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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Ivilliam James' Angriff ans das deutsche Geisieswesen

liebes Bild, das -- als Gleichnis -- das seelische Geschehen treffend zu kenn¬
zeichnen weiß. James aber, den Gleichniswert dieser Psychologie übersehend
und das bildhaft Bedeutende, freilich nicht ohne Herbarts eigene Schuld, als
unmittelbare Beschreibung und Zergliederung auffassend, hat für des verdienten
Mannes Werk nur ein tadelndes Lob und im ganzen nur einen Ausdruck des
Abscheus.

"In Deutschland," so schreibt James in seiner großen Psychologie, "ist
dieselbe mythologische Voraussetzung der englischen Assoziationspsychologie von
Herbart und seinen Anhängern gründlicher erfaßt und noch logischer, aber auch
abstoßender zum Extrem geführt. Ich muß gestehen, daß für mich geradezu
Gräßliches in diesem glibbrigen Herbartschen Jargon liegt mit seinen Vor¬
stellungsmassen und ihren Hemmungen und Hemmungssummen und Sinken und
Erheben und Schweben und Verschmelzungen und Komplexionen."

Theodor Fechner ist als Psychologe eine völlig andere Erscheinung als
Herbart. Er tritt an die seelischen Erlebnisse als Naturwissenschaftler heran.
Der Naturwissenschaftler ist gewohnt, alles so genau zu formulieren, wie nur
irgend möglich. Wissenschaft fängt für ihn da an, wo Zahl anfängt. Das
seelische Erlebnis auf eiuen genauen Ausdruck zu bringen, es zahlenmäßig
darzustellen: das war Fechners großer Gedanke. Und man darf sagen,
daß er durch diese Leistung die Psychologie aus der Bahn herausgeschleudert
hat, die sie seit zwei Jahrtausenden wandelte. Er erhob die Psychologie aus
dem Range einer laienhaft liebenswürdigen Beschreibung in den Rang einer
wirklichen Wissenschaft. -- Aber gerade das Dichterische-Liebenswürdige war für
William James die Anziehungskraft der Psychologie gewesen, und so hat er
wiederum für Gustav Theodor Fechner nichts anderes als ein tadelndes Lob
und den Ausdruck des Abscheus übrig.

"Im Jahre 1860/' so schreibt er, "veröffentlichte der Leipziger Professor
Gustav Theodor Fechner, ein sehr gelehrter und sorgfältiger Mann, zwei Bände
unter dem Titel >Psychophysil"." ". . . Fechners Buch war der Ausgangspunkt
eines neuen Wissenschaftszweiges, mit dem an Gründlichkeit und Sorgfalt zu
wetteifern vielleicht unmöglich ist, dessen eigentlich psychologisches Ergebnis nach
des Verfassers demutvoller Meinung aber geradezu nichts ist."

"Die Fechnersche Maßformel und ihre Auffassung als ein endgültiges
.psychophyfisches Gesetz' wird immer das Muster eines .läolum specu8', also
eines Jrrpfades nach der Lehre Bacons bleiben. Fechner selbst war in der Tat
ein deutscher Gelehrter von echtem Schrot und Korn, einfach und verschmitzt zu
gleicher Zeit, Mystiker und Experimentator, hausbacken und wagemutig und den
Tatsachen ebenso treu ergeben wie seinen Theorien. Aber es wäre fürchterlich,
wenn solch ein braver alter Mann unsere Wissenschaft für immer mit seinen
geduldigen Schrullen belasten sollte, und in einer Welt, die so voll ist von
weit fruchtbareren Aufgaben, alle künftigen Studenten zwänge, sich durchzuackern
nicht nur durch seine schwierigen eigenen Werke, sondern durch die noch viel


Ivilliam James' Angriff ans das deutsche Geisieswesen

liebes Bild, das — als Gleichnis — das seelische Geschehen treffend zu kenn¬
zeichnen weiß. James aber, den Gleichniswert dieser Psychologie übersehend
und das bildhaft Bedeutende, freilich nicht ohne Herbarts eigene Schuld, als
unmittelbare Beschreibung und Zergliederung auffassend, hat für des verdienten
Mannes Werk nur ein tadelndes Lob und im ganzen nur einen Ausdruck des
Abscheus.

„In Deutschland," so schreibt James in seiner großen Psychologie, „ist
dieselbe mythologische Voraussetzung der englischen Assoziationspsychologie von
Herbart und seinen Anhängern gründlicher erfaßt und noch logischer, aber auch
abstoßender zum Extrem geführt. Ich muß gestehen, daß für mich geradezu
Gräßliches in diesem glibbrigen Herbartschen Jargon liegt mit seinen Vor¬
stellungsmassen und ihren Hemmungen und Hemmungssummen und Sinken und
Erheben und Schweben und Verschmelzungen und Komplexionen."

Theodor Fechner ist als Psychologe eine völlig andere Erscheinung als
Herbart. Er tritt an die seelischen Erlebnisse als Naturwissenschaftler heran.
Der Naturwissenschaftler ist gewohnt, alles so genau zu formulieren, wie nur
irgend möglich. Wissenschaft fängt für ihn da an, wo Zahl anfängt. Das
seelische Erlebnis auf eiuen genauen Ausdruck zu bringen, es zahlenmäßig
darzustellen: das war Fechners großer Gedanke. Und man darf sagen,
daß er durch diese Leistung die Psychologie aus der Bahn herausgeschleudert
hat, die sie seit zwei Jahrtausenden wandelte. Er erhob die Psychologie aus
dem Range einer laienhaft liebenswürdigen Beschreibung in den Rang einer
wirklichen Wissenschaft. — Aber gerade das Dichterische-Liebenswürdige war für
William James die Anziehungskraft der Psychologie gewesen, und so hat er
wiederum für Gustav Theodor Fechner nichts anderes als ein tadelndes Lob
und den Ausdruck des Abscheus übrig.

