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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Der Sozialismus in England

etwa in Deutschland, hervorgebracht oder aufgenommen worden, sondern er hat,
wie jede Glaubenslehre in England, den Sektierergeist angefacht. So gibt es
heute in England eine Reihe von Gruppen, die sich Sozialisten nennen, darunter
aber nicht immer ganz das Gleiche verstehen. Sie befehden einander fast
heftiger als sie gegen den Kapitalismus und die bestehende Wirtschaftsordnung zu
Felde ziehen. Ganz wie religiöse Sekten behauptet eine jede von diesen Gruppen
ausschließlich im Besitz der allein seligmachenden Lehre vom wahren Sozialismus
zu sein und zeiht alle anderen der Ketzerei oder Verräterei.

Die ersten Anfänge und die heutigen Gruppen des englischen Sozialismus
können als bekannt vorausgesetzt werden. Hier soll es sich um die Feststellung
Handel,!, wie weit der Sozialismus in die englische Gesellschaft und in den
englischen Staatskörper eingedrungen, und ob er wirklich nicht mehr Bedeutung
in England gewonnen hat, als seine verhältnismäßig immer noch geringen Wahl-
crfolge glauben machen.

Im Jahre 1889 schrieb Sidney Webb in seinem bekannten Buche "Lo?all8in
iir LnAlanö": "Die sozialistische Partei in England wird vermutlich eine ver¬
hältnismäßig kleine, aber zersetzend und aufklärend wirkende Truppe bleiben,
die niemals selbst politische Macht ausüben, sondern abwechselnd jeder der beiden
großen Parteien die Gedanken und Grundsätze für eine Politik der sozialen
Erneuerung liefern wird." Diese Vermutung hat seither durchaus das Nichtige
getroffen, und sie wird menschlicher Voraussicht nach noch für absehbare Zeiten
richtig bleiben. Man kann geradezu sagen, daß Webb in diesem einen Satz
schon vor zwanzig Jahren das gesagt hat, was im ganzen heute über die
Stellung und Gesamtwirkung des Sozialismus im Leben der britischen Nation
gesagt werden kann.

Dieser Satz ist zugleich der Grundstein, auf den die Fabische Gesellschaft,
dieser Generalstab des englischen Sozialismus, ihre Politik der Durchsetzung
sperrn eation) aufgebaut hat. In dem Vorwort zu einer neuen Auflage.der
"I^ahau IZi-ZÄ^s" (London, Walter Levee pubIi8ninZ Lvmpan^, 1909), der
grundlegenden Schrift der Fabler, die heute noch einen gleich großen und leb¬
haften Absatz findet wie bei ihrem ersten Erscheinen im Jahre 1889, schreibt
G. Bernard Shaw: "Die sozialistische Bewegung hat sich seit 1889 durch ganz
Europa hin umgestaltet. Das Ergebnis dieser Umgestaltung kann rundweg
als Fabischer Sozialismus bezeichnet werden." Das klingt sehr stolz, ist aber
im Ganzen nicht unrichtig. In England haben die Fabler ganz besonders auf
die gebildeten Klassen, die "Intellektuellen", gewirkt. Aber auch zur Arbeiter¬
bewegung haben sie stets gute Fühlung unterhalten. In letzter Zeit allerdings
werden Stimmen laut, die behaupten, daß die Fabler zwar viel denken, aber
wenig lernen, weil sie nicht genügend persönliche Berührung mit der organisierten
Arbeiterwelt hätten. Wie dem aber auch sei: nirgends wird geleugnet werden
können, daß die Fabler der Arbeiterschaft das geistige Rüstzeug geliefert haben.
Aber wie sie nun einmal sind, konnten sie nicht, und -- weil sie das richtig


Der Sozialismus in England

etwa in Deutschland, hervorgebracht oder aufgenommen worden, sondern er hat,
wie jede Glaubenslehre in England, den Sektierergeist angefacht. So gibt es
heute in England eine Reihe von Gruppen, die sich Sozialisten nennen, darunter
aber nicht immer ganz das Gleiche verstehen. Sie befehden einander fast
heftiger als sie gegen den Kapitalismus und die bestehende Wirtschaftsordnung zu
Felde ziehen. Ganz wie religiöse Sekten behauptet eine jede von diesen Gruppen
ausschließlich im Besitz der allein seligmachenden Lehre vom wahren Sozialismus
zu sein und zeiht alle anderen der Ketzerei oder Verräterei.

Die ersten Anfänge und die heutigen Gruppen des englischen Sozialismus
können als bekannt vorausgesetzt werden. Hier soll es sich um die Feststellung
Handel,!, wie weit der Sozialismus in die englische Gesellschaft und in den
englischen Staatskörper eingedrungen, und ob er wirklich nicht mehr Bedeutung
in England gewonnen hat, als seine verhältnismäßig immer noch geringen Wahl-
crfolge glauben machen.

Im Jahre 1889 schrieb Sidney Webb in seinem bekannten Buche „Lo?all8in
iir LnAlanö": „Die sozialistische Partei in England wird vermutlich eine ver¬
hältnismäßig kleine, aber zersetzend und aufklärend wirkende Truppe bleiben,
die niemals selbst politische Macht ausüben, sondern abwechselnd jeder der beiden
großen Parteien die Gedanken und Grundsätze für eine Politik der sozialen
Erneuerung liefern wird." Diese Vermutung hat seither durchaus das Nichtige
getroffen, und sie wird menschlicher Voraussicht nach noch für absehbare Zeiten
richtig bleiben. Man kann geradezu sagen, daß Webb in diesem einen Satz
schon vor zwanzig Jahren das gesagt hat, was im ganzen heute über die
Stellung und Gesamtwirkung des Sozialismus im Leben der britischen Nation
gesagt werden kann.

