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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Die geistig Minderwertigen

bedürfen. Die Strafen selbst aber möge man nicht mit Erziehungs-, Heil- und
Pflegemaßnahmen vermengen. Damit will ich natürlich nicht gesagt haben,
daß man sich beim Strafvollzug etwaiger erziehlicher Maßnahmen ganz enthalten
solle. Nur möge das, soweit es möglich und mit dem Strafübel vereinbar ist,
in den Strafanstalten geschehen, nicht in solchen Anstalten, die lediglich der
Erziehung usw. dienen sollten.

Nach Abs. 1 § 70 sollen unter allen Umständen "die voll zurechnungs¬
fähigen Jugendlichen von vermindert Zurechnungsfähigen" vollständig abgesondert
werden. Zu dieser Bestimmung bemerkt Kahl meines Erachtens mit Recht, daß
die obligatorische Absonderung unerwünscht sei, da nach psychiatrischen Urteil
eine Anzahl der geistig minderwertigen Jugendlichen ganz gut im gewöhnlichen
Strafvollzug mitgenommen werden könne, und es für manchen von ihnen sogar
vorteilhaft sei, nicht ständig mit anderen geistig Minderwertigen zusammen zu
sein. In der Tat dürfte es sich empfehlen, die Entscheidung über die Not¬
wendigkeit der Absonderung dem Strafanstaltsvorstand und dem Arzt der Straf¬
anstalt zu überlassen.

Was das Strafmaß bei jugendlichen geistig Minderwertigen betrifft, so
bestimmt § 69 des Vorentwurfs für Täter von 14 bis 18 Jahren ohnehin die
Anwendung der Versuchsstrafe für die vollendete Handlung. Im Sinn des
Vorentwurfs wäre also für die jugendlichen geistig Minderwertigen keine besondere
Bestimmung über das Strafmaß erforderlich. Ich würde empfehlen, sowohl
für die normalen als auch für die geistig minderwertigen Jugendlichen eine
Bestimmung zu treffen, nach der der Richter die Strafe mildern kann, und die
gleiche Beschränkung hinzuzufügen, die oben für die erwachsenen geistig Minder¬
wertigen vorgeschlagen wurde. Es erscheint mir nicht erwünscht, für alle Jugend¬
lichen die obligatorische Strafmilderung zum Gesetz zu erheben. Unter den
Jugendlichen von 14 bis 18 Jahren ist mancher, der es an Urteilsfähigkeit
und Willenskraft mit Zwanzigjährigen und Älteren aufnimmt. Wenn dem
Richter gestattet ist, abgesehen von den durch die vorgeschlagene Beschränkung
betroffenen Fällen Milde walten zu lassen, wird er allen berechtigten Rücksichten
Rechnung tragen können. Die Möglichkeit muß aber bleiben, im Interesse der
Vorbeugung auch den verbrecherischen Instinkten der Jugendlichen, wenn nötig,
ein energisches Hemmungsmittel entgegenzustellen. Ich erinnere z. B. an gewisse
dem Mob der Großstädte angehörende frühreife Bengel, deren Intelligenz vor¬
geschrittener ist als die manches älteren Bauernburschen. Im Interesse der
Rechtssicherheit liegt es nicht, sie selbst für die rohesten Delikte nur mit der
Versuchsstrafe zu belegen.

Ich wende mich nun zu einer schon gestreiften Bestimmung des Vorentwurfs,
die einen gewaltigen Fortschritt bedeutet, von dem hier dargelegten Standpunkt
aber einiger Änderungen bedarf, 65 Abs. 1 u. 2 seien nochmals angeführt:
"Wird jemand auf Grund des § 63 Abs. 2 zu einer milderen Strafe verurteilt,
so hat das Gericht, wenn es die öffentliche Sicherheit erfordert, seine Verwahrung


Die geistig Minderwertigen

bedürfen. Die Strafen selbst aber möge man nicht mit Erziehungs-, Heil- und
Pflegemaßnahmen vermengen. Damit will ich natürlich nicht gesagt haben,
daß man sich beim Strafvollzug etwaiger erziehlicher Maßnahmen ganz enthalten
solle. Nur möge das, soweit es möglich und mit dem Strafübel vereinbar ist,
in den Strafanstalten geschehen, nicht in solchen Anstalten, die lediglich der
Erziehung usw. dienen sollten.

Nach Abs. 1 § 70 sollen unter allen Umständen „die voll zurechnungs¬
fähigen Jugendlichen von vermindert Zurechnungsfähigen" vollständig abgesondert
werden. Zu dieser Bestimmung bemerkt Kahl meines Erachtens mit Recht, daß
die obligatorische Absonderung unerwünscht sei, da nach psychiatrischen Urteil
eine Anzahl der geistig minderwertigen Jugendlichen ganz gut im gewöhnlichen
Strafvollzug mitgenommen werden könne, und es für manchen von ihnen sogar
vorteilhaft sei, nicht ständig mit anderen geistig Minderwertigen zusammen zu
sein. In der Tat dürfte es sich empfehlen, die Entscheidung über die Not¬
wendigkeit der Absonderung dem Strafanstaltsvorstand und dem Arzt der Straf¬
anstalt zu überlassen.

Was das Strafmaß bei jugendlichen geistig Minderwertigen betrifft, so
bestimmt § 69 des Vorentwurfs für Täter von 14 bis 18 Jahren ohnehin die
Anwendung der Versuchsstrafe für die vollendete Handlung. Im Sinn des
Vorentwurfs wäre also für die jugendlichen geistig Minderwertigen keine besondere
Bestimmung über das Strafmaß erforderlich. Ich würde empfehlen, sowohl
für die normalen als auch für die geistig minderwertigen Jugendlichen eine
Bestimmung zu treffen, nach der der Richter die Strafe mildern kann, und die
gleiche Beschränkung hinzuzufügen, die oben für die erwachsenen geistig Minder¬
wertigen vorgeschlagen wurde. Es erscheint mir nicht erwünscht, für alle Jugend¬
lichen die obligatorische Strafmilderung zum Gesetz zu erheben. Unter den
Jugendlichen von 14 bis 18 Jahren ist mancher, der es an Urteilsfähigkeit
und Willenskraft mit Zwanzigjährigen und Älteren aufnimmt. Wenn dem
Richter gestattet ist, abgesehen von den durch die vorgeschlagene Beschränkung
betroffenen Fällen Milde walten zu lassen, wird er allen berechtigten Rücksichten
Rechnung tragen können. Die Möglichkeit muß aber bleiben, im Interesse der
Vorbeugung auch den verbrecherischen Instinkten der Jugendlichen, wenn nötig,
ein energisches Hemmungsmittel entgegenzustellen. Ich erinnere z. B. an gewisse
dem Mob der Großstädte angehörende frühreife Bengel, deren Intelligenz vor¬
geschrittener ist als die manches älteren Bauernburschen. Im Interesse der
Rechtssicherheit liegt es nicht, sie selbst für die rohesten Delikte nur mit der
Versuchsstrafe zu belegen.

Ich wende mich nun zu einer schon gestreiften Bestimmung des Vorentwurfs,
die einen gewaltigen Fortschritt bedeutet, von dem hier dargelegten Standpunkt
aber einiger Änderungen bedarf, 65 Abs. 1 u. 2 seien nochmals angeführt:
„Wird jemand auf Grund des § 63 Abs. 2 zu einer milderen Strafe verurteilt,
so hat das Gericht, wenn es die öffentliche Sicherheit erfordert, seine Verwahrung


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/83>, abgerufen am 23.07.2024.