„Im Jahre 1860/' so schreibt er, „veröffentlichte der Leipziger Professor
Gustav Theodor Fechner, ein sehr gelehrter und sorgfältiger Mann, zwei Bände
unter dem Titel >Psychophysil"." „. . . Fechners Buch war der Ausgangspunkt
eines neuen Wissenschaftszweiges, mit dem an Gründlichkeit und Sorgfalt zu
wetteifern vielleicht unmöglich ist, dessen eigentlich psychologisches Ergebnis nach
des Verfassers demutvoller Meinung aber geradezu nichts ist."

„Die Fechnersche Maßformel und ihre Auffassung als ein endgültiges
.psychophyfisches Gesetz' wird immer das Muster eines .läolum specu8', also
eines Jrrpfades nach der Lehre Bacons bleiben. Fechner selbst war in der Tat
ein deutscher Gelehrter von echtem Schrot und Korn, einfach und verschmitzt zu
gleicher Zeit, Mystiker und Experimentator, hausbacken und wagemutig und den
Tatsachen ebenso treu ergeben wie seinen Theorien. Aber es wäre fürchterlich,
wenn solch ein braver alter Mann unsere Wissenschaft für immer mit seinen
geduldigen Schrullen belasten sollte, und in einer Welt, die so voll ist von
weit fruchtbareren Aufgaben, alle künftigen Studenten zwänge, sich durchzuackern
nicht nur durch seine schwierigen eigenen Werke, sondern durch die noch viel


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[0123] Ivilliam James' Angriff ans das deutsche Geisieswesen liebes Bild, das — als Gleichnis — das seelische Geschehen treffend zu kenn¬ zeichnen weiß. James aber, den Gleichniswert dieser Psychologie übersehend und das bildhaft Bedeutende, freilich nicht ohne Herbarts eigene Schuld, als unmittelbare Beschreibung und Zergliederung auffassend, hat für des verdienten Mannes Werk nur ein tadelndes Lob und im ganzen nur einen Ausdruck des Abscheus. „In Deutschland," so schreibt James in seiner großen Psychologie, „ist dieselbe mythologische Voraussetzung der englischen Assoziationspsychologie von Herbart und seinen Anhängern gründlicher erfaßt und noch logischer, aber auch abstoßender zum Extrem geführt. Ich muß gestehen, daß für mich geradezu Gräßliches in diesem glibbrigen Herbartschen Jargon liegt mit seinen Vor¬ stellungsmassen und ihren Hemmungen und Hemmungssummen und Sinken und Erheben und Schweben und Verschmelzungen und Komplexionen." Theodor Fechner ist als Psychologe eine völlig andere Erscheinung als Herbart. Er tritt an die seelischen Erlebnisse als Naturwissenschaftler heran. Der Naturwissenschaftler ist gewohnt, alles so genau zu formulieren, wie nur irgend möglich. Wissenschaft fängt für ihn da an, wo Zahl anfängt. Das seelische Erlebnis auf eiuen genauen Ausdruck zu bringen, es zahlenmäßig darzustellen: das war Fechners großer Gedanke. Und man darf sagen, daß er durch diese Leistung die Psychologie aus der Bahn herausgeschleudert hat, die sie seit zwei Jahrtausenden wandelte. Er erhob die Psychologie aus dem Range einer laienhaft liebenswürdigen Beschreibung in den Rang einer wirklichen Wissenschaft. — Aber gerade das Dichterische-Liebenswürdige war für William James die Anziehungskraft der Psychologie gewesen, und so hat er wiederum für Gustav Theodor Fechner nichts anderes als ein tadelndes Lob und den Ausdruck des Abscheus übrig. „Im Jahre 1860/' so schreibt er, „veröffentlichte der Leipziger Professor Gustav Theodor Fechner, ein sehr gelehrter und sorgfältiger Mann, zwei Bände unter dem Titel >Psychophysil"." „. . . Fechners Buch war der Ausgangspunkt eines neuen Wissenschaftszweiges, mit dem an Gründlichkeit und Sorgfalt zu wetteifern vielleicht unmöglich ist, dessen eigentlich psychologisches Ergebnis nach des Verfassers demutvoller Meinung aber geradezu nichts ist." „Die Fechnersche Maßformel und ihre Auffassung als ein endgültiges .psychophyfisches Gesetz' wird immer das Muster eines .läolum specu8', also eines Jrrpfades nach der Lehre Bacons bleiben. Fechner selbst war in der Tat ein deutscher Gelehrter von echtem Schrot und Korn, einfach und verschmitzt zu gleicher Zeit, Mystiker und Experimentator, hausbacken und wagemutig und den Tatsachen ebenso treu ergeben wie seinen Theorien. Aber es wäre fürchterlich, wenn solch ein braver alter Mann unsere Wissenschaft für immer mit seinen geduldigen Schrullen belasten sollte, und in einer Welt, die so voll ist von weit fruchtbareren Aufgaben, alle künftigen Studenten zwänge, sich durchzuackern nicht nur durch seine schwierigen eigenen Werke, sondern durch die noch viel

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/123>, abgerufen am 27.09.2024.