R. Cecil. Als abgestimmt wurde, ergab sich, daß auf dieser alten, vornehmen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/168>, abgerufen am 27.09.2024.