Dieser Satz ist zugleich der Grundstein, auf den die Fabische Gesellschaft,
dieser Generalstab des englischen Sozialismus, ihre Politik der Durchsetzung
sperrn eation) aufgebaut hat. In dem Vorwort zu einer neuen Auflage.der
„I^ahau IZi-ZÄ^s" (London, Walter Levee pubIi8ninZ Lvmpan^, 1909), der
grundlegenden Schrift der Fabler, die heute noch einen gleich großen und leb¬
haften Absatz findet wie bei ihrem ersten Erscheinen im Jahre 1889, schreibt
G. Bernard Shaw: „Die sozialistische Bewegung hat sich seit 1889 durch ganz
Europa hin umgestaltet. Das Ergebnis dieser Umgestaltung kann rundweg
als Fabischer Sozialismus bezeichnet werden." Das klingt sehr stolz, ist aber
im Ganzen nicht unrichtig. In England haben die Fabler ganz besonders auf
die gebildeten Klassen, die „Intellektuellen", gewirkt. Aber auch zur Arbeiter¬
bewegung haben sie stets gute Fühlung unterhalten. In letzter Zeit allerdings
werden Stimmen laut, die behaupten, daß die Fabler zwar viel denken, aber
wenig lernen, weil sie nicht genügend persönliche Berührung mit der organisierten
Arbeiterwelt hätten. Wie dem aber auch sei: nirgends wird geleugnet werden
können, daß die Fabler der Arbeiterschaft das geistige Rüstzeug geliefert haben.
Aber wie sie nun einmal sind, konnten sie nicht, und — weil sie das richtig


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[0167] Der Sozialismus in England etwa in Deutschland, hervorgebracht oder aufgenommen worden, sondern er hat, wie jede Glaubenslehre in England, den Sektierergeist angefacht. So gibt es heute in England eine Reihe von Gruppen, die sich Sozialisten nennen, darunter aber nicht immer ganz das Gleiche verstehen. Sie befehden einander fast heftiger als sie gegen den Kapitalismus und die bestehende Wirtschaftsordnung zu Felde ziehen. Ganz wie religiöse Sekten behauptet eine jede von diesen Gruppen ausschließlich im Besitz der allein seligmachenden Lehre vom wahren Sozialismus zu sein und zeiht alle anderen der Ketzerei oder Verräterei. Die ersten Anfänge und die heutigen Gruppen des englischen Sozialismus können als bekannt vorausgesetzt werden. Hier soll es sich um die Feststellung Handel,!, wie weit der Sozialismus in die englische Gesellschaft und in den englischen Staatskörper eingedrungen, und ob er wirklich nicht mehr Bedeutung in England gewonnen hat, als seine verhältnismäßig immer noch geringen Wahl- crfolge glauben machen. Im Jahre 1889 schrieb Sidney Webb in seinem bekannten Buche „Lo?all8in iir LnAlanö": „Die sozialistische Partei in England wird vermutlich eine ver¬ hältnismäßig kleine, aber zersetzend und aufklärend wirkende Truppe bleiben, die niemals selbst politische Macht ausüben, sondern abwechselnd jeder der beiden großen Parteien die Gedanken und Grundsätze für eine Politik der sozialen Erneuerung liefern wird." Diese Vermutung hat seither durchaus das Nichtige getroffen, und sie wird menschlicher Voraussicht nach noch für absehbare Zeiten richtig bleiben. Man kann geradezu sagen, daß Webb in diesem einen Satz schon vor zwanzig Jahren das gesagt hat, was im ganzen heute über die Stellung und Gesamtwirkung des Sozialismus im Leben der britischen Nation gesagt werden kann. Dieser Satz ist zugleich der Grundstein, auf den die Fabische Gesellschaft, dieser Generalstab des englischen Sozialismus, ihre Politik der Durchsetzung sperrn eation) aufgebaut hat. In dem Vorwort zu einer neuen Auflage.der „I^ahau IZi-ZÄ^s" (London, Walter Levee pubIi8ninZ Lvmpan^, 1909), der grundlegenden Schrift der Fabler, die heute noch einen gleich großen und leb¬ haften Absatz findet wie bei ihrem ersten Erscheinen im Jahre 1889, schreibt G. Bernard Shaw: „Die sozialistische Bewegung hat sich seit 1889 durch ganz Europa hin umgestaltet. Das Ergebnis dieser Umgestaltung kann rundweg als Fabischer Sozialismus bezeichnet werden." Das klingt sehr stolz, ist aber im Ganzen nicht unrichtig. In England haben die Fabler ganz besonders auf die gebildeten Klassen, die „Intellektuellen", gewirkt. Aber auch zur Arbeiter¬ bewegung haben sie stets gute Fühlung unterhalten. In letzter Zeit allerdings werden Stimmen laut, die behaupten, daß die Fabler zwar viel denken, aber wenig lernen, weil sie nicht genügend persönliche Berührung mit der organisierten Arbeiterwelt hätten. Wie dem aber auch sei: nirgends wird geleugnet werden können, daß die Fabler der Arbeiterschaft das geistige Rüstzeug geliefert haben. Aber wie sie nun einmal sind, konnten sie nicht, und — weil sie das richtig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/167>, abgerufen am 27.09.2